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01. Apr. 2008

Willkommen im nachdemokratischen Zeitalter

Wir brauchen neue Methoden, um der Mehrheit Gehör zu verschaffen

Mit der Demokratie geht es bergab. Daran kann ihre quantitative Verbreitung weltweit nichts ändern. Und wie unsere Vorfahren um 1780 nicht mit einem Sturz des Ancien Régime rechneten, so sind auch wir uns des nahenden Endes des demokratischen Zeitalters nicht bewusst. Zeit, über neue Methoden nachzudenken, der Mehrheit Gehör zu verschaffen.

Wie schon alle vorangegangenen Regierungssysteme wird auch die Demokratie unvermeidlich verschwinden. Diese Ankündigung erscheint paradox in einer Zeit, in der das demokratische Prinzip den Kommunismus besiegt und keinen legitimen Konkurrenten mehr hat und es weltweit auf dem Papier so viele Demokratien gibt wie noch nie. Aber dieses Paradoxon lässt sich erklären: Die Demokratie ist im Hinblick auf ihre geografische Ausbreitung auf dem Vormarsch. Sie hat einen riesigen Raum erobert; immer mehr Länder tragen das Etikett „demokratisch“, auch wenn man manchmal zweifeln mag, ob zu Recht. Geht es aber im Gegenzug um die Qualität von Demokratie, um das Vertrauen, das ihr die Völker entgegenbringen oder ihre Fähigkeit, diese zu beschützen, befindet sie sich auf dem Rückzug. Sie breitet sich an den Rändern aus, erschöpft sich aber im Zentrum, in unseren alten Demokratien. Somit läuft ihr geschwächter zentraler Kern Gefahr, bald nicht mehr für die Ausdehnung in Richtung Peripherie – wo sie im Übrigen oft wie eine Karikatur erscheint – sorgen zu können.

Kein vorübergehendes Formtief

Denn unsere Demokratien in den reichen Ländern durchleben nicht nur eine vorübergehende Krise. Das würde ja suggerieren, dass es sich nur um ein Formtief handelt, das irgendwann überwunden wird. Irrtum: Die Demokratie, so wie wir sie verstehen, wird es schon recht bald nicht mehr geben, auch wenn sie sich dem Namen nach noch für Jahrzehnte halten mag. Hierfür gibt es zahlreiche Indizien. Besonders auffällig ist, dass der Souveränität des Volkes, bislang als das Herzstück der Demokratie betrachtet, immer weniger Bedeutung beigemessen wird. So plante der in Brüssel versammelte Europäische Konvent im Dezember 2003, in die Präambel der dann gescheiterten EU-Verfassung ein Zitat des griechischen Historikers Thukydides aufzunehmen. Thukydides erinnert hier an Perikles’ Definition von Demokratie: Um Demokratie zu schaffen, muss sich die Macht in den Händen der Mehrheit befinden, dem Volk, wie wir heute sagen würden. Einige Monate später, im Juni 2004, wurde das Zitat jedoch vom Europäischen Rat auf Bitte einiger kleiner Länder gestrichen. Ihrer Meinung nach läuft die Erinnerung an dieses Prinzip darauf hinaus, immer der Mehrheit Recht zu geben, wodurch man folglich die reale Macht den bevölkerungsreichsten Mitgliedsstaaten der Union vorbehält. Diese ungeheuerliche Streichung hat jedoch kaum Reaktionen hervorgerufen.

