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01. Juli 2013

Zucker, Wasser, Öl

Brasilien hat alle Zutaten für ein erfolgreiches Energiekonzept

Andere Länder müssen um ihre Energieversorgung bangen, Brasilien ist weitgehend energieautark, fördert Tiefseeöl und setzt auf Agrarsprit und Wasserkraft. In jüngster Zeit jedoch regt sich Kritik an Staudammprojekten und dem Anbau von Zuckerrohr für Ethanol. Wird Brasilien weiter autark bleiben oder gar Energie exportieren können.

Brasiliens reichhaltiger Energiehaushalt unterscheidet sich deutlich von denen anderer, vergleichbarer Länder. Rund 44 Prozent des Energieangebots (2012) werden aus Erneuerbaren bestritten; die Anteile von Uran (1,6 Prozent), Kohle (5,6 Prozent) und Gas (10,2 Prozent) fallen deutlich geringer aus. Besonderheiten sind in erster Linie die extensive Nutzung von Ethanol aus Zuckerrohr (16 Prozent des Energieaufkommens) und Wasserkraft, die heute knapp vier Fünftel des Strombedarfs deckt. Allein der Staudamm Itaipú an der Grenze zu Paraguay deckt ein Fünftel des brasilianischen Strombedarfs. 

Dieser Mix ist einem markanten Wandel in der Energiematrix während der vergangenen 40 Jahre geschuldet. Mit Beginn der importsubstituierenden Produktion kam Brasilien in den sechziger Jahren rasch in eine extreme Abhängigkeit von externen Energieressourcen. Erdöl kam – wie in den meisten anderen Ländern – eine überragende Bedeutung zu. Über 90 Prozent des Bedarfs wurden jedoch im Ausland gedeckt. Entsprechend hart traf die Ölkrise der siebziger Jahre das boomende Land. Die Militärdiktatur forcierte daraufhin den Ausbau der Wasserkraft, erschloss die schwer zugänglichen Offshore-Ölquellen vor der Küste Rio de Janeiros und legte ein hoch subventioniertes Ethanol-Programm auf. Letzteres kam mit dem Ende der Diktatur (und den hohen Zuckerpreisen) zum Erliegen; erst 2003 verhalfen technologische Fortschritte und die Erhöhung der Rohölpreise dem Ethanol zu einem Comeback. Am stärksten ist der Wandel in den Bereichen Industrie und Transport – den beiden energieintensivsten Bereichen Brasiliens – zu beobachten: 1973 machten Ölderivate noch 61 Prozent der Energie im industriellen Sektor aus, 2007 waren es nur noch 15,7 Prozent. Biomasse stieg im selben Zeitraum von 10,3 Prozent auf 40,1 Prozent an. Über 80 Prozent aller neu zugelassenen Pkw verfügen heute über flexible Motoren, die in der Lage sind, jede Mischung von Ethanol und Benzin zu verbrennen. 2008 überstieg der Ethanolverbrauch zum ersten Mal den Konsum von fossilem Benzin. 

Auch die Energie der Zukunft scheint gesichert zu sein. Denn während andere Industrie- und Schwellenländer wie China für ihre Energiesicherheit erhebliche diplomatische und wirtschaftspolitische Bemühungen gerade auch in Krisenregionen auf sich nehmen müssen, kann Brasilien zu Hause aus dem Vollen schöpfen: Die seit 2007 entdeckten riesigen Öl- und Gasvorkommen könnten Brasilien an die dritte Stelle der größten Erdölproduzenten der Welt katapultieren. Nach den USA ist es der zweitgrößte Hersteller von Ethanol und verfügt über die Anbauflächen für Zuckerrohr und die Technologie, um die Produktion bis 2030 zu verdreifachen. Sowohl bei der Wasserkraft als auch bei Solarenergie und Windkraft gehört das Potenzial Brasiliens zu den drei größten weltweit. Dazu kommen noch große Uranvorkommen, die Brasilien durch seine nach eigenen Angaben effizientere Zentrifugentechnologie in den kommenden Jahren nutzen will. Mit massiven Investitionen will die Regierung diese Potenziale erschließen, wobei der Schwerpunkt auf Erdöl, Ethanol und Wasserkraft liegen wird. Allein die Hälfte der 740 Milliarden Dollar Investitionen im Rahmen des zweiten „Programms zur Beschleunigung des Wachstums“ (2011–2014) soll in den Energieinfrastrukturbereich fließen. Auch die Regierung von Dilma Rousseff verfolgt dabei die traditionellen Ziele brasilianischer Energiepolitik: Weitgehende Energie­autonomie und Versorgungssicherheit, insbesondere auf dem wirtschaftlich und politisch relevanten Stromsektor. 

