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01. Nov. 2020

Willkommen bei den Jeckes

Wie die Geschichte der Hotelier-Familie Shtarkmann deutsch-jüdische Vergangenheit und israelische Gegenwart miteinander verbindet

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Bild: Zeichnung von Menschen auf einer Schiffsgangway
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3600 Kilometer entfernt von Berlin pflegt eine junge Israelin einen Teil ihrer deutschen Familiengeschichte. Orna Shtarkmann, 36 Jahre alt, führt zusammen mit ihrer Mutter und einer ihrer zwei Schwestern das Hotel Shtarkmann Erna, eines der ältesten Hotels in der Küstenstadt Naharija. Draußen im Garten des Hotels werfen Palmen lange Schatten. Drinnen im Foyer halten gerahmte Schwarzweißfotos an den Wänden die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit wach. „Unsere Gäste sollen sich bei uns, wie sagt man, heimisch fühlen“, sagt Orna auf Englisch. Orna ist eine zierliche Frau, die Jeans und Absatzschuhe trägt und sich für ihr gebrochenes Deutsch entschuldigt. „Heimisch“ sei eines von wenigen Wörtern, die sie sich merken könne.



75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 55 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen lässt sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel als kompliziert beschreiben. Im bilateralen Austausch bekräftigen beide Seiten stets die besondere Freundschaft miteinander. Abseits der diplomatischen Kreise aber ist zu beobachten, wie sich beide Seiten voneinander entfernen.



Deutsche Distanz



„Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?“ lautet der Titel der Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2015, in dem das deutsch-israelische Verhältnis vergleichend untersucht wird. Die Ergebnisse geben einen Hinweis darauf, dass die deutsche Gesellschaft eine gewisse Distanz zur verbindenden Geschichte entwickelt hat. So glaubten 42 Prozent der Deutschen seinerzeit, dass die heutigen Beziehungen durch die Vergangenheit nur leicht oder gar nicht mehr belastet seien, während unter den befragten jüdischen Israelis nur 21 Prozent diese Meinung teilten.

Besonders sichtbar wird die Diskrepanz bei der Bewertung der israelischen Regierung, die schon damals von Benjamin Netanjahu angeführt wurde. 62 Prozent der Deutschen hatten demnach ein schlechtes bis sehr schlechtes Bild von der israelischen Regierung.



Auf der anderen Seite glaubte die Mehrheit der Israelis, dass die USA Israels wichtigster Bündnispartner seien, während Europa als Gegner wahrgenommen wird – allerdings mit Ausnahme Deutschlands. Auch wenn die Bertelsmann-Studie mittlerweile älter als fünf Jahre ist, so gibt es wenig Anlass anzunehmen, dass sich an diesem Bild etwas grundlegend geändert hat.



Erna Shtarkmann, die Jeckete

Welche Rolle spielt die politische Realität in Israel für das deutsch-israelische Verhältnis? Welche Herausforderungen bergen die politischen Entwicklungen in den USA für die vielbeschworene besondere Freundschaft beider Länder, vor allem für den Blick der Bevölkerungen aufeinander? Und was heißt es, wenn sich die deutsche Öffentlichkeit von der israelischen Wirklichkeit abwendet und Distanz zu einem Land entwickelt, dessen Geschichte untrennbar mit der eigenen verknüpft ist und in dem bis heute Menschen leben, die diese Erinnerung wahren und wertschätzen? Darum soll es im Folgenden gehen.