Das Problem ist vergleichbar mit dem, das sich beim Ausgang demokratischer Wahlen stellt. Auch da sieht sich immer eine Minderheit der Mehrheit gegenüber. Sollte man in diesem Fall die Wahlen abschaffen? Das würde bedeuten, die Demokratie abzulehnen, in der man kein anderes Prinzip gefunden hat als das der Mehrheit, um Entscheidungen zu legitimieren. Erst danach, wenn dieses Prinzip einmal akzeptiert ist, muss man über Änderungen zugunsten der Minderheit nachdenken. Es schleicht sich, allgemeiner gesagt, ein philosophischer Zweifel an der Relevanz der Volkssouveränität ein. Man hat Angst vor den Wählern, die sich von fremdenfeindlichen oder radikalen Parteien verführen lassen. So wird der Wille der Mehrheit abgelehnt, obwohl er der Kern des demokratischen Gedankens ist. Und wenn in Belgien ein erheblicher Teil der Antwerpener Bürger dem Vlaams Belang seine Stimme gibt, meinen da nicht einige, es wäre besser, diese Stimmen nicht zu berücksichtigen? Ähnliches ließ sich auch im Dezember 2007 in der Schweiz beobachten, als Christoph Blocher trotz seines Wahlerfolgs aus der Regierung ausgeschlossen wurde. Und wenn man in den südlichen Ländern Gefahr läuft, dass bei Wahlen eine islamistische Partei an die Macht kommt, hört man da nicht, es wäre besser, die Wahlen zu annullieren wie 1991 in Algerien?

Die Demokratie stößt aber – und das ist weitaus schlimmer – in unseren Gesellschaften in materieller Hinsicht an ihre Grenzen. Warum? Weil sie das einzige Regierungssystem der Geschichte ist, das ständig in der Pflicht steht, sich zu rechtfertigen, und zwar im Besonderen bei jeder Wahl. Der Treibstoff der Demokratie sind Versprechen. Anfangs versprach sie das allgemeine Wahlrecht für Männer, dann das Stimmrecht für Frauen und danach die Herabsenkung des Wahlalters – alles Dinge, die nicht viel kosten. Darauf folgten die Krankenversicherung, die Altersversorgung, soziale Sicherheit im Allgemeinen und schließlich Urlaub in fernen Ländern für alle oder auch der massenhafte Einzug junger Menschen in die Universitäten. Nun geht der ohnehin zu kostspielig gewordene „Treibstoff“ zur Neige: Die soziale Demokratie hat ihren Vorrat an Versprechen aufgebraucht. Der Wohlfahrtsstaat sitzt auf dem Trockenen; daher rührt der Niedergang der politischen Demokratie. Der Moment, an dem unsere Demokratien dem Wähler kein Geschenk mehr vorgaukeln können, rückt näher. Die Bürger haben das verstanden, und so glaubt die Mehrheit nicht mehr an eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Die Hoffnung, auf die sich die Demokratie stützte, ist zerstört.

Einige Beobachter sehen eine Verbindung zwischen der dem Ende zustrebenden sozialen Demokratie und dem, was Linksradikale die neoliberale Offensive nennen. Haben die Eliten etwa bewusst beschlossen, den Wohlfahrtsstaat und das ihm zugrunde liegende Gleichheitsideal zu opfern? Diese Erklärung trifft es nicht. Der progressive Abbau des Wohlfahrtsstaats und der sozialen Demokratie hat in Schweden – eigentlich ihrem Aushängeschild – seinen Anfang genommen. Obwohl Schweden jahrzehntelang von einer sozialdemokratischen Partei regiert wurde, hat es als erstes Land sogar die Post privatisiert. Es gibt weder eine neoliberale noch irgendeine andere Verschwörung. In Wirklichkeit hat sich der zunehmende Neoliberalismus aus der Feststellung ergeben, dass sich nichts bewegte. Das trifft etwa auf die Krankenversicherung zu. Der Erste, der vor 20 Jahren in Frankreich verkündete, man müsse das System aufgrund der steigenden Kosten für Medikamente überarbeiten, war Jacques Attali – ein damals hoch angesehener Sozialist und Berater von Präsident Mitterrand. Wenn man parallel dazu die Renten betrachtet, wird der demografische Zwang offensichtlich. Ist es vorstellbar, dass in einigen Jahrzehnten 40 Prozent Berufstätige 60 Prozent Rentner finanzieren?