Knappheit im Überfluss?

In den vergangenen zehn Jahren ist der Stromverbrauch um 40 Prozent angestiegen, in erster Linie durch den Ausbau stromintensiver Industrien, durch den Aufstieg von rund 40 Millionen Menschen in die konsumorientierte Mittelklasse und durch Elektrifizierungsprogramme wie „Licht für alle“, durch die etwa zehn Millionen Menschen an die Stromversorgung angeschlossen wurden. In den kommenden zehn Jahren wird Brasilien jährlich sechs Gigawatt neue Kapazitäten schaffen müssen, um die Versorgungslücke nachhaltig zu schließen. 

Wasserkraft hat hinsichtlich Verfügbarkeit, Erneuerbarkeit und Kosten in Brasiliens Energiestrategie oberste Priorität. Mit den geplanten 48 Staudämmen möchte die Regierung bis 2030 von den 180 Gigawatt Potenzial 100 erschließen, der Großteil davon liegt in der Amazonas-Region. Bereits die aktuellen Projekte „Jirau“, „San Antônio“ und „Belo Monte“ bergen jedoch erhebliches Konfliktpotenzial. Zwar versuchen die Planer mit neuen Konzepten und Technologien – wie der Vermeidung großer Stauflächen oder der Vorproduktion der Anlagen, um den Zuzug zu minimieren –, Schäden für Umwelt und die sozialen Gefüge vor Ort zu begrenzen. Dennoch richtet sich gerade gegen das Großprojekt „Belo Monte“ massive, auch internationale Kritik. Neben der Vertreibung von 20 000 Menschen durch die Flutung, der Zersiedlung des Gebiets, Landkonflikten und der Beförderung von illegalem Holzeinschlag verweisen die Kritiker auch darauf, dass der gewonnene Strom weniger den Menschen als in erster Linie der stromintensiven Montanindustrie und den Zementfabriken zugute kommen soll. Auch ist nicht sicher, wie wirtschaftlich diese Projekte sind, denn die Kosten wurden mit unrealistischen Planungssätzen künstlich niedrig gehalten, Umweltkosten wurden nicht eingerechnet. Wasserkraft ist zwar CO2-arm, aber aus den Speicherbecken können große Mengen des hochwirksamen Klimagases Methan entweichen. In der brasilianischen Gesellschaft stellt man im Zusammenhang mit Wasserkraft die grundsätzliche Frage, ob der Amazonas in Zukunft Schutzzone oder Entwicklungsgebiet sein soll.

Dass Brasilien neue Ressourcen erschließen muss, um eine sichere Versorgung aufrechtzuerhalten, ist unbestritten. Doch ist die hohe Abhängigkeit von Wasserkraft auch jenseits der ökologischen und sozialen Verwerfungen problematisch. In Zeiten extremer Trockenheit, wie im Winter 2012/13, entstehen Engpässe, die nur schwer ausgeglichen werden können. Bei der Ausweitung der Stromkapazitäten soll deshalb mindestens ein Anteil von 20 Prozent auf neue Gaskraftwerke entfallen. Ein Drittel des benötigten Gases aber muss wegen geringer Förderquoten und starker Nachfrage importiert werden – und zwar zu fast 100 Prozent aus Bolivien. Wegen der innenpolitischen Situation unter Boliviens Präsident Evo Morales und weil infolge der Verstaatlichungen weniger in die Gasförderung investiert wird, ist diese Abhängigkeit für Brasilien besonders schmerzhaft. Vor allem in wasserarmen Zeiten gibt es regelmäßig Konflikte zwischen der Befriedigung der Nachfrage in der Industrie und beim Transport und der Befeuerung der Kraftwerke – ein Konflikt, der zumeist aus politischen Gründen zugunsten der Stromerzeugung aufgelöst wird und erhebliche Kosten für die Unternehmen nach sich zieht. Der Bau von Flüssiggasterminals und Bemühungen, die heimische Gasförderung auszuweiten, konnten die Abhängigkeit vom bolivianischen Gas bisher nicht wesentlich verringern. Um die Stromversorgung weiter zu diversifizieren, ist die Regierung fest entschlossen, das seit 1986 im Bau befindliche dritte Atomkraftwerk fertigzustellen. Ob die vier weiteren in Planung befindlichen Meiler tatsächlich ans Netz gehen werden, hängt von der Entwicklung der anderen Energieträger ab. Denn auch in Brasilien ist Atomstrom die teuerste Variante. Der Ausbau der Kernenergie und die Beherrschung des kompletten Brennstoffkreislaufs dürften deshalb auch eher aus Gründen des nationalen Prestiges als aufgrund energiepolitischer Ziele erfolgen. 

