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01. Sep 2010

Wo bleibt der Masterplan?

Auf der Suche nach einer außenpolitischen Strategie

Was zeichnet eine kluge außenpolitische Strategie aus? Und was bedeutet überhaupt „Strategie“? Sind die amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategien gute Vorbilder? Deutschland hat noch Nachholbedarf und sollte eine entsprechende Debatte fördern, um Ziele und Mittel zu identifizieren und in eine Strategie zu überführen.

Dem Wirken der Bundesregierung mangelt es nicht an Strategie. Es gibt eine Strategie zur Biologischen Vielfalt, eine Hightech-, eine Internet-, eine Breitband- und eine Afghanistan-Strategie – um nur einige Beispiele zu nennen. Ungeachtet der politischen Substanz, die sich mit diesen Konzepten verbindet, ist der Begriff „Strategie“ aber auch ein rhetorischer Trick, der Autorität verschafft. Es ist, dem Wortsinne nach, die Autorität des Feldherrn (griechisch: strategós; stratós=Heer, agein=führen), der nicht nur die Einzelheiten des Gefechts kennt, sondern die gesamte Schlacht überblickt und daher wie kein anderer in der Lage ist, die einzelnen Mittel im Sinne des übergeordneten Zieles zu koordinieren. Je komplizierter die Situation, je mehr Akteure und Einflüsse zu berücksichtigen sind, desto schwieriger wird die Aufgabe der Strategieentwicklung – und zugleich umso notwendiger. Aus diesem Grund gilt die außenpolitische Strategie eines Staates als Königsdisziplin; die Angelsachsen sprechen von der Grand Strategy.

„Hope is not a strategy“, das Diktum der modernen Manager, gilt für den Staatslenker erst recht, denn sein Versagen hätte gravierendere Folgen als nur den Bankrott. Doch was zeichnet kluge außenpolitische Strategie aus? Dazu sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, was überhaupt Strategie ist und wie sie entsteht. Des Weiteren gilt es, den Spannungsbogen zwischen Planung und Durchführung – zwischen Strategie und Taktik – zu beleuchten und auf die politikpraktische Anwendung zu beziehen.

Eine erste Definition des Begriffs lieferte Carl von Clausewitz. Er lehrte uns, dass „Strategie (…) der Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges (ist); sie muss also dem ganzen kriegerischen Akt ein Ziel setzen, welches dem Zweck desselben entspricht (…)“. Löst man diese Definition von ihrem militärischen Kontext, lässt sich eine Strategie als Maßnahmenkatalog zum Erreichen eines klar definierten Zieles beschreiben. Dies verlangt den beteiligten Akteuren insbesondere in der internationalen Politik einiges ab, denn es bedeutet, dass man sich seines Zieles vor dem Handeln bewusst sein und klar definieren muss, unter welchen Bedingungen dieses endgültig erreicht ist (exit strategy). Erst dann sollte die eigentliche Umsetzung erfolgen. Doch auch hier steckt der Teufel im Detail, denn die praktische Durchführung erfordert ein geordnetes Vorgehen (griechisch: taktikós) – eine Taktik. Tagtäglich müssen wir uns taktischen Überlegungen stellen. Überquere ich eine Straße, so muss dies taktisch klug geschehen, ansonsten überrollt mich der nächste Bus. In der internationalen Politik mag erfolgreiche Taktik im Abschluss eines Vertrags oder im gewonnenen Gefecht bestehen. In diesem Sinne ist Taktik ein untergeordneter Baustein von Strategie. Allerdings gilt der Umkehrschluss nicht, denn eine Summe kluger Taktiken ersetzt oder formt noch lange keine Strategie. Vielmehr bleibt ohne Strategie auch die beste Taktik wirkungslos. Um in der Analogie Clausewitz’ zu bleiben, muss der Gebrauch des Gefechts – die taktische Ebene – dazu dienen, dem ganzen Akt ein Ziel zu setzen. Wenn allerdings nicht jeder einzelne Akteur in die Grand Strategy eingeweiht ist, oder diese erst gar nicht existiert, dann bleibt tatsächlich nur die Hoffnung als einzige Strategie.

