Mut der Verzweifelten
Es gärt erneut in der arabischen Welt. Doch während 2011 Enthusiasmus herrschte, dominiert jetzt die Skepsis – zu eindeutig das Scheitern damals, zu überwältigend die Probleme heute.
Wieder begehren die Völker auf. Acht Jahre nach dem Arabischen Frühling 2011 erlebt der Nahe Osten in diesen Monaten eine zweite Welle des Aufruhrs. „Wir wollen in Würde leben“, skandieren erneut Abermillionen frustrierter Bürger und knüpfen damit an die ersten Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen, dem Jemen und Syrien an.
Diesmal allerdings stehen arabische Nationen im Zentrum des Geschehens, die sich damals abseits hielten, weil sie gelähmt waren – durch furchtbare Erinnerungen an Kriege, Terror, Massaker und Völkermorde auf eigenem Boden. Heute sind die damaligen Vorreiter Libyen, Jemen und Syrien in Bürgerkriegen versunken, während das postrevolutionäre Ägypten sich in einen der brutalsten Polizeistaaten der Welt verwandelt hat. 2019 sind es die bisher zögernden Völker in Algerien, im Irak, Libanon und Sudan, die auf die Barrikaden gehen.
Denn nichts ist besser geworden in der arabischen Welt – ganz im Gegenteil. Die Menschen quer durch die gesamte Region haben Diktatur, Dauerelend, Inkompetenz und Selbstbereicherung ihrer korrupten Eliten satt. Sie fordern einen radikalen Schnitt, einen fundamentalen Neuanfang. Und sie wollen endlich mitbestimmen, wohin ihre Nationen steuern. „Algerien, Irak, Libanon – hoffentlich habt ihr Erfolg und zieht auch die anderen nahöstlichen Nationen aus ihrer Misere“, applaudierten Aktivisten auf Twitter.
„Siegen oder wie Ägypten werden“
„Die erste Welle des sogenannten Arabischen Frühlings richtete sich gegen Diktatoren, die zweite Welle, die wir jetzt erleben, geht gegen das gesamte System der Regierungsführung“, kommentierte der bekannte ägyptische Blogger „The Big Pharaoh“. Und in der Tat, 2019 ist nicht mehr 2011. Beide Seiten – Regime und Volk – haben dazugelernt. Die Regime wissen seit Syrien, Libyen und dem Jemen: Wer sich dem überkochenden Volkszorn mit nackter Waffengewalt entgegenstellt, legt am Ende seine ganze Nation in Schutt und Asche. Der Bevölkerung wiederum ist klar geworden: Wenn man nur den Despoten an der Spitze davonjagt und die restliche Garde aus Regimepolitikern, Bürokraten, Generälen und Wirtschaftsoligarchen unangetastet lässt, sind die alten Verhältnisse schnell wieder zurück – im Falle Ägyptens härter und brutaler als je zuvor. „Entweder wir siegen oder wir werden wie Ägypten“, skandierten dann auch die Demonstrantinnen und Demonstranten im Sudan, bis es ihnen nach monatelangem Tauziehen auf den Straßen gelang, eine fragile Machtteilung zwischen dem bisher omnipotenten Militär und einer neuen zivilen Führung durchzusetzen.
Obendrein verblasst für viele junge Araber der Traum von einer Zukunft in Europa oder Amerika zusehends, weil die Aversionen in den westlichen Ländern gegen Zuwanderer aus dem Nahen Osten immer heftiger werden. Auch darum fordert der arabische Nachwuchs drängender denn je von seinen Verantwortlichen, endlich für eine Staatsordnung zu sorgen, die allen Bürgern ein würdiges Leben ermöglicht. So verhinderte etwa in Algerien bisher eine Handvoll mafiöser Importbarone, dass eine nennenswerte heimische Industrieproduktion entsteht, die den jungen Menschen Perspektiven und Arbeit geben könnte. Stattdessen plünderten Regimegünstlinge die ölgefüllte Staatskasse und schotteten ihr Land nach außen ab, um sich Kritik und Geschäftskonkurrenz vom Hals zu halten.