Einige Alternativen spielen jedoch bei der Stromversorgung bisher nur eine untergeordnete Rolle. Der Windkraft kommt inzwischen – im Gegensatz zur Photovoltaik – in der Debatte über Brasiliens Energiemix eine größere Bedeutung zu. Verglichen mit den Investitionsprogrammen bei den drei Hauptträgern führt sie aber weiter ein Nischendasein. Dabei könnte die Nutzung eines Teiles des geschätzten Potenzials von 143 Gigawatt in den windreichen, aber trockenen Wintermonaten im Nordosten Brasiliens die dann geringere Leistung der Wasserkraft ausgleichen. Politische Vorgaben tragen dazu bei, dass die Umstellung auf weitere alternative Quellen nur schleppend vorangeht. Bis vor kurzem zählten Brasiliens Strompreise wegen der Steuern zu den höchsten der Welt. Um Wirtschaft und Haushalte zu entlasten, sollen sie nun schrittweise um 20 Prozent abgesenkt werden. Dies erschwert nicht nur den Marktzugang von neuen, tendenziell teureren Technologien wie Windkraft, sondern setzt auch falsche Anreize, um das größte Potenzial in Brasiliens Strompolitik zu heben – eine verbesserte Effizienz. Brasilien nutzt nach Schätzungen nur 63 Prozent seiner generierten elektrischen Energie; der große Rest geht aufgrund langer Transportwege, technischer Mängel beim Transport, der Distribution und beim Endverbraucher verloren. Durch eine umfassende Effizienzstrategie könnte Brasilien Atomkraft und besonders umstrittene Staudammprojekte sicher einsparen. 

Alles auf Zucker?

Auch Ethanol, neben der Wasserkraft wichtigste erneuerbare Energiequelle, steht in der Kritik. Wohl kaum ein Energieträger ist – zumindest aus europäischer Sicht – so schnell vom Hoffnungsträger zum Schurken geworden, mit dem gleich eine ganze Reihe von Grundübeln und Krisenerscheinungen der heutigen Zeit assoziiert werden. Die brasilianische Regierung, die seit 2003 das Programm energisch vorantreibt, sieht in Ethanol jedoch nicht nur eine sichere Energiequelle für das eigene Land und den Export; als Substitut für Erdöl böte es auch neue Entwicklungsperspektiven für den gesamten Süden. Kritiker verweisen auf die ökologischen, ernährungspolitischen und sozialen Auswirkungen des Zuckerrohranbaus. Dass die Nahrungsmittelsicherheit durch einen erhöhten Ausbau der Agrarenergie gefährdet werden könnte, ist sicherlich ein berechtigtes Argument. Anders als Mais (in den USA) aber ist Zuckerrohr in Brasilien keine wichtige Nahrungsmittelpflanze. 

Gravierender sind die ökologischen Schäden. Neben der Belastung der Böden durch die in den Monokulturen der Zuckerrohrfelder eingesetzten Pestizide und Herbizide und das nach wie vor praktizierte Abbrennen der Felder (das bis 2021 eingestellt werden soll) geht es auch hier um die Frage, welchen Einfluss die Produktion auf den Amazonas hat. Richtig ist, dass sich 85 Prozent der Ethanolproduktion in den südlichen und zentralen Bundesstaaten konzentrieren und Anbauversuche im Amazonas bisher scheiterten. Problematisch für den Regenwald ist vielmehr die Rinderzucht. Hier lässt sich eine deutlich veränderte Landnutzung beobachten, die auf Verdrängungseffekte schließen lässt: Während im Landesdurchschnitt das Wachstum der Rinderherden 2009 bei 6 Prozent lag, gab es ein überproportionales Wachstum in angrenzenden oder im Amazonas-Gebiet liegenden Bundesstaaten um teilweise 50 Prozent. Aufgrund der verstärkten Zuckerrohrproduktion wurden neue Weideflächen im Amazonas erschlossen. 