In unzähligen Bereichen lässt sich beobachten, dass sich der Wohlfahrtsstaat physisch erschöpft und der zunehmende Neoliberalismus diese Lücke gefüllt hat. Dafür gibt es gute Gründe. Allerdings ist der Diskurs nicht immer ganz aufrichtig. Es war unehrlich, bei der Auslagerung von Industriebereichen und Dienstleistungen eine Flucht nach vorne zu betreiben und so zu argumentieren, als seien die Unternehmen und die multinationalen Konzerne das Wesentliche und nicht die Gesellschaften und ihre Menschen. Unsere multinationalen Unternehmen würden die Auslöschung unserer Gesellschaften nicht überleben. Sie vergessen, dass die Phasen des freien Handels und des Protektionismus immer zyklisch verlaufen sind. Sieht man die Dinge klar, ergibt sich eine traurige Prognose. In unseren Gesellschaften wird es immer größere soziale Unterschiede geben, so wie wir sie heute schon in den USA beobachten können. Dabei wird das Ungleichgewicht zwischen den Generationen ausgeprägter sein als das zwischen den Klassen. Heute erscheint das Los der Älteren im Allgemeinen beneidenswert. Die jungen Generationen werden allerdings im Alter weniger gut dastehen.

Trick der Eliten

Es stimmt: Das Volk, oder anders gesagt die atomisierte Masse der Menschen, glaubt nicht mehr wirklich an die Fiktion der Regierung von allen, durch alle und für alle, auf die sich unsere Demokratien berufen. Im Übrigen war die Demokratie immer in gewisser Weise eine Fiktion. Zu Beginn der parlamentarischen Regierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Anerkennung der Volkssouveränität nicht selbstverständlich. Sie zu verkünden war in gewisser Weise ein Trick der Eliten, die nicht mehr erklären konnten, der König oder Gott und gar sie selbst hätten die Souveränität inne. In Wirklichkeit fürchteten die privilegierten Schichten – selbst die fortschrittlichen – die Souveränität des Volkes, das sie immer auszugrenzen versucht hatten. Sie mussten nach und nach Zugeständnisse machen. Doch heute erkennt das Volk diesen Trick als das, was er ist, und die politischen Akteure sind sich darüber im Klaren. Deswegen herrscht bei Wahlkämpfen auch eine zunehmend populistische Grundstimmung. Das war eindeutig der Fall bei den drei Hauptkandidaten der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 in Frankreich: Nicolas Sarkozy vertrat einen autoritären Populismus, François Bayrou den klassischen „Alle sind verkommen“-Populismus und Ségolène Royal einen „mütterlichen“ Populismus à la Evita Peron.

Zu Beginn wurde der Populismus in Europa von den meisten Beobachtern als ein Abdriften der Demokratie betrachtet, als ein Übel, um das man sich kümmern müsse. Aber diese Phase des aufrührerischen und marginalen Populismus à la Haider, Le Pen oder Pim Fortuyn ist überholt. Der Populismus, der von „respektablen“ politisch Verantwortlichen wieder aufgegriffen und banalisiert wurde, hat sich in ein Mittel verwandelt, das häufig eingesetzt wird, um die Bürger vom wirklichen Problem abzulenken: dem umfassenden Abbau des Wohlfahrtsstaats. Zudem ist er zu einer der beiden Hauptkomponenten der ganz neuen Funktionsweise einer Art neuen politischen Systems der nachdemokratischen Zeit geworden. Früher war Populismus eine Sache der Betrüger und derer, die sich außerhalb des Systems befanden. Heute bedienen sich die Spitzenkandidaten der großen Parteien dieses Mittels. Einmal gewählt – manchmal dank primitivster Methoden – kann man dann ohne viel Aufsehen die wahren Probleme im kleinen Kreis angehen, in einer geheimen Runde. So überlässt man – wie der Soziologe Vilfredo Pareto Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb – den echten Entscheidungsträgern den Umgang mit wichtigen Themen. Diese zweite Komponente des neuen politischen Systems entspricht im Grunde dem, was man heute Governance nennt. Eine Mischung aus „People“-Populismus bei den Wahlen und Steuerung durch eine privilegierte Minderheit, welche die wichtigen Geschäfte leitet – so könnte man sich die nach-demokratische Zeit vorstellen.

