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01. Nov. 2018

Krieg ohne Sieger

Das große Töten ist vorbei, jede Konfliktpartei nimmt sich ihren Teil

Alle erwarteten eine verlustreiche Schlacht um Idlib. Doch sie blieb aus. Bedeutet das nun das Ende des Krieges in Syrien? Assad behält mit Unterstützung Russlands und des Iran die Macht, die Kurden kontrollieren den Nordosten, die Türkei errichtet ein Protektorat. Eine echte Lösung ist nicht in Sicht, nur eine brüchige Balance der Kräfte.

Keiner hat das bekommen, was er erwartete. Auf dieses zugegebenermaßen ungewöhnliche Zwischenfazit lässt sich die Lage Syriens derzeit bringen. Die Bündelung soll nicht das Grauen und die Hoffnungslosigkeit in all jenen Gegenden kleinreden, deren Bewohner gegen die Diktatur aufgestanden waren und sieben Jahre vergebens protestiert, gekämpft und auch dann gelitten haben, wenn sie nur am falschen Ort wohnen blieben: die Bewohner der Ghouta, der nordöstlichen Vorstädte von Damaskus, von Deraa im Süden, Ost-Aleppo im Norden.

Doch auch jene Fraktionen und Regierungen, die sich zu den Siegern in diesem soghaften Krieg zählen, der nach und nach andere Staaten hin­eingezogen und neue Kriege hervorgebracht hat, konnten nicht vollständig umsetzen, was sie vorhatten. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdo­gan wollte Machthaber Assad stürzen, was ihm aber nicht gelang. Die Kurden wollten den ganzen Norden erobern, was ihnen nicht gelang. Baschar al-Assad hat trotz immenser Militärhilfe aus dem Iran und Russland nicht das ganze Land zurückerobern können: Mit der Nordprovinz Idlib, dem türkischen Protektorat in Nord-Aleppo und dem kurdischen Nordosten bleiben etwa 40 Prozent der Fläche und ein knappes Drittel der derzeit in Syrien lebenden Syrer außerhalb seiner Kontrolle. Und die vorläufig Davongekommenen in diesen Landesteilen, all jene Menschen, die in einem Syrien ohne Assads Herrschaft leben wollten, leben nun zwar außerhalb von Assads Macht – aber dafür unter einer mehr oder weniger repressiven Herrschaft der türkischen Armee und Geheimdienste in Idlib beziehungsweise unter einer von den Vereinigten Staaten garantierten Herrschaft der YPG in Nordostsyrien.

Russland hat noch am ehesten in Syrien bekommen, was es wollte, was aber mit dem Land selbst am wenigsten zu tun hat: die Rückkehr als ­politische Großmacht auf die Weltbühne. Nichts geht ohne Moskau im Nahen Osten. Die Entscheidungen zur Zukunft Syriens werden in Kasachstans Hauptstadt Astana verhandelt, nicht im Rahmen der Vereinten Nationen in Genf oder anderswo. Präsident Wladimir Putin wird hofiert in Saudi-Arabien, hat die Türkei in ungekannte Abhängigkeit gebracht und betreibt mit großem Eifer die Spaltung der NATO.

Bluten sollten andere

Nichts geht also ohne Russland. Aber ohne den Iran geht eben auch nichts, wenn es sich um die Bodenkämpfe in Syrien handelt. Mit der Luftwaffe allein, auch wenn sie noch so viele Krankenhäuser und Wohnviertel einäschert, kann Russland keine großen Gebiete erobern. Und im großen Maßstab eigene Bodentruppen zu schicken, hat Putins Kabinett seit Beginn seiner Intervention 2015 stets vermieden. Heimkehrende Leichen­säcke und verzweifelte, demonstrierende Mütter haben schon die Tschetschenien-Kriege und die sowjetische Besatzung Afghanistans extrem unpopulär werden lassen.

Bluten sollten andere. Wer das außer der ausgedünnten syrischen Armee in den vergangenen Jahren vor allem tat, war jenes mit Geld und Glauben zusammengehaltene Milizen-Konglomerat aus afghanischen, pakistanischen, irakischen und libanesischen Kämpfern. Dieses Konglo­merat wurde von den Pasdaran, den iranischen „Revolutionswächtern“, seit Langem aufgebaut: Was in den 1980er Jahren mit der Hisbollah im Libanon begann, ist schon seit Beginn der 2000er Jahre in Afghanistan und vor allem im Irak ­ausgeweitet ­worden – gewissermaßen der erste globale ­schiitische Dschihad.