Alte Seilschaften
Wie dornig und langwierig allerdings ein solch tiefgreifender Systemwechsel ist, lehrt ausgerechnet Algeriens Nachbar Tunesien, der einzige Überlebende der Arabellion 2011. Alles, was man in der kleinen nordafrikanischen Nation bisher erreicht hat, ist ein demokratisch-autoritäres Hybridsystem. Auf der einen Seite gibt es freie Wahlen, offene Diskussionen und ein reges Treiben der Zivilgesellschaft. Auf der anderen Seite ziehen die alten Seilschaften weiterhin unbehelligt ihre Strippen. Sie dominieren die Medien, verteidigen ihre wirtschaftlichen Privilegien und wollen die Staatsverbrechen der Diktatur möglichst unter den Teppich kehren.
Ansonsten schreitet die Erosion des arabischen Staatengefüges in besorgniserregendem Maße fort. Das schürt den Verdacht, dass der Region neben kompetenten Regierungen auch fundamentale Voraussetzungen für offene und partizipatorische Gesellschaften fehlen. Deren Lebenskerne sind eine tatkräftige Bürgergesellschaft, aktive politische Parteien, starke Gewerkschaften, die Fähigkeit zu Toleranz und Kompromissen, ein effizientes Bildungssystem sowie ein Sozialbewusstsein, das nicht ein Drittel oder gar die Hälfte der Bevölkerung einfach ihrem Elend überlässt.
Hinzu kommen tief eingeschliffene Defizite in der politischen Kultur. Politische Ämter werden in erster Linie als Instrumente zur privaten Bereicherung und Plünderung der öffentlichen Ressourcen verstanden. Eine Unterscheidung zwischen „privat“ und „öffentlich“ zu machen, gilt ebenso als wolkiger Idealismus wie der Appell an das Verantwortungsgefühl für das öffentliche Wohl. Die Steuermoral vor allem bei den Reichen ist obszön niedrig. Die meisten Potentaten sind unbeirrbar in ihrem Autoritarismus und süchtig nach billigen Verschwörungstheorien. Machtgebrauch begreifen sie als Nullsummenspiel und damit als Freibrief für schrankenlose Repressionen. Mahnungen zu Mäßigung, Deeskalation und politischer Integration werden als naive Moralpredigten belächelt.
Sämtliche politischen Räume, die eine Alternative zur herrschenden Staatsdoktrin hervorbringen könnten, werden von den Sicherheitsapparaten systematisch unterdrückt, damit sich dort nicht etwa Politiker entwickeln, die den Regierenden gefährlich werden könnten. Und so ist für den libanesischen Publizisten Rami G. Khouri die eigentliche Tragödie „die korrupte und amateurhafte Staatlichkeit“ quer durch die arabische Welt. Er spricht von dem Fluch der seit den 1970er Jahren etablierten arabischen Sicherheitsstaaten, die ihre Bürger wie Kinder behandelten und sie vor allem Gehorsam und Passivität lehrten.
Zu den Folgen dieses Fluchs gehören auch erhebliche Defizite in Sachen Bildung. Die meisten jungen Leute im Nahen Osten sind Produkte staatlich-autoritärer Massenerziehung, schlecht bis mäßig qualifiziert und mit geringen berufsrelevanten Fachkenntnissen ausgestattet. Bei den Frauenrechten und der Pressefreiheit rangieren nahezu alle arabischen Nationen auf den weltweit hintersten Plätzen. Jedes Jahr spucken ihre staatlichen Universitäten zehntausende Akademiker aus, die bestenfalls Grundkenntnisse ihres Faches beherrschen und für die es nirgendwo Arbeit gibt.
Umgekehrt herrscht ein eklatanter Mangel an qualifizierten Handwerkern und Facharbeitern, weil sich hartnäckig die Vorstellung hält, diese Berufe seien sozial minderwertig und nicht erstrebenswert.