Im Fokus soll dabei Orna Shtarkmann stehen, eine der Nachfahren von mehr als 90 000 deutschen Juden, die von 1933 bis 1939 nach Palästina eingewandert sind und die trotz der Ablehnung, die sie in der alten Heimat erfuhren, die deutsche Sprache und deutsche Traditionen stets als Teil ihrer Identität behalten haben. Erna etwa, die Großmutter, nach der Orna benannt wurde und deren Hotel die Enkelin bis heute führt, hat bis an ihr Lebensende nie Hebräisch gelernt. „Jeckes“ nennt man die deutschen Juden in Israel; ein Sprichwort sagt über sie: „Jeckes leben in einer Vergangenheit, die niemals eine Zukunft hatte.“



Ein Tag Mitte Februar dieses Jahres im Hotel Erna, Orna Shtarkmann lässt sich in einen der samtbezogenen Sessel im Foyer fallen. Der Heizlüfter rauscht, wärmt die Luft im kühlen Raum. Ungewohnt regenreiche Tage liegen hinter Naharija, der Stadt, die 1934 von deutsch-jüdischen Kaufleuten gegründet wurde. Die extremen Niederschläge haben den Fluss, der Naharija in zwei Teile trennt und nur wenige Kilometer vom Hotel entfernt liegt, über die Ufer treten lassen.



Ganze Teile der 52 000-Einwohner-Stadt wurden unterspült; das Wasser hat eine Spur der Verwüstung hinterlassen und trifft eine Gemeinde, die ohnehin kaum noch Reserven hat: Wie im gesamten Norden Israels schwächelt die Wirtschaft in Naharija, müssen die meisten Einwohner nach Haifa oder Tel Aviv pendeln, um ein für die Lebenskosten ausreichendes Einkommen zu haben.



„Die Regierung in Jerusalem interessiert sich nicht für die Leute im Norden“, sagt Orna, die in diesen Tagen viel zu tun hat: Als frisch gewähltes Mitglied im Stadtrat versucht sie, Hilfsgelder aus einem nationalen Fonds für die Unterstützung der Flutopfer zu organisieren; und dann stehen in zwei Wochen auch noch Parlamentswahlen an, die dritten innerhalb von anderthalb Jahren. Orna unterstützt das Parteibündnis Yemina, das zu diesem Zeitpunkt noch Teil der Koalition mit der Likud-Partei ist, der Partei von Regierungschef Benjamin Netanjahu.



Not im Norden, Boom in der Mitte

Israel ist, so trivial der Satz klingt, ein Land der Widersprüche, und wer sich näher mit ihm beschäftigt, fühlt sich schnell wie beim Tischtennis. Wie bei dem Spiel die Bälle fliegen in der Betrachtung der Realitäten die Wahrnehmungen und Argumente von der einen zur anderen Seite, gehen hin und her, bis es einen Gewinner gibt, zumindest in dieser Runde. Der Norden Israels leidet unter der Wirtschaftspolitik der Regierung. Während im Herzen des Landes, in Tel Aviv, Herzlia, Netanja, Jerusalem und sogar in der Wüstenstadt Beer Sheva, Hightech-Zentren entstehen und IT-Firmen über einen Mangel an Mitarbeitern klagen, fehlt es in den Regionen Galiläas, die traditionell von der Landwirtschaft der Kibbuze geprägt sind, an Impulsen und Initiativen.



Politisch aber genießen die Likud-Partei und besonders Benjamin Netanjahu breite Zustimmung in der israelischen Bevölkerung. Auch in Naharija stimmte bei den vergangenen Wahlen die Mehrheit für den Mann, der mit seinen antiliberalen und antiarabischen Positionen durchaus als rechter Populist bezeichnet werden kann. Yemina, das Parteienbündnis, das Orna Shtarkmann unterstützt, bedeutet auf Deutsch „nach rechts“, und es steht tatsächlich rechts vom Likud. Es versteht sich als religiös-zionistisch, will das Gebiet des jüdischen Staates bis zum Jordanfluss erweitern, und auch wenn es in den kommenden Monaten zerbrechen und nicht Teil der neuen Regierung sein wird: Shtarkmann wird zu den Werten Yeminas stehen.



Von der Hotellobby in die Lokalpolitik

Was sagt es über einen Menschen, wenn er sich dafür entscheidet, das Erbe der Familie fortzuführen und seinen Lebensentwurf dem engen Rahmen der Traditionen anzupassen? Beim Beginn meiner Recherche, vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, plant Orna Shtarkmann, sich langsam aus dem Unternehmen zurückzuziehen und sich stärker der Lokalpolitik zu widmen. Sie will den Tourismus in Naharija fördern, nachdem der einst beliebte Urlaubsort kaum noch Gäste anlockt.



