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01. Mai 2019

Russland und der Westen

Von Ralf Fücks und Nikolaus von Twickel

Wie sähe die richtige Politik gegenüber Moskau aus? Brauchen wir eine neue Ostpolitik? Kurz gesagt: Es kommt darauf an

Seit den 1970er Jahren ist „Ostpolitik“ ein fester Bestandteil des politischen Vokabulars in Europa und Nordamerika. Der Begriff markiert eine der wenigen strategischen Initiativen deutscher Außenpolitik in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist untrennbar mit der charismatischen Persönlichkeit Willy Brandts als Außenminister und Bundeskanzler verbunden.

Seit vergangenem Sommer ist der Begriff wieder da, weil Außenminister Heiko Maas (SPD) für eine neue europäische Ostpolitik wirbt. Die soll angesichts der „gefährlichen Sprachlosigkeit zwischen Washington und Moskau“ neue Wege aufzeigen, um mit Russland – im Interesse aller europäischen Staaten – zu kooperieren.

Doch rechtfertigt die Resonanz der damaligen Ostpolitik eine Wiederauflage? Ist eine neue Ostpolitik die richtige Antwort auf die Herausforderungen, die von Wladimir Putins Russland ausgehen? Darüber diskutierten Russland-Expertinnen und -Experten aus Politik, Wissenschaft und Journalismus intensiv und streckenweise auch kontrovers bei der Konferenz „Russland und der Westen – Brauchen wir eine neue Ostpolitik?“ des Zentrums Liberale Moderne.

Die kurze Antwort ist: Es kommt darauf an. Eine Wiederauflage der deutschen Ostpolitik der 1970er Jahre ist weder wünschenswert noch angebracht, so die einhellige Meinung der mehr als 80 Teilnehmer aus Europa, Russland und den USA. Zu sehr hat sich die Welt seither verändert – europäisch wie global. Wie jedoch eine neue Politik gegenüber Moskau aussehen soll und ob man ihr den Namen (neue) Ostpolitik geben soll, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Wandel durch Annäherung

Die Ostpolitik des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt zielte darauf ab, die Spannungen in Europa abzubauen, die deutsche Teilung zu überwinden und eine Friedensordnung für Europa zu erreichen. Sie mündete 1975 in die Schlussakte von Helsinki, deren „drei Körbe“ – Abrüstung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte – heute als die drei Dimensionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weiterleben. Es ist wichtig, an diese normative Dimension der damaligen Ostpolitik zu erinnern, auch wenn von ihrem ursprünglichen Impetus eines „Wandels durch Annäherung“ im Laufe der Zeit immer weniger „Wandel“ und immer mehr „­Annäherung“ blieb.

Die Unterschiede zwischen den 1970er Jahren und heute liegen auf der Hand. Deutschland ist vereinigt, die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten sind der NATO und der EU beigetreten. Eine deutsche Sonderrolle im Verhältnis zu Russland, wie sie sowohl von links als auch aus nationalkonservativen Kreisen immer wieder gefordert wird, wäre ein fatales Signal an Deutschlands Verbündete in Ost und West.

Auch die Brandt’sche Ostpolitik, darauf wiesen teilnehmende Historiker hin, war keineswegs ein deutscher Sonderweg. Sie basierte auf der festen Einbindung der Bundesrepu­blik in das westliche Bündnis, politisch wie militärisch. Dialogbereitschaft und militärische Abschreckung waren zwei Seiten einer Medaille. Es war gemeinsame Auffassung im Bündnis, dass man mit Moskau verhandeln musste, um eine europäische Friedenslösung zu erreichen. Eine Veränderung des Status quo in Europa schien nur mit, nicht gegen die UdSSR möglich. Wie schon zuvor in Ostdeutschland (1953) und in ­Ungarn (1956) hatte die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 gezeigt, dass die Sowjetunion bereit war, ihre Einflusszone in Osteuropa mit Gewalt zu verteidigen.

Hier drängt sich die Parallele zur Ukraine auf, wo es ja auch darum geht, ob sich das größte europäische Flächenland nach Russland oder nach Europa orientiert. Es kam die These auf, dass Putin eine Neuauflage der Ostpolitik gut findet, weil der russische Präsident die Idee von Einflusssphären mag. Eine Rückkehr zu einem in zwei Hälften geteilten Europa wäre ein historischer Rückfall hinter die Errungenschaften von 1989. „Eine neue Ostpolitik wäre unmoralisch“, sagte ein russischer Teilnehmer.

