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01. Jan. 2020

„Wir wollen endlich in Frieden leben können“

Im Nordosten Syriens weiß niemand so genau, wer Freund und wer Feind ist. Über die Köpfe der Kurden hinweg werden Machtsphären ausgehandelt: Putin und Assad werden gestärkt, die Türkei erhält ihre Beute aus der „Operation Friedensquelle“.

In der Theorie ist es noch überschaubar: Fährt man Mitte November aus der Stadt Hssaka Richtung Tell Tamer im kurdischen Nordosten Syriens in Richtung der Front nahe der türkischen Grenze, stehen die Einheiten der kurdischen Milizen mit ihren verschiedenen Abkürzungen vor der eigentlichen Kampflinie. Auf der anderen Seite steht die türkische Armee, die seit Oktober ihren angeblichen „Anti-Terror“-Feldzug gegen die kurdische Autonomieregierung führt.



Doch nimmt man tatsächlich die Landstraße nach Tell Tamer, wird es rasch komplizierter: An manchen Tagen begegnen einem nach den letzten kurdischen Stellungen die Jeeps der russischen Militärpolizei, die gemeinsam mit türkischen Soldaten dort die Einhaltung des täglich gebrochenen Waffenstillstands sicherstellen sollen. An anderen Tagen fahren dort Busse mit Soldaten von Baschar al-Assads Armee herum, die offensichtlich oft keinen klaren Befehl haben, ob sie nur Präsenz zeigen oder kämpfen sollen. Was wiederum die syrischen Hilfstruppen der türkischen Armee nutzen, jene ehemaligen Rebellenbrigaden aus den Städten und Landstrichen weiter im Westen, den die Türkei schon in den vergangenen Jahren schrittweise unter ihre Herrschaft gebracht hat. Die Ex-Rebellen, denen wenig anderes übrigbleibt, als zu tun, was die neuen türkischen Herrscher verlangen, schießen mit jäh wiedergefundenem Elan auf Assads Truppen. Gegen dessen Diktatur hatten sie sich ja einst aufgelehnt.



Etwas weiter westlich fahren US-Spezialkräfte Patrouille, die eigentlich bereits im Oktober aus dem Norden ihres einstigen Schutzgebiets abgezogen waren, aber nun, unerklärt, wieder dort auftauchen, manchmal an verschiedenen Tagen dieselben Routen befahren wie die russisch-türkischen Patrouillen. Und an manchen Tagen trifft man nah der Hauptkampflinie, die keine mehr sein sollte, auf die internationalen Helfer und Ex-Militärs der „Free Burma Rangers“. Diese sind auf Seiten der kurdischen YPG an den Frontlinien unterwegs, die wiederum das Image aufrechterhält, eine kurdisch-arabische Truppe unter dem PR-Titel „Syrian Democratic Forces“ (SDF) zu sein, obwohl hier kaum noch Araber mitkämpfen.



Die Free Burma Rangers wiederum sind eigentlich eine christliche Hilfsorganisation, wiewohl eine mit großer militärischer Erfahrung und kampferprobten Veteranen westlicher Streitkräfte. Ihren Ursprung nahm die Gruppierung in Burma, aber sie kämpft seit 2016 gegen den IS im Irak und in Syrien an der Seite der Kurden.



Das ist Syriens Nordosten am Jahresende 2019 in der Praxis: ein wirrer Tummelplatz aller möglichen Truppen, Milizen, Verbände, von denen selbst die kurdischen Befehlshaber nur zögerlich sagen können, wer nun gerade Feind, wer Freund und wer irgendetwas dazwischen ist. Würden nicht täglich Menschen sterben und hätten nicht weit über 100 000 Bewohner grenznaher Ortschaften unter Lebensgefahr südwärts fliehen müssen: Man könnte eine Satire über dieses Chaos drehen.

Was bedeutet „eigentlich“?

Stattdessen gilt es, die Bedeutungsvarianten des Wortes „eigentlich“ aufzuschlüsseln am Ort ihrer syrischen Kollision: Eigentlich wollte die US-Regierung unter Barack Obama ab 2014 nur gegen den Islamischen Staat (IS) kämpfen und glaubte, inmitten des großen Krieges in Syrien ihren ganz eigenen Feldzug gegen die Terrordschihadisten führen zu können.



Eigentlich behauptet die türkische Regierung unter Recep Tayyib Erdoğan, ihrerseits nur gegen den IS und gegen kurdische Separatisten vorgehen zu wollen, die in Ankara überdies gern in einen Topf geworfen werden – während das türkische Militär in Wirklichkeit unverhohlene Landnahme betreibt und keine Anzeichen erkennen lässt, sich je wieder zurückzuziehen.