In den vergangenen Jahren haben Orna, ihre Mutter und ihre Schwester viel Zeit und Geld in die Renovierung des Hotels investiert. In den Zimmern stehen alte Bücher von Bertolt Brecht und Johann Wolfgang von Goethe; auf kleinen Begrüßungskärtchen wird die Geschichte des Hauses erzählt, dem Erbe von Großmutter Erna.



„Im Zuge der Renovierung haben wir den Namen des Hotels geändert“, erzählt Orna bei einer Führung durch das schlichte Gebäude mit den dunklen Teppichen und dem gedämpften Licht. „Früher hieß es nur Hotel Erna, aber mit dem Namen konnte kein Israeli etwas anfangen, der Vorname existiert im Hebräischen nicht. Hotel Shtarkmann Erna war eine Art Kompromiss, der für mich natürlich trotzdem eine Bürde ist, wenn ich mich politisch mehr in der Öffentlichkeit positionieren möchte. Alles, was ich mache, wird auf das Hotel zurückfallen.“



Erna und Orna klingen ähnlich, haben aber ganz unterschiedliche Bedeutung. Der Name Orna geht auf Or zurück, das hebräische Wort für Licht. Erna ist die Kurzform für Ernestine, die weibliche Form von Ernst, und es hat genau diese Bedeutung – Ernst im Sinne von Entschlossenheit.



Am 2. März finden in Israel die Parlamentswahlen statt. Wie bei den beiden Wahlen zuvor kommen keine klaren Mehrheiten zusammen. Nach zähen Verhandlungen einigen sich die beiden stärksten Parteien Likud und Blau-Weiß, die tendenziell dem Mitte-links-Lager zuzuordnende Partei von Netanjahus Herausforderer Benny Gantz, auf eine Koalition. Die Regierungsbildung erfolgt unter dem Druck der Corona-Krise, die schnelle politische Entscheidungen und eine stabile politische Führung verlangt.



In den ersten Wochen der Pandemie, als die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind, setzt Netanjahu eine Notfallregierung ein, verordnet dem Land einen wochenlangen, strengen Lockdown. Der Flughafen Ben Gurion wird für Reisende aus dem Ausland geschlossen, die Menschen dürfen nur noch im Radius von 100 Metern das Haus verlassen und der Ministerpräsident droht den Bürgern, das Virus sei wie die Pest, jeder Zweite könnte ihm zum Opfer fallen.



In jenen Wochen muss Orna Shtarkmann ihre Mitarbeiter in unbezahlten Urlaub schicken und selbst an der Rezeption sitzen, um die eingehenden Stornierungen entgegenzunehmen. Wirtschaftsdelegationen aus Deutschland und Österreich sagen ab, etwa die Hälfte der Buchungen kommt von Gästen aus dem europäischen Ausland. Für das Jahr 2020 war der Kalender üppig gefüllt, es hätte ein gutes Geschäftsjahr, ein guter Moment für eine berufliche Veränderung für Orna werden können. Nun hat sich dieser Wunsch zerschlagen, und als auch drei Monate später noch keine Ausländer einreisen dürfen, muss sich Orna fragen, ob das Hotel diese Krise überstehen wird.



Umstrittener Deal

Die Pandemie bringt nicht nur individuelle Pläne durcheinander, sie lässt auch politische Vorhaben stillstehen. Im Vorfeld der israelischen Parlamentswahlen und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in den USA im Herbst hatten die engen Freunde Benjamin Netanjahu und Donald Trump Ende Januar den sogenannten Trump Peace Plan vorgestellt. Netanjahu war dafür extra nach Washington gereist. Während er und Trump den Plan als „Deal des Jahrhunderts“ feierten, stießen die darin enthaltenden Ideen innerhalb der internationalen Gemeinschaft und bei der EU auf Ablehnung.