Nicht zu vernachlässigen sind auch die sozialen Probleme im Zusammenhang mit dem Zuckerrohranbau. Die Ernte des Zuckerrohrs gehört zu den am schlechtesten bezahlten und gesundheitsgefährdendsten Arbeiten, teilweise auch unter sklavenähnlichen Bedingungen. In den vergangenen Jahren hat die Regierung eine Reihe von Initiativen entwickelt, um die Arbeitsstandards besser zu kontrollieren und auch härtere Strafen aussprechen zu können. Im Südwesten Brasiliens wird die Ernte inzwischen auch durch den Einsatz von Maschinen erleichtert. Mittelfristig dürfte sich deshalb vor allem die enorme Landkonzentration, die mit dem Ausbau des Zuckerrohrs einhergeht, auf die soziale Entwicklung des Landes auswirken. Fast 70 Prozent der Zuckerrohrfelder befinden sich im Besitz von rund 360 Ethanol- und Zuckerfabriken. Diese Konzentration durch die Großbetriebe und der Anstieg der Grundstückspreise verschlechtern weiter die Bedingungen für eine dringend nötige, substanzielle Landreform in Brasilien.

Aufgrund der günstigen natürlichen Voraussetzungen, des technologischen Vorsprungs und der Nachfrage ist es trotz der sozialen und ökologischen Auswirkungen unwahrscheinlich, dass Brasilien diesen Zukunftsmarkt aufgeben wird. Und da Brasilien auf diesem Sektor an Marktmacht gewinnen dürfte, wird es vermutlich auch schwierig sein, von außen eine nachhaltige Ethanolproduktion über eine Zertifizierung zu erwirken. Ethanol ist bereits heute ein zentrales handelspolitisches Thema für Brasilien, das sowohl bei der Zusammenarbeit mit zahlreichen afrikanischen Staaten, in der Energiekooperation mit den USA und in den Verhandlungen bei der WTO eine wichtige Rolle spielt.

Ölmacht Brasilien?

Dass Gott Brasilianer sei, glaubt das Land spätestens seit 2007, als unter einer dicken Salzschicht („pré sal“) in fast 7000 Meter Tiefe riesige Erdölvorkommen entdeckt wurden, die bis zu 100 Milliarden Barrel umfassen könnten und, gemessen am heutigen Konsum, Brasilien für die kommenden 100 Jahre mit Öl versorgen würden. Präsident Lula sprach damals von der „zweiten Unabhängigkeit“ des Landes. Da Brasilien über enormes Know-how in der Tiefseebohrung verfügt, dürfte die Förderung rein technisch keine Probleme bereiten. In den vergangenen Jahren wurden aber vor allem die wirtschafts-, investitions- und verteilungspolitischen Untiefen des Mammutprojekts diskutiert. 1998 wurden die brasilianischen Ölfelder für ausländische Unternehmen geöffnet, die seitdem Förderkonzessionen ersteigern und neue Felder erschließen können. Die Regierung stoppte diese Auktionen nun für fünf Jahre, um die „Ölverfassung“ komplett neu zu schreiben. Die neuen Gesetze und Initiativen liefen darauf hinaus, die Ölindustrie wieder stärker unter die Kontrolle des Staates zu bekommen, die Öleinkommen besser im Land zu verteilen und einen Nachfrageschub für den Rest der Ökonomie zu generieren. 

Der Ölkonzern Petrobras, bei dem der Staat die meisten Stimmrechte und 48 Prozent der Aktien hält, ist dabei der Schlüssel für den Erfolg im „pré sal“. Künftig sollen die Investoren nur noch einen Teil des geförderten Öls behalten dürfen. Hat ein Konsortium durch die Förderung seine Kosten gedeckt, wird die Produktion geteilt. Somit werden diejenigen Konsortien den Zuschlag bekommen, die dem Staat den größten Anteil an diesem „profit oil“ überlassen. Petrobras wird in allen Fällen das operative Geschäft übernehmen und mit mindestens 30 Prozent an jedem Projekt beteiligt sein. Aufgrund eines kurzfristigen Rückgangs der Erdölproduktion, die von 2000 bis 2011 um 60 Prozent zunahm, wurden im vergangenen Jahr Zweifel laut, ob Petrobras trotz eines Investitionsprogramms von 236 Milliarden Dollar – dem weltweit größten eines einzelnen Unternehmens – in der Lage sei, die Erschließung alleine zu bewältigen. Tatsächlich hat vor allem die Inflationspolitik der Regierung das Unternehmen weiter unter Druck gesetzt. Um die Inflationsrate zu drücken, hält die Regierung die Benzinpreise niedrig. Gleichzeitig senkte sie die Beimischung des aktuell teureren Ethanols ab; Petrobras war wegen der Auslastung der Raffinerien gezwungen, teures Benzin auf dem Weltmarkt einzukaufen und unter Preis weiterzuverkaufen. Auch die leer gefegten Arbeitsmärkte machen es der Zuliefererindustrie schwer, ihre Zielvorgaben einzuhalten. 