Mit welchem Russland haben wir es heute zu tun?

Zumal, und das war ein ständig wiederkehrendes Motiv der Konferenz, Putin eben nicht Breschnew und Russland nicht die Sowjetunion ist. Im Vergleich zu Putin war Breschnew einigermaßen berechenbar, stärker an Stabilität und weniger an persönlicher Bereicherung interessiert. Unter Putin dagegen habe sich eine weitgehend ideologiefreie Elite gebildet, die politische Entscheidungen mit Blick auf die Sicherung der eigenen Interessen treffe.

Zugleich wurde die These vertreten, dass Putin und der innere Zirkel der Macht eine außenpolitische Agenda verfolgen, die auf Rückgewinnung des Großmachtstatus Russlands und auf die größtmögliche Wiederherstellung des sowjetischen Imperiums zielt. Sowohl für den Machterhalt wie für die Großmachtambitionen des ­Putin-Systems spielt die ­Ukraine eine Schlüsselrolle.

Während die modernen Moskauer Machteliten also gerissener sind als ihre sowjetischen Vorvorgänger, so hat das von ihnen kontrollierte Land längst nicht mehr die Stärke von damals. Russland ist zwar eine nukleare Großmacht und hat mehr als eine Million Frauen und Männer unter Waffen, es kann aber den großen Industrienationen wirtschaftlich nicht das Wasser reichen. Sein Bruttoinlands­produkt im Jahr 2017 betrug 1,5 Milliarden Dollar, weniger als die Hälfte des deutschen (3,68 Milliarden) und ein Achtel des chinesischen BIP (12 Milliarden).

Nicht zuletzt brauchen Putin und seine Getreuen den Westen viel stärker als die damalige Sowjetunion. Ob als sicherer Finanzplatz für russisches Fluchtkapital, Abnehmer von Rohstoffen, Lieferant von Hochtechnologie und Maschinen oder als Spielplatz der russischen „jeunesse dorée“ – das heutige Russland ist tief mit Europa verflochten. Heute leben Hunderttausende russischer Bürger permanent oder zeitweilig in Europa, und jährlich werden es mehr. Während Putin alles daran setzt, das demokratische Europa zu destabilisieren, ist er zugleich auf die ökonomische Verflechtung mit Europa angewiesen, um sein Regime an der Macht zu halten.

Mehr Selbstbewusstsein, bitte!

Daraus ließe sich eine selbstbewusste Politik der EU gegenüber Moskau ableiten. Davon ist allerdings wenig zu sehen. Gerade in Deutschland scheint die Überzeugung zu überwiegen, dass Russland am längeren Hebel sitzt. Die Stärke des Putin-Regimes wird tendenziell überschätzt. Entsprechend fiel es vielen Konferenzteilnehmern nicht leicht, Erfolge des Westens gegenüber Russland zu finden. Oft gewürdigt wurde die Tatsache, dass es ­Bundeskanzlerin ­Angela Merkel gelungen ist, die wegen der Krim-Annexion und des Einfalls in der Ostukraine 2014 verhängten EU-Sanktionen aufrechtzuhalten. Aber: Seit 2016 ist der Effekt der Sanktionen weitgehend verpufft, die russische Wirtschaft wächst wieder, wenn auch moderat. Und mehrere Teilnehmer warnten, dass der EU-Konsens bröckelt, nicht zuletzt dank Putins Verbündeter in Europa, die sich in fast allen Ländern finden und in einigen Mitgliedstaaten wie Italien und Österreich sogar an der Regierung beteiligt sind.

2018 sei für Putin gar ein „annus mirabilis“ gewesen – also ein ausgesprochenes Glücksjahr. Nicht nur hat er die arrangierte Wahl zu seiner vierten Amtszeit gewonnen, auch eine Reihe von Parlamentswahlen in Europa ging ganz im Sinne des Kremlchefs aus. Sie brachten teils deutliche Zugewinne für die Rechtspopulisten der italienischen Lega, der ungarischen Fidesz oder der Schweden­demokraten.

Transatlantische Verwerfungen

Besonders pessimistisch fiel die Analyse der Rolle der USA aus. Zwar hat Washington seine Russland-Sanktionen zuletzt verschärft, diese wurden aber nicht mehr mit der Europäischen Union koordiniert. Die angedrohten Sanktionen gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 bergen das Potenzial neuer Konflikte zwischen Washington und Berlin.