In Syrien wendete er das militärische Blatt, bewahrte Assad vor dem Sturz und machte ihn ab 2016 zum Sieger der Rückeroberung. Erst nahmen die Truppen Ost-­Aleppo für Assad ein, wo es einen „afghanischen Sektor“ der Front gab und mehrere irakische. Es folgten Anfang 2018 die Ghouta, danach die letzte Rebellenenklave in der Provinz Homs und im Juli schließlich die Südprovinz Deraa, wo der Aufstand gegen Assad im Frühjahr 2011 seinen Anfang genommen hatte.

Die meisten Beobachter erwarteten dann, dass die russischen Jets, die multinationalen schiitischen Bodentruppen und Reste der syrischen Armee zum Schluss Idlib einnehmen würden: jene mit derzeit 2,9 Millionen Menschen dichtbevölkerte, fruchtbare Nordprovinz, in die seit 2016 die „Unversöhnbaren“ aus den zurückeroberten Gegenden verbracht worden waren – mehr als 100 000 allein in diesem Jahr.

Es war ein zynisches Manöver der vorläufigen Milde: Irgendwann endeten in Aleppo, der Ghouta und Deraa die Kämpfe, starben nicht noch mehr Menschen, sondern bestiegen Rebellen, Zivilaktivisten, Ärzte und Not­helfer zumeist grüne Busse, die sie nach Idlib evakuierten bzw. deportierten. Dies dämpfte auch die ohnehin stets rasch verpuffende Empörung in Europa und den Vereinigten Staaten.

Nur: Von Idlib aus hätte es keine Busse nach Idlib mehr gegeben. Die ganze Provinz gilt den Herrschenden in Damaskus als „unversöhnbar“, spätestens nachdem die einzigen ­beiden schiitischen Dörfer in der ansonsten sunnitischen Provinz Anfang 2018 geräumt wurden, im Gegenzug für die Freilassung von Gefangenen.

Alle gingen davon aus, dass Idlib das große Schlachten werden würde. Gewiss würde sich der Westen empören, aber danach wäre es ja vorbei. Die YPG im Nord­osten hisste bereits wieder Syriens alte Flagge mit den zwei Sternen und verhandelte über Konzessionen im festen Glauben, dass die US-Truppen binnen Monaten abzögen. Und Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte in seinen Worten, was Idlib erwarte: „Dieser eiternde Abszess muss liquidiert werden.“

Doch dann kamen zwei Kehrtwenden, die mittelbar miteinander zu tun haben: Erst verkündete Washingtons neuer Syrien-Beauftragter James Jeffrey Anfang September: „Wir haben keine Eile mehr.“ Der von US-Präsident Donald Trump mehrfach angekündigte Abzug der 2200 amerikanischen Special Forces aus dem kurdisch kontrollierten Nordosten war stillschweigend einkassiert worden. Die Truppen, einst entsandt zum Anti-IS-Kampf, sollen nun den Iran in Schach halten beziehungsweise dessen Abzug aus Syrien vorantreiben.

Und dann sagte die iranische Pasdaran-­Führung für Idlib einfach ab. In mehreren Verhandlungsrunden zwischen den Astana-Mächten Russland, Iran und Türkei hätten Teherans Emissäre immer wieder vorgebracht, dass sie für die absehbar verlustreiche Offensive auf Idlib nicht die Bodentruppen stellen würden. So gaben es mehrere Zeugen der Gespräche selbst und der Nachverhandlungen in Moskau und Damaskus wieder. Zu teuer, zu blutig, zu viele Probleme mit Trump, dem Embargo, mit der Wirtschaft daheim sowie nationalistischen Schiiten im Südirak. Und außerdem: zu weit weg von jenen Städten und Gebieten, die dem Iran wichtig waren. Oder wie es ein erleichterter Bewohner Idlibs unter Verweis auf den wichtigsten schiitischen Schrein in Damaskus sagte: „Zum Glück haben wir hier kein Saida Zaineb!“