Ein politisch sehr heikles Problem ist die Frage, wer in Brasilien von der Ölbonanza profitieren soll. Bisher waren dies neben dem Zentralstaat vor allem die drei Bundesstaaten (Rio de Janeiro, São Paulo, Espírito Santo), die an die Ölfelder angrenzen. Der Plan der Regierung sah vor, die Einnahmen aus den alten Ölfeldern weitgehend bei diesen Bundesstaaten zu belassen, die neuen Einkünfte jedoch wesentlich breiter zu verteilen. Darauf wollen die „ölfernen“ Länder jedoch nicht warten. Sie setzten im brasilianischen Kongress ein Gesetz durch, das die sofortige Neuverteilung vorsieht und Milliarden von Reais aus den produzierenden Staaten abzieht. Rio de Janeiro fror seine Zahlungen daraufhin ein; der Streit wird wohl vor dem Verfassungsgericht entschieden werden müssen. 

Die Regierung plant zudem, die Erschließung des „pré sal“ als Motor für die gesamte brasilianische Ökonomie zu nutzen. Sie verpflichtete Petrobras dazu, nationale Anbieter zu favorisieren, um so auch die ganze Zuliefererkette zu erschließen (wie Tankschiffe, Bohrtechnologie, Plattformen und chemische Produkte). So soll der komplette industrielle Öl- und Gaskomplex, der bisher einen Anteil von 14 Prozent an der Ökonomie hat, bis 2020 auf 25 Prozent ansteigen. Damit sind auf der einen Seite zum Teil zwar höhere Kosten und längere Entwicklungs- und Lieferzeiten verbunden. Auf der anderen Seite wirkt dieses Programm – neben der volkswirtschaftlichen Stärkung des Energiesektors – auch gegen eine befürchtete „Holländische Krankheit“, bei der die Ölexporte die Währung so weit aufwerten, dass sie die Entwicklung von anderen Industrien behindert. 

In eine ähnliche Richtung zielt der Staatsfonds, in den die Öleinkünfte auf föderaler Ebene fließen sollen. Er soll auch im Ausland investieren können, um so einer Aufwertung entgegentreten zu können. Und die Einnahmen sollen so eingesetzt werden, dass sie die Produktivität der Gesamtwirtschaft erhöhen und vor allem in die Bereiche Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Technik und Kultur fließen. Trotz der Anlaufschwierigkeiten hat Brasilien ein weitsichtiges institutionelles und regulatorisches Arrangement rund um die Ölfunde etabliert, das, wenn es umgesetzt wird, nicht nur Brasiliens Position auf den Ölmärkten stärken, sondern auch das Entwicklungsmodell insgesamt stabilisieren dürfte.

Bereits heute spielt Energieaußenpolitik in der Region für Brasiliens Regierung eine wichtige Rolle – ihr Ziel ist es, eine stabile Entwicklung bei seinen Anrainerländern zu fördern, Verbündete zu gewinnen und seine Vormachtstellung auf dem Kontinent zu unterfüttern. Ökonomische und politische Rettungsschirme spannte Brasília für die beiden instabilen Linksregierungen in Bolivien und Paraguay unter Präsident Fernando Lugo (2008 bis 2012) auf. Um die Regierung in La Paz, deren Haushalt zu 40 Prozent auf den Gasverkäufen nach Brasilien basiert, nicht in Schwierigkeiten zu bringen, drosselt Brasilien auch dann seine Importe nicht, wenn die eigenen Wasserspeicher voll sind. Im Falle Paraguays willigte die brasilianische Regierung ein, dass Para­guay seinen überschüssigen Strom aus dem gemeinsam genutzten Wasserkraftwerk Itaipú direkt auf dem brasilianischen Strommarkt anbieten kann und die Preise hierfür verdreifacht werden. Diese „Diplomatie der Großzügigkeit“ (Lula) entsprang nicht nur den politischen Familienbanden, sondern auch der Tatsache, dass Brasilien Ärger an seinen Außengrenzen unter allen Um­ständen vermeiden möchte und es deshalb den Reformprozessen in Bolivien und Paraguay Luft verschaffen wollte. Ob sich jedoch auch der Ressourcenreichtum mittelfristig außenpolitisch auszahlt, wird von der Frage abhängig sein, wie es Brasilien gelingt, seine eigene Energiesicherheit zu gewährleisten.

Jochen Steinhilber leitet das Referat Glo-bale Politik und Entwicklung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt Brasilien, Juli/August 2013, S. 42-48

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