Dieses Projekt wurde einhellig sehr kritisch gesehen: Es spaltet die Europäische Union, entzieht der Ukraine jährliche Milliardeneinnahmen und macht sie verteidigungspolitisch noch verwundbarer als heute. So gerechtfertigt die amerikanische Kritik in der Sache sein mag, so kontraproduktiv ist aber das unilaterale Vorgehen Washingtons – die Bundesregierung handelt hier allerdings nicht ­weniger unilateral.

Das Misstrauen in die Trump-­Administration geht inzwischen so weit, dass sogar ein NATO-Austritt der USA für möglich gehalten wird. Für Europa wäre das ein strategisches Desaster, für Putin die Erfüllung des Traums vom Ende der transatlantischen Allianz.

An eine strategisch angelegte amerikanisch-europäische Zusammenarbeit gegenüber Russland mag gegenwärtig niemand glauben. Zwar hat Donald Trump in der Regierung und im Kongress viele Gegner, aus Wa­shington solle man in Zukunft aber eher mehr als weniger Chaos erwarten, so die Meinung einer prominenten US-Teilnehmerin.

Angesichts dieser Situation ist es wahrscheinlich, dass der Kreml sein Augenmerk auf das zerstrittene Europa legt: „Putin ist kein Schachspieler, sondern Judoka. Er wird versuchen, seinen Gegner unter Einsatz aller Mittel aus dem Gleichgewicht zu bringen“, erklärte ein russischer Teilnehmer und fügte warnend hinzu: „Um im Judo zu gewinnen, muss man schnell sein und darf nicht auf die Attacke des Gegners warten.“

Förderung der Zivilgesellschaft

Trotz alledem gibt es auch Lichtblicke. In Russland deuten die jüngsten Wahl- und Umfrageergebnisse auf eine Schwächung des „Putin-Konsensus“. So haben bei den Gouverneurswahlen im Herbst 2018 in vier Regionen die Kandidaten des ­Kremls verloren. Meinungsforscher sagen, dass die kostspielige Außenpolitik von den Bürgern immer mehr als Bürde gesehen wird. Bürgerproteste gegen soziale oder ökologische Missstände werden als Zeichen einer aktiven Zivilgesellschaft gedeutet.

In der jüngeren Generation bahnt sich ein Wertewandel an – trotz aller Propaganda vom „eigenen Weg Russlands“ versteht sich die Mehrheit der jungen Leute (zumindest in den größeren Städten) als Europäer und sucht Anschluss an einen modernen Lebensstil. Der anstehende Generationenwechsel in Politik und Wirtschaft eröffnet neue Chancen für eine Annäherung zwischen Russland und dem Westen. Deshalb sollte alles getan werden, um die Herausbildung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Russland zu unterstützen.

Europäische Russland-Politik

Ein wirksamer Hebel könnte die Finanzierung eines russischsprachigen Fernsehprogramms durch die EU sein, das eine Alternative zur Kreml-Propaganda bietet. Dennoch: Ein baldiges Ende des „Systems Putin“ wollte auf dieser Konferenz niemand vorhersagen.

Ein Grund mehr, um für eine gemeinsame europäische Politik zu werben. Denn eigentlich sind die Chancen der Europäischen Union, einen starken Gegenpol zu Moskau zu bilden, nicht schlecht. Mehr als 500 Millionen Bürger (nach einem ­Austritt Großbritanniens wären es noch 446 Millionen), die in Freiheit und einer immer noch prosperierenden Wirtschaftsordnung leben, sind eine Kraft, die man nicht unterschätzen sollte. Wenn, ja, wenn sie außenpolitisch mit einer Stimme sprechen, wie ein erfahrener deutscher Außenpolitiker bemerkte.

Wohl eine gute Aufgabe für die Bundesregierung und die deutsche Außenpolitik, wie ein polnischer Teilnehmer fand: Deutschlands Mission dürfe heute nicht sein, eine Sonderbeziehung mit Russland zu unterhalten, sondern die EU zusammenzuhalten und ihr zu ermöglichen, ein „global player“ zu werden.

Ralf Fücks ist Mitgründer des Zentrums Liberale Moderne. Zuvor war er lange Jahre Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Nikolaus von Twickel arbeitet als freier Journalist in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 111-115

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