Eigentlich, behauptet die russische Regierung, wolle sie die Unversehrtheit des syrischen Staatsgebiets garantieren – während sie die Rückkehr der Assad-Diktatur auch im Nordosten sicherstellt und gleichzeitig Ende Oktober im Kurort Sotschi der Türkei jene Landstriche zusprach, die deren Truppen zuvor erobert hatten.



Ja, und eigentlich hatte US-Präsident Donald Trump in einem Tweet am 7. Oktober den Abzug der etwa 2000 US-Soldaten aus Syriens Nordosten befohlen, deren Präsenz diesen letzten weitgehend unzerstörten Teil des Landes außerhalb von Assads Kontrolle friedlich gehalten hatte. Dies war nicht das intendierte Ziel der Intervention, aber ihr De-facto-Ergebnis gewesen – jenseits des im März zu Ende gegangenen Feldzugs, den IS zumindest als herrschende Macht über Land und Menschen zu zerschlagen.



Alle Seiten akzeptierten dort die USA als Schutzmacht der herrschenden Kurdenpartei: die Türken, Assads Regime, selbst die Russen. Westlich des Euphrats lag ihr Reich, östlich davon das der Amerikaner – eine Aufteilung wie aus den Überlieferungen des Great Game im 19. Jahrhundert. Aber es funktionierte. Bis Donald Trump nach mehrfachen Ankündigungen und Rückziehern befand, nun sei es dringend an der Zeit, dort abzuziehen. Oder, eher wahrscheinlich: Bis er eine innenpolitische Ablenkung vom aufziehenden Impeachment-Sturm wegen seines Erpressungsmanövers gegen den ukrainischen Präsidenten suchte.

Zehntausende Kurden rannten um ihr Leben

Die Folge war eine Kettenreaktion: Nur Tage nach der selbst fürs Pentagon überraschenden Entscheidung Trumps begann Ankaras „Operation Friedensquelle“, begann türkische Artillerie mit dem Beschuss grenznaher syrischer Städte und Dörfer, schickte die Armee ihre syrischen Hilfstruppen zum Angriff, bombardierte die türkische Luftwaffe kurdische Kämpfer und Zivilisten.



Aus den Städten Tell Abyad, Ras al-Ain und Dutzenden Dörfern rannten Zehntausende um ihr Leben. In erst zehn, bald 20, bis November über 40 Schulen in Hassaka, der nächsten Großstadt, strandeten sie mit dem, was sie am Leib trugen. Notdürftig medizinisch, mit Decken und Essen versorgt von der überforderten Stadtverwaltung sowie einigen Hilfsorganisationen.



„Wir dachten, die Welt werde uns diesmal helfen“, beginnt Alin Ahmed ihre Erzählung, die mit ihrer Tochter und zwei Enkeln geflohen ist: „Die Europäer würden uns Kurden verteidigen, wenn dieser Trump den Abzug seiner Soldaten befehle. Aber niemand hilft uns, wieder einmal. Was will die Türkei von uns? Haben wir sie angegriffen? Wir wollen doch einfach nur leben!“



Die Bäuerin lebte in einem Dorf nahe Ras al-Ain, wenige Hundert Meter von der türkischen Grenze entfernt. Angst hätten sie seit Tagen gehabt. Aber dann seien sie als Gruppe von Müttern zu den US-Soldaten in ihrer Nähe hingelaufen, schildert sie den letzten Tag vor dem Krieg, ihre Stimme nun bebend vor Wut: „Die Amerikaner hatten ein kleines Lager in Tell Arkam, sieben Kilometer entfernt. Wir Frauen sind da hin mit den Porträts unserer Märtyrer, die im Kampf gegen den IS gestorben sind. Wir haben laut gerufen, dass sie uns nicht im Stich lassen sollten! Unsere Männer, Söhne, Brüder seien doch auch für sie gestorben. Wir haben so lange vor dem Tor gestanden, bis sie herauskamen. Ihren Kommandeur mussten sie erst anrufen. Aber dann schickte der eine WhatsApp-Nachricht, die uns der Übersetzer vorgelesen hat: Die Amerikaner würden nicht abziehen! Sie würden zu unserer Sicherheit hierbleiben! Aber am nächsten Mittag waren sie weg. Und nachmittags kamen die türkischen Bomber.“



Zumindest zwei weitere Frauen aus Ras al-Ain bestätigen die Szene. Und es gab keine Fluchtbewegungen bis zum Moment des Angriffs, obwohl der türkische Staatspräsident Erdoğan keinen Zweifel an seinen Plänen gelassen hatte.