Die Vereinten Nationen schätzen, dass mindestens 100 der 360 Millionen Araber Analphabeten sind. Selbst in dem kleinen Tunesien kann ein Viertel aller Arbeitskräfte nicht lesen und schreiben. Die eigene Wissensproduktion ist ebenso gering wie der Wissenstransfer durch Übersetzung ausländischer Bücher.
Kulturmetropole als Kriegsschauplatz
Die gesamte Region hinkt hinterher. Nach einer Studie der Frankfurter Buchmesse aus dem Jahr 2014 produzieren die 22 arabischen Nationen mit ihren 360 Millionen Einwohnern jährlich etwa 15 000 bis 18 000 Bücher, in der Regel in Auflagen zwischen 1000 und 3000 Exemplaren. Das entspricht in Europa der Jahresproduktion von Rumänien mit 20 Millionen Einwohnern oder der Ukraine mit 45 Millionen Einwohnern. Allein der Verlag Penguin Random House bringt jedes Jahr mehr neue Titel heraus als die gesamte arabische Welt. Israel mit seinen acht Millionen Bürgern produziert die Hälfte des gesamtarabischen Outputs.
Kein Wunder, dass der arabische Nahe Osten zu den leseschwächsten Regionen weltweit gehört. „Kairo schreibt, Beirut publiziert und Bagdad liest“, lautete einst ein orientalisches Bonmot. Heute sind sämtliche traditionellen Kulturmetropolen Krisen- oder Kriegsschauplätze: Damaskus und Aleppo, Kairo und Beirut, Bagdad und Mosul.
Entsprechend groß sind die Fragezeichen hinter den fundamentalen Forderungen der jüngsten Massenbewegungen. Während 2011 der Enthusiasmus der ersten Arabellion noch den halben Globus in seinen Bann zog, dominieren diesmal Skepsis und Zurückhaltung – zu eindeutig das katastrophale Scheitern von damals, zu überwältigend die Probleme von heute. Die Korruption vergiftet sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Machtmissbrauch, mangelnde Arbeitsmoral und Bildungsdefizite haben sich über Jahrzehnte in die Gesellschaften eingefressen, genauso wie die irrwitzig aufgeblähten öffentlichen Dienste. Wer gegen solche Missstände ankämpfen will, muss es mit einer Übermacht von alten Seilschaften aus Politikern, Wirtschaftsclans, Generälen und Staatsbediensteten aufnehmen. Diese verteidigen ihre lukrativen Privilegien zäh und versuchen, die Protestierenden einzuschüchtern, ihren Elan ins Leere laufen zu lassen und sie zu zermürben.
Den längsten Atem des zivilen Aufbegehrens zeigen bisher die Algerier, die Anfang Dezember bei #Vendredi42 angekommen waren – dem Freitag Nummer 42 (= 6. Dezember 2019). „Wir hören nicht auf“, skandieren die Demonstranten seit Beginn ihrer Massenkundgebungen am 22. Februar 2019. „Diebe“, „Verräter“ und „Haut ab“ hallt es Woche für Woche durch die Straßenschluchten von Algier, Oran, Constantine, Setif oder Annaba. Und trotzdem hat sich in den vergangenen neun Monaten politisch praktisch nichts bewegt. Die Bevölkerung will sich dem Diktat von Armeechef Ahmed Gaid Salah nicht beugen, der am 12. Dezember einen neuen, möglichst gefügigen Präsidenten wählen lassen will. Stattdessen pochen die Bürger auf eine demokratische Versammlung, die zunächst das korrupte Regierungssystem von Grund auf umkrempeln soll. Dann erst wollen sie einen Nachfolger für den 82-jährigen Abdelaziz Bouteflika bestimmen, den sie im April zum Rücktritt zwangen.
Die Regimekaste dagegen, die Algerien seit 1962 in Grund und Boden gewirtschaftet hat, agiert weiter, als hätte es die Protest-Freitage nie gegeben. Fünf alte Kader ließen sich als Kandidaten nominieren, auch wenn es derzeit kaum einer von ihnen wagt, in der Öffentlichkeit aufzutreten und um Stimmen zu werben. „Keine Wahlen in diesem Jahr“, skandieren die Massen unverdrossen und behängen die offiziellen Plakatwände mit vollen Mülltüten. Und so droht dem Land ein totaler Wahlboykott und damit ein neuer Staatschef, der gar keine politische Legitimität mehr besitzt.