Diese Entwicklung spiegelt die antipolitische Haltung der privilegierten Schichten wider. Sie träumen immer noch davon, Gesellschaften wie Märkte zu verwalten, jenseits der Gefühle und der Wut der einfachen Leute. Aber dieser antipolitischen Haltung auf höchster Ebene steht die antipolitische Haltung des Volkes gegenüber. Das Volk bringt den Regierenden wenig Vertrauen entgegen, und die Volksvertreter mögen das Volk nicht wirklich. Das neue, im Aufbau begriffene politische System berücksichtigt das. Vielleicht wird es sich „demokratische Governance“ nennen, was ein Widerspruch wäre, da Governance antidemokratisch ist, und das übrigens nicht ohne Grund. Aber wen würde dies in einer Situation schockieren, in der man das demokratische Prinzip des souveränen Volkes, das die Intellektuellen nunmehr als „romantisch“ bezeichnen, vergessen hat?

Natürlich zeichnen sich auch Entwicklungen ab, die diesen Tendenzen diametral entgegengesetzt sind, wie etwa das Prinzip der partizipativen Demokratie, das in Frankreich von Ségolène Royal vertreten wird. Vorausgesetzt man erkennt seine Grenzen, kann es auf lokaler Ebene funktionieren. Aber einschlägige Erfahrungen haben gezeigt, dass es oft von professionellen Aktivisten für ihre Zwecke genutzt wird. Abgesehen davon sollte man sich nicht allzu sehr auf Lösungen verlassen, die darauf abzielen, die Demokratie wieder in Schwung zu bringen, wie etwa die Wiederbelebung der Wahlbeteiligung oder die Stärkung der Rolle des Parlaments. In der Praxis werden die schwierigen Fragen weiterhin hinter den Kulissen behandelt werden, im Kreise öffentlicher wie privater Akteure, die sich als ihresgleichen betrachten: der Staat, die Gewerkschaften, die Geschäftswelt, die großen Vereinigungen …

Ist dieses Bild pessimistisch? So zu denken würde bedeuten, denjenigen, die sich bemühen, die Dinge klar zu sehen, ihre Hellsichtigkeit vorzuwerfen. Dabei sind wir uns bewusst, dass man sich für gewöhnlich umso stärker an optimistische Visionen klammert, je größer die Gefahren sind. Die Optimisten sind in Bezug auf die Demokratie entweder naiv oder sie belügen sich bewusst selbst. Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase, die der Situation in den Jahren um 1780 ziemlich ähnlich ist. Anstatt unentwegt von einem Komplott zu sprechen oder darauf zu hoffen, diese ungute Entwicklung umzukehren, muss man versuchen, die sich abzeichnende neue Welt zu verstehen. Setzt man zu sehr auf einen demokratischen Schub, zeugt das vom Willen, sich Illusionen hinzugeben. Dies war der Fall, als man die außergewöhnliche Wahlbeteiligung bei den französischen Präsidentschaftswahlen, die lediglich ein vorübergehender, von der populistischen Vorgehensweise der Hauptkandidaten herbeigeführter Überraschungseffekt war, mit einem solchen Schub verwechselte.

Es fällt uns schwer zuzugeben, dass die „angewandte“ Demokratie, wie wir sie bisher praktiziert haben, weitestgehend ein Trick war. Es wäre ein Fortschritt, das zu erkennen und damit zu beginnen, über neue Methoden nachzudenken, der Mehrheit Gehör zu verschaffen. Es ist ein Jammer, wenn man dem Neuen immer wieder ein ewiges Gestern vorzieht, das eigentlich nichts von Ewigkeit hat.

Übersetzung: Gwenola Walka

Prof. Dr. GUY HERMET, geb. 1934, ist emeritierter Professor am Institut d’Études Politiques de Paris und war Leiter des Centre d’Études et de Recherches Internationales (CERI) in Paris. Seine jüngste Veröffentlichung: „L’Hiver de la démocratie ou le nouveau régime“ (2007).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 108 - 113

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