Sie sei nicht gut zu Fuß, fährt Alin Ahmed mit Tränen in den Augen fort, sie sei stundenlang durch die Steppe gelaufen, immer weiter aus Angst, doch noch getroffen zu werden. Mütter hätten ihre Kinder kaum noch tragen können, eine Hochschwangere sei im Dorf geblieben, niemand wisse, was aus ihr geworden ist. Durch Ras al-Ain fuhren todesmutige kurdische Kämpfer mit einem requirierten Reisebus im Slalom durch die Stadt, um alle einzusammeln, die kein Auto fanden, nicht laufen konnten, Alte, Kranke. Aber in ihr Dorf kam niemand.  Und nun? Sie wolle die Türken nicht. Sie wolle auch Assad nicht zurück, nicht wieder als Mensch zweiter Klasse behandelt werden. „Ardna“, unser Land, „wir wollen unser Land zurück, endlich in Frieden leben können, Ardna, Ardna“, Alin Ahmed wiederholt es wie eine Beschwörungformel, dass das Selbstverständliche ihnen doch zustehe.

Von allen im Stich gelassen

„Am Boden könnten wir sie aufhalten“, sagt in den Tagen danach Riad al-Draa, ein kurdischer Kommandeur der SDF. „Aber gegen die Jets sind wir machtlos. Wir haben keine eigenen und können sie auch nicht bekämpfen.“ Zornbebend schildert er, wie die Verhandlungen mit Moskau verliefen, wohin die Kurden sich um Hilfe gewandt hatten: „Wir hatten schon einen Plan ausgearbeitet, unter welchen Bedingungen wir mit Assad kooperieren würden. Aber jetzt haben diese arroganten Russen einfach nur gesagt: Unterwerft euch dem Regime, wenn ihr Schutz vor den Türken wollt!“



Und so geschah es. Zweimal binnen Wochen erst von den USA, dann von Russland im Stich gelassen, kapitulierte die kurdische Führung in der zweiten Oktoberhälfte und stimmte einer Rückkehr unter die Macht der Diktatur in Damaskus zu.



Sie wurden nicht einmal mehr gefragt, als die Präsidenten Erdoğan und Putin am 22. Oktober in Sotschi Nordsyrien unter sich aufteilten. Im Memorandum wurde festgehalten: Die Türkei bekommt ihre Beute. Der „etablierte Status quo“ der „Operation Friedensquelle“ werde „beibehalten“.



In jenen Landstrichen, die das türkische Militär bis dato erobert hat, will Erdoğan demnächst syrischen Flüchtlingen die „Rückkehr“ ermöglichen. So zynisch wie das Label „Friedensquelle“ für die wahllosen Bombardements der Bevölkerung ist, so schamlos ist der humanitäre Anstrich der Rückkehrhilfe für den Plan der türkischen Regierung: Bis zu zwei Millionen Flüchtlinge aus Homs, Aleppo, allen Kampfzonen des Landes sollen zurück nach Syrien deportiert werden – zuvorderst in jenen Landstrich, aus dem zuvor kaum jemand geflohen war, weil es dort nie Kämpfe gegeben hatte.

Eine Arena der Unberechenbarkeit

„Rojava“, wie die herrschende Kurdenpartei Nordostsyrien nennt, war kein wirklich demokratisch regiertes Gebilde. Die dort unter vielen Abkürzungen herrschende Partei ist letztlich der syrische Ableger der in der Türkei vor mehr als drei Jahrzehnten entstandenen PKK unter ihrem kulthaft verehrten Gründer Abdullah Öcalan. Doch es war ein ruhiger Teil Syriens, in den sich auch viele Menschen aus anderen Gegenden geflüchtet hatten, die hier wenigstens keine Angst vor Gefangennahme, Folter und Mord haben mussten.



Der amerikanische Abzug und seine Folgen haben ihn in eine Arena der Unberechenbarkeit verwandelt, den langfristig Assads Truppen und Geheimdienste wieder unter ihre Herrschaft bringen wollen.

Doch anstatt diesen Status quo zu schützen, anstatt die von den USA zwar nicht geplante, aber geschaffene Chance zu nutzen, um eine dauerhafte Alternative zur Diktatur entstehen zu lassen, ließ Europa Zeit verstreichen. Immer drängender seit 2018 hatten die USA, aber auch Frankreich darum gebeten, dass Deutschland sich an der Anti-IS-Mission in Nordostsyrien mit Truppen beteiligen möge. Frankreich schickte etwa 200 Spezialkräfte, eher eine politische als militärische Größe, aber immerhin. Es hätte die Möglichkeit bestanden, ungefähr ein Drittel des Landes zur Ruhe kommen zu lassen, es unter amerikanischer Schirmherrschaft vor Luftangriffen zu schützen und all das wieder aufzubauen, was vom Anti-IS-Kampf mit eingeäschert worden war. Vor allem die Stadt Rakka.