Am Rande des Bankrotts
Ähnlich festgefahren ist die Lage auch im Irak und im Libanon. Beide Völker verlangen den Abtritt der gesamten herrschenden Klasse. „Alle heißt alle“, rufen die Menschen in Beirut, was erstmals auch auf den Machtanspruch der proiranischen Hisbollah zielt, der bisher als Tabu galt. Der Libanon steht am Rande des Bankrotts. Die Demonstranten pochen auf ein Ende des konfessionellen Proporz- und Patronagesystems, nach dem bisher alle Posten, angefangen von den wichtigsten Staatsämtern bis herunter zu einfachen Verwaltungsstellen, verteilt wurden.
„Wir stecken in einer Sackgasse“, umschrieb Premier Saad Hariri die Ratlosigkeit der Führungskaste, bevor er zurücktrat. Sein Gegenspieler Hassan Nasrallah reagierte dünnhäutig und nervös. In einer Fernsehrede beschwor der Hisbollah-Chef die Gefahr eines Bürgerkriegs und schickte Horden schwarz gekleideter Schläger los, die das friedliche Protestcamp im Zentrum Beiruts in Fetzen rissen. „Das iranische Modell in Aktion“, twitterte ein libanesischer Augenzeuge sarkastisch.
Der Irak erlebt den größten Aufruhr in der Post-Saddam-Epoche, getragen vor allem von jungen Leuten, von denen ein Drittel arbeitslos ist. Anders als in Algerien und Libanon antwortete die Staatsmacht sofort mit Scharfschützen und Ausgangssperren. 15 000 Demonstranten wurden bisher verletzt, mehr als 420 verloren ihr Leben, die meisten erschossen von vermummten Killern auf Hausdächern, die die Bevölkerung als irantreue Milizionäre verdächtigt. Empörte Iraker verbrannten iranische Flaggen und forderten, Teheran solle aufhören, sich in ihrer Heimat einzumischen. Videos kursierten, auf denen Plakate des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei mit Schuhen traktiert wurden. Andere durchkreuzten mit roten Balken das Gesicht des Auslandskommandeurs der Revolutionären Garden, Qassim Suleimani, der sich oft in Bagdad aufhält. In Najaf und in Kerbala, dem Gründungsort des schiitischen Islam, gingen die Konsulate der Islamischen Republik, die sich als globale Schutzmacht aller Schiiten inszeniert, in Flammen auf.
Noch behaupten sich die irakischen Demonstranten mit ihren Sit-ins in zahlreichen Städten gegen den bewaffneten Ansturm der Sicherheitskräfte, auch weil ihnen der höchste Kleriker des Landes, der 89-jährige Großajatollah Ali Sistani, in seinen Freitagspredigten den Rücken stärkt. „Wir wollen Arbeit, Strom und sauberes Wasser“, fordert die aufgebrachte Menge. Doch der sagenhafte Ölreichtum versickert spurlos in dunklen Kanälen und korrupten Phantomprojekten statt in Schulen und Wohnungen, Kraftwerke und Kläranlagen, Betriebe und Arbeitsplätze investiert zu werden. Schätzungsweise 320 Milliarden Dollar Staatsgeld wurden seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 veruntreut, während jeder Vierte im Irak in Armut lebt. Die Zahl der Beschäftigen im öffentlichen Dienst dagegen verdreifachte sich, die Gehaltkosten stiegen sogar um das Neunfache – auf zuletzt 33 Milliarden Euro pro Jahr, was allein die Hälfte des nationalen Haushalts verschlingt. „Wir sind das reichste Land der Erde und trotzdem das ärmste“, twitterte resigniert ein junger Iraker. „Ich weine für meine Heimat.“
Martin Gehlen lebt und arbeitet als Nahostkorrespondent u.a. für DIE ZEIT und den Tagesspiegel in Tunesien.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 66-70