Sucht man praktisches Anschauungsmaterial für diese Diskrepanz zwischen Strategie und Taktik, wird man in der internationalen Politik zur Genüge fündig. Als prominentestes Beispiel lässt sich der Vietnam-Krieg anführen. Betrachtet man hierbei nur die militärisch-technische Ebene, stellt man fest, dass die USA Nordvietnam eindeutig überlegen waren. Allein die amerikanische Truppenstärke überstieg die Anzahl der nordvietnamesischen Kämpfer um fast das Fünffache, und die USA entschieden den Großteil aller Gefechte für sich. Auch die amerikanische Taktik des „war of attrition“, der auf möglichst viele Opfer unter den vietnamesischen Gegnern abzielte, war schrecklich erfolgreich. Aber sie führte eben nicht zu einer schnellen Beendigung des amerikanischen Einsatzes, weil sie der Stabilisierung eines demokratischen Südvietnam nicht zuträglich war, im Gegenteil. Es fehlte an einer adäquaten Abstimmung der Mittel auf die Ziele des Krieges, weil auch die Motivation der Gegner und das Wesen der amerikanischen Aufgabe unklar blieben. Kurzum, es mangelte an einer kohärenten Strategie, und ohne diese politische Vorgabe mussten einzelne Teilsiege wirkungslos bleiben. Zumindest in dieser Hinsicht ähnelt der Krieg in Afghanistan in der Folge der Terrorangriffe vom 11. September 2001 dem Krieg in Vietnam, denn auch dieser Einsatz ist ein Beispiel für das verhängnisvolle Auseinanderklaffen von Strategie und Taktik. Zwar ging das Gefecht – der Sturz der Taliban – schnellstmöglich vonstatten, doch das große Ziel der Stabilisierung des Landes wurde erst a posteriori definiert und lange nicht mit ausreichenden Mitteln verfolgt. So ist es bezeichnend, dass fast zehn Jahre nach dem Beginn des Einsatzes am Hindukusch noch eine „Afghanistan-Strategie“ folgt. Auch hier gilt: Die Straße kann ich sicher überqueren, doch sollte ich mich zuerst entscheiden, wohin ich eigentlich will.

Nimmt man diese Überlegungen zusammen, ergibt sich ein eindeutiger Zweck der Strategie: Er besteht in der Reduktion komplexer Systeme und der Planbarkeit von Entwicklungen in diesen Systemen beziehungsweise von Entwicklungen der Systeme selbst. Zwar könnte man prinzipiell jede Ziel-Mittel-Korrelation als Strategie beschreiben: Ich möchte mich lieber im Wohnzimmer als in der Küche aufhalten, also setze ich meine Beine dorthin in Bewegung – die dynamische Raum-Körper-Strategie. Die meisten dieser Relationen sind allerdings vergleichsweise trivial, weshalb die „Breitband-Strategie“ der Bundesregierung – so klug und notwendig sie auch sein mag – einen Beigeschmack des Lächerlichen hat. Strategie erfüllt ihren eigentlichen Zweck erst bei hoher Komplexität des Systems, die insbesondere durch Ungewissheiten und „unknown unknowns“ (Donald Rumsfeld) erreicht wird. Denn nur unter diesen Bedingungen entfaltet sie ihre tatsächliche Wirkung, indem sie Unsicherheiten in ein hilfreiches übergeordnetes Narrativ zur Entscheidungsfindung und Handlungsweise einbaut. Es fällt den Verantwortlichen, die mit unübersichtlichen Systemen konfrontiert sind, leichter, Entscheidungen zu treffen und in Aktion zu übersetzen, wenn sie über eine plausible Strategie verfügen, welche die einschüchternde Unvorhersagbarkeit weiterer Entwicklungen erträglich macht. Überdies macht eine klar formulierte Strategie auch das Scheitern erträglicher, weil sie einen handhabbaren Bezugsrahmen für Anpassungen und Veränderungen schafft, die ein solches Scheitern zukünftig auszuschließen versprechen.

Kreativität und Einfühlsamkeit, Analyse und Bildung

In der internationalen Politik lässt sich die notwendige Komplexitätsreduktion aber nicht nach schematischen Regeln erreichen. Eine tragfähige außenpolitische Strategie muss so viele Variablen einschließen, dass sie per definitionem nicht statisch sein kann. Politik darf niemals mechanistisch gedacht werden: „Wenn A passiert, dann reagieren wir mit B“ oder „Wenn wir uns für A entscheiden, dann wird B folgen“ gilt allenfalls im oberflächlichsten Sinne. A und B sind vielmehr selbst flexible Variablen. Dieses Verständnis von Strategie wird nicht nur der Wirklichkeit der internationalen Politik gerecht, sondern kommt auch dem Bedürfnis demokratischer Politiker entgegen, die sich nicht auf alternativlose Entscheidungspfade festlegen lassen wollen. Außenpolitische Strategie fordert die Kreativität und Einfühlsamkeit des Menschen. Außenpolitische Problemstellungen sind nie völlig identisch und nie auf eine Gegenüberstellung addierter Zahlen zu beschränken. Im Sinne Douglas Adams’ könnte man sagen: Die Antwort auf eine strategische Frage wird niemals 42 lauten. Strategisches Denken erwächst allerdings nicht aus Kreativität allein, sondern erfordert auch immer die sorgfältige Analyse des Systems, auf das sich die Strategie beziehen soll. Daher ist insbesondere eine umfassende historische, aber auch gesellschaftlich-kulturelle Bildung unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung einer angemessenen außenpolitischen Strategie.