Sandkasten-Großmachtspläne

Aber ohne die von den Pasdaran trainierten und an sehr kurzer Leine gehaltenen Milizverbände, die in den Jahren zuvor wie Bausteine in immer neuen Zusammensetzungen an die Fronten geschickt wurden – Afghanen unter libanesischem Kommando, Iraker unter iranischem –, musste die Schlacht abgesagt werden. Das russische Militär ist zwar dabei, eine neue, stark motorisierte syrische Division auszubilden. Doch auch deren mittlere Führung stammt aus Rängen der „Nationalen Verteidigungskräfte“, jenen Pro-Assad-Milizen, die eher mit Erpressen, Plündern und Ausrauben an Checkpoints beschäftigt sind als mit militärischen Operationen ohne zusätzliche Einkommensquellen.

Das russische Vertrauen in die Fähigkeiten von Assads Streitkräften ist überschaubar. Am Mittag des 17. Septembers verkündete Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Absage der Idlib-Offensive. Als nur Stunden später die syrische Luftabwehr ein russisches Aufklärungsflugzeug mit 15 Mann Besatzung abschoss beim Versuch, angreifende israelische Jets zu treffen, wurden die Syrer beim anschließenden wütenden Wortgefecht zwischen Russland und Israel nicht einmal erwähnt.

Die Türkei hatte sich mit vielen Mitteln gegen die drohende Idlib-­Offensive gestemmt: Angriffen von Assads Truppen auf Orte im Süden folgten Gegenattacken von Rebellen, die nach eigenen Aussagen vom türkischen Militär gerade erst mit Waffen und Munition versorgt worden waren. „Astana“, das Verhandlungsformat, sei tot im Fall der Offensive, so die Drohung Erdogans beim letzten Treffen an die Adresse Teherans. Ankara trieb auch die Furcht um vor Hunderttausenden, die an die abgeriegelte türkische Grenze geströmt wären, ansonsten den ziemlich sicheren Tod im Rücken.

Für Erdogan und ­seine neo-osmanische Entourage aus Think­tanks, Politikern und Militärs spielen ­Idlib und seine sunnitischen Muslime dort eine entscheidende Rolle in den Sandkasten-Großmachtsplänen: als Bollwerk gegen die YPG, als Erweiterung des türkischen Protektorats, das völkerrechtswidrig, aber unbehelligt seit zwei Jahren auf etwa 4000 Quadratkilometern im Norden der Provinz Idlib ausgebaut wird. Die Türkei errichtet dort Krankenhäuser, Polizeistationen und Schulen; in mehreren Orten hat die Staatspost PTT ihre Filialen eröffnet, die unter Leitung der nächstgelegenen türkischen Provinzhauptstadt stehen. Geldüberweisungen nach Azaz, Dscharabulus oder Al-Bab sind verfahrenstechnisch zu einer innertürkischen Angelegenheit geworden. Die Türken sind gekommen, um zu bleiben.

Dass sie bereits mit eigenen Truppen auch in Idlib stehen und eine Reihe von zwölf Basen bis an den Nord­rand der Provinz Hama errichtet haben, stärkte ihre Verhandlungsposition. Die U-förmige Linie der Basen, denen auch schon seit längerer Zeit russische Stellungen gegenüberstehen, wird nun die 15 bis 20 Kilometer breite, demilitarisierte Zone bilden. Aus dieser müssen sich die Dschihadisten von Hayat Tahrir al-Scham, der ehemaligen Nusra-Front, ins Innere Idlibs zurückziehen, und auch die anderen Rebellen müssen ihre schweren Waffen dorthin verlegen. Die türkische Armee hat den Rebellenkommandeuren bereits versichert, ihrerseits in der Zone aufzurüsten, um die Balance zu halten.

So dringend Moskau den Einmarsch in Idlib wollte und Ankara ihn zu verhindern suchte: dass weiter östlich die Amerikaner bleiben und damit auch das riesige, vor allem von Kurden bewohnte Gebiet unter Herrschaft der YPG, dem syrischen Ableger der PKK, hat Russland und die Türkei wieder zusammenrücken lassen. Erdogan hat den längst beigelegt geglaubten Konflikt mit der PKK sehenden Auges seit Jahren eskalieren lassen, um mit einem innenpolitischen Feind seine Gefolgschaft zu disziplinieren. Und man sollte sich nicht täuschen: Der türkische Einmarsch in Afrin Anfang 2018 war selbst bei der säkularen Opposition in der Türkei überaus populär, nach dem Sieg jedenfalls.