Aber nicht einmal daran wollte sich die Bundesregierung mit mehr als essenzieller Nothilfe beteiligen: Das kurdische Gebiet sei nicht wirklich demokratisch regiert, das Mutterschiff PKK der herrschenden Partei sei als Terrororganisation in Deutschland gelistet. Das ist zwar korrekt, aber politisch dennoch eine Fehlentscheidung. Deutschlands Außenminister haben alle Gräuel in Syrien seit 2011 stets aufs Schärfste verurteilt, haben ein Ende der tausendfachen Morde an Zivilisten gefordert, haben wieder und wieder gefordert, dass es keine militärische Lösung geben dürfe.



Und sie haben doch mit ihrer folgenden Tatenlosigkeit genau dies klargemacht: dass es nichts anderes als eine militärische Lösung geben wird, weil Europa (und auch die USA) weder Assad noch den Iran, Russland oder die Türkei an deren Exekutierung hindern werden.



Dass selbst ein Ende der Kampfhandlungen in Syrien keine Lösung bedeuten wird, sondern nur Hass für Generationen hervorbringen wird, Verwüstung und Warten auf Rache, ist nicht Teil ihrer Kalkulation – aber das heute schon spürbare Resultat des türkischen Einmarschs, das arabische Ex-Rebellen und kurdische Kämpfer gegeneinander aufhetzt, historische Ängste weckt. Als sei es eine historische Norm, aufeinander zu schießen.



70 Jahre lang sei es hier ruhig gewesen, sagt Georges Haido, ein Bauer aus der Gemeinde der assyrischen Christen. Die felsigen Äcker rund um sein Dorf Pirrik vier Kilometer südlich der türkischen Grenze sehen aus, als ob sich seit biblischen Zeiten nicht viel verändert habe. Doch dann genügte eine einzige türkische Granate, abgefeuert Mitte Oktober, die 200 Meter neben Haidos Haus genau dort einschlug, wo zwei Schäfer mit ihrer Herde standen. Ein Granatsplitter bohrte sich in den Kopf des 28-jährigen Salah Said, er war sofort tot. Sein Freund Dani Hana überlebte schwer verletzt.  Salah sei ein ruhiger Mensch gewesen, erzählt sein Onkel auf der Trauerfeier, wo Dutzende dem vor Trauer verstummten Vater kondolieren, Kaffee aus winzigen Bechern schlürfen und immerfort rauchen: „Er mochte es, mit den Schafen draußen zu sein. Vor einer Woche hatten wir eine Frau für ihn gefunden, waren so froh. Und dann das. Wir wollten es nicht glauben, eine Granate aus der Türkei, die einen Schäfer tötet. Hätten sie auf ihn gezielt, sie hätten ihn doch nie getroffen.“

Altes Leid ist nicht vergessen

Auch die beiden Alten aus Pirrik saßen vor ihrem Haus, als die Granate einschlug, die Wucht noch auf ihrer Terrasse zu spüren war. „Aber wir werden nicht vor den Türken fliehen! Nicht noch einmal“, sagt Haido, 61, und erzählt, wie seine Familie Anfang der fünfziger Jahre nach Pirrik kam: geflohen aus der Türkei, wo seine Großeltern nur knapp den Massakern der Jungtürken an den assyrischen Christen während des Ersten Weltkriegs entronnen waren. Das Leid ist nicht vergessen worden, auch über Generationen nicht. So, wie das neue Leid dieser Tage nicht vergessen werden wird.



Es ist ein friedlicher Nachmittag mitten im Krieg, nur das Zwitschern von Vögeln ist zu hören, in der Ferne kräht ein Hahn, aber Haido und sein gleichaltriger Neffe Suleyman sind die letzten Menschen im Dorf. Die Familien seien alle geflohen, weiter fort von der Grenze. Manche kämen ab und zu tagsüber, um die Schafe des Dorfes zu hüten, Gemüse zu ernten, nach den Enten zu sehen. Aber vor Sonnenuntergang gingen alle wieder in die nahe Stadt Derek. Außerdem sei dieser Krieg so verworren mit Syrern, die im Auftrag der Türken auf andere Syrer schießen, dass in der Dunkelheit im Zweifelsfall das Feuer auf jeden Fremden eröffnet wird.



„Die türkische Armee kann jederzeit kommen“, räumt er ein: „Weit haben sie es ja nicht. Aber wir werden bleiben. Und wenn sie uns umbringen – wir werden nicht fliehen. Nicht nochmal.“

Christoph Reuter ist Reporter des Spiegel und seit 2011 knapp 30 Mal in Syrien unterwegs gewesen, zuletzt immer wieder im Nordosten des Landes.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 91-95

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