Der Zweck außenpolitischer Strategie besteht in ihrer Komplexitätsreduktion und in der Eröffnung von Entscheidungsspielräumen, lässt sich aber auch konkreter benennen: Die Strategie identifiziert und gewichtet Ziele, benennt die zur Erreichung der Ziele einzusetzenden Mittel und formuliert, zumindest im Ansatz, Variationen für den Fall, dass die gewünschte Ziel-Mittel-Relation nicht zum Erfolg führt. Damit erfüllt die Strategie den Zweck, die Vorstellungen zu vermitteln, und zwar nach innen wie nach außen.

Ein typisches Beispiel für außenpolitische Strategieformulierung sind die Nationalen Sicherheitsstrategien (NSS) der amerikanischen Präsidenten. Seit dem Goldwater/Nichols Act von 1986 verlangt der Kongress regelmäßige außen- und sicherheitspolitische Strategiepapiere von der Regierung. In diesen Sicherheitsstrategien erklären die Administrationen ihre außenpolitische Philosophie, indem sie die wichtigsten Interessen Amerikas benennen, und erörtern, welche Hindernisse der Wahrung dieser Interessen entgegenstehen. Zudem werden die Mittel festgelegt, mit denen diese Hindernisse überwunden werden sollen. Zyniker wenden ein, dass solche öffentlichen Strategiefestlegungen selten über Allgemeinplätze hinausreichen: Die Interessen bestehen immer in Frieden, Wohlstand und Sicherheit – motherhood and apple pie, wie die Amerikaner sagen. Und wenn es doch konkreter wird, wie in George W. Bushs Nationaler Sicherheitsstrategie von 2002, die den Krieg gegen den Terrorismus ausgerufen und den Präventivkrieg gerechtfertigt hat, ist dies eher problematisch als hilfreich für die Umsetzung der eigenen Politikvorstellungen. Die vergleichende Analyse der bisherigen Sicherheitsstrategien zeigt aber, dass die nationalen Interessen doch präziser formuliert werden als von den Kritikern postuliert. Vor allem werden die Mittel und regionalen Schwerpunkte der Strategie mitunter sehr verschieden definiert und bieten so durchaus praktische Handlungsempfehlungen für den politischen Apparat und Informationssicherheit für Bevölkerung, Verbündete und Gegner. Selbst eine vage formulierte Strategie wie die NSS der Regierung Obama vom Mai 2010 setzt deutliche Akzente zugunsten der Kooperation innerhalb internationaler Institutionen und hinsichtlich der Stärkung der wirtschaftlichen Basis für die Macht der USA.

Das Beispiel der amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategien illustriert auch, dass der Fokus der außenpolitischen Strategiebildung immer noch auf der Frage der Sicherheit liegen muss. Es bleibt die Kernaufgabe des Staates, die physische Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten und so die Freiheit zur gesellschaftlichen Eigenentwicklung zu garantieren. Demgegenüber sind alle anderen staatlichen Aufgaben nachrangig, es ist die Raison d’être des souveränen Staates. Strategiepolitik ist daher immer auch Machtpolitik, also im internationalen Kontext vor allem Militärpolitik. Natürlich sind wirtschaftliche, diplomatische und kulturelle Möglichkeiten der Einflussnahme nicht unwichtig, aber in letzter Konsequenz entscheiden eigene und bündnisbezogene Mittel militärischer Macht über die Sicherheit und Durchsetzungsfähigkeit eines Staates.

In der deutschen außenpolitischen Strategieformulierung entspricht das Weißbuch der Bundesregierung bzw. des Verteidigungsministeriums von 2006 am ehesten der amerikanischen NSS. Dieses erste Weißbuch seit zwölf Jahren verdient Anerkennung, insbesondere angesichts des vertrackten Entstehungsprozesses, an dem unterschiedliche Akteure beteiligt waren. Als Richtschnur für strategisches Handeln hat es sich allerdings nicht behaupten können – dafür enthält es zu viele aufgezwungene Kompromisse und weicht schwierigen Prioritätensetzungen zu oft aus. Aber ein einzelnes, noch so umfassendes Dokument reicht eben nicht aus, um eine außenpolitische Strategie zu verankern. Das zeigt auch die Forderung nach einer lebhafteren und anspruchsvolleren sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland, wie sie z.B. in Klaus Naumanns These von der „Politikbedürftigkeit des Militärischen“ oder dem Disput zwischen Constanze Stelzenmüller und Ulrich Schlie in dieser Zeitschrift zum Ausdruck kommt. Angesichts der gravierenden Sparvorgaben müssen wir unsere außenpolitischen Ziele und die dafür aufgewendeten Mittel auf ihre Vereinbarkeit überprüfen. Daher bleibt die schlüssige Verbindung klar benannter und hierarchisierter Ziele und Mittel – der Kern des Strategischen – für die politische Führung in Deutschland, aber auch für unsere Strategic Community insgesamt, eine dringende Herausforderung.

Dr. PATRICK KELLER ist Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

JULIAN VOJE ist Redakteur des Internationalen Magazins für Sicherheit (IMS), Bonn.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 21 - 25

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