Dass die Amerikaner nun nicht abziehen, begräbt Erdogans Hoffnung auf einen baldigen Untergang des kurdischen Erzfeinds, der unter wechselnden Akronymen agiert. Die PKK, in den achtziger Jahren als türkische Separatistengruppe entstanden, gründete später die YPG als syrischen Ableger und stellte 2015 mit amerikanischer Hilfe die „Syrian Democratic Forces“ auf. Seit 2011 hat die kurdische Miliz ein taktisch brillantes Spiel betrieben, um sich stets alle Optionen offenzuhalten und sich sowohl Russland als auch den USA als Bündnispartner zu empfehlen. Nur die angepeilte Beherrschung ganz Nordsyriens – 2015 mit militärischer Gewalt und russischer Luftunterstützung auch gegen Gebiete der Rebellen im Norden der Provinz Aleppo vorangetrieben – hat die kurdische Kadertruppe nicht erreicht. Selbst Afrin, die kurdische Enklave im Nordwesten, wurde von türkischen Truppen und syrischen Rebellengruppen erobert, nachdem Russland die YPG fallen gelassen hatte.

Brüchige Balance der Kräfte

Das jahrelange Mantra deutscher Außenminister, in Syrien könne und dürfe es keine militärische Lösung geben, war nie mehr als ein in humanitärer Vernunft verbrämtes Wegducken. Spätestens Ende 2011 war klar, dass Assads Machtelite nicht verhandeln will und irgendwann auch nicht mehr verhandeln kann, wenn sie gleichzeitig ihre Allmacht über das Land behalten will. Der eingeschlagene Pfad größtmöglicher Grausamkeit, der Zerstörung ganzer Städte, des Einsatzes chemischer Waffen, der gezielten Zerstörung von Krankenhäusern und Bäckereien produzierte beabsichtigte, bodenlose Angst. Und er verbaute die Aussicht auf eine echte nationale Versöhnung.

Doch so wenig Assad die innere Macht mit seinem Volk teilen wollte, so sehr musste er dafür die militärische Hoheit mit Russland und dem Iran teilen. Er konnte nur zusehen, wie sich die USA und vor allem Frankreich im Rahmen des ­Anti-IS-Feldzugs im Nord­osten einrichteten, wie die Türkei im Norden einmarschierte.

Insofern hat es nun nicht eine militärische Lösung gegeben – sondern gleich mehrere, denn über die wechselnden Besitzverhältnisse von Teilen Syriens entschieden stets Gewalt oder die Androhung ihres Einsatzes. Aber es sind allesamt keine Lösungen, sondern temporäre Verhältnisse, die nur eine brüchige Balance der Kräfte bilden. Die meisten Akteure konnten einen Teil ihrer Ziele durchsetzen – aber niemand bekam alles. Das große Töten ist vorläufig vorbei, der September war der Monat der geringsten Opferzahlen seit Anfang 2012. Aber gelöst ist nichts, das Land liegt am Boden, der Militär- und Geheimdienstapparat des Regimes ist noch brutaler und gieriger als 2011 – als der Widerstand gegen ihn einer der Hauptgründe der Proteste war.

Die Bilanz der Bewohner dieses Zwischenzustands in den Provinzen von Idlib, Aleppo und Raqqa, nun zumindest bis auf Weiteres nicht mehr unter Assads Herrschaft, ist kurioser­weise teilidentisch: „Immerhin leben wir!“, sagen viele, „es gibt keine Luftangriffe mehr, wir brauchen bei Bombenalarm nicht mehr in den Keller, bei Gasalarm nicht mehr aufs Dach zu laufen.“ Dass sie nun Türkisch (Idlib, Aleppo) oder Kurdisch (Raqqa) lernen müssten, sei zwar nie ihr Plan gewesen, aber besser als der Tod.

Christoph Reuter ist Reporter des Spiegel und hat seit 2011 23 Syrien-Reisen unternommen. Noch nie hat er so viel Propaganda und Fake News (zumeist aus russischen Quellen) erlebt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 48-53

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