Kern des Konzepts ist eine Ausdehnung der israelischen Grenzen ins Westjordanland, bei der die Palästinenser 30 Prozent ihres Gebiets verlieren würden und nur in den rudimentären Resten einen Staat bilden sollten. In den ersten Wochen der Pandemie gerät der bei vielen Beobachtern als strategischer Bluff verrufene Plan in Vergessenheit. Erst Ende Mai, als Netanjahu offiziell als Ministerpräsident bestätigt wird, schafft es das Thema wieder auf die Tagesordnung: Am 1. Juli, erklärt der Regierungschef, wolle man mit der Annexion beginnen. Kurze Zeit später und als erster EU-Politiker seit Ausbruch des Coronavirus reist Außenminister Heiko Maas nach Israel, versucht zwischen der israelischen und der internationalen Position zu vermitteln und muss dabei etwas tun, was man als deutscher Politiker ungern in Israel macht: öffentlich Kritik an der Politik üben.



Arbeit an der gemeinsamen Geschichte

Viele der Jeckes, die während der „fünften Aliyah“, der großen Auswanderungswelle zwischen der Machtergreifung der Nationalsozialisten und dem Beginn der Pogrome, aus Deutschland und Österreich nach Palästina flohen, waren keine überzeugten Zionisten. Anders als etwa die Kibbuzniks, die damals bereits die ersten Siedlungen für den zukünftigen Staat Israel aufbauten, haderten viele mit der neuen Heimat, dem trocken-heißen Klima, in dem einstige Ärzte und Anwälte nun Bauern sein sollten und dabei nur scheitern konnten.



Die deutsche Kultur ehrte und achtete die erste Generation der Jeckes; und während sie bei der Bewirtschaftung der kargen Böden keinen Erfolg hatten, beackerten die Einwanderer die intellektuelle Landschaft im jungen Staat Israel, in dem in den ersten Jahren nach der Schoah alles Deutsche verachtet und am Anfang sogar verboten war.



Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik 1965 bot sich für die Jeckes die Möglichkeit, die Geschichte aufzuarbeiten und auf Grundlage der gemeinsamen Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Schnell entstanden Austauschprogramme, sollten die Nachfahren der Täter das Land der Überlebenden kennenlernen.

1989/90 übernahm der Unternehmer und Jecke Stef Wertheimer das 1968 in Naharija gegründete Jeckes-Museum und zog damit nach Tefen um, auf das Gelände des Industrieparks Wertheimers Betriebe. Über die Jahre wurde das einzige Museum für die Geschichte der deutschen Juden in Israel zum Treffpunkt deutsch-jüdischer Intellektueller; die Leiterin Ruthi Ofek führte deutsche Diplomaten und Studentengruppen durch das Haus.



„Diese Annexion? Ein ganz großer Quatsch“

Bedingt durch die Corona-Pandemie wurden alle öffentlichen Einrichtungen in Israel im März geschlossen, und als man Monate später beim Pförtner nach den neuen Öffnungszeiten fragt, schüttelt der den Kopf: „Das Museum gibt es nicht mehr.“ Es ist der 30. Juni 2020. Am nächsten Tag will Netanjahu die konkreten Pläne zur Annexion verkünden, am nächsten Tag wird Ofeks Vertrag mit dem Museum beendet sein.



„Eigentlich habe ich heute meinen letzten Arbeitstag“, sagt die 70-Jährige auf Deutsch mit Salzburger Akzent, während sie Akten in ihrem Büro ordnet. In den Regalen stapeln sich Bücher deutsch-jüdischer Denker, daneben alte Ausgaben der Magazine Stern und Geo und Abhandlungen über die Geschichte der deutschen Juden in Israel. Die Kinder des mittlerweile 94-jährigen Stef Wertheimer hätten entschieden, das Museum nicht weiterzuführen, erzählt Ofek und möchte dabei nicht ins Detail gehen.



Die Wertheimers gehören zu den reichsten Familien Israels, laut Forbes beläuft sich ihr Vermögen auf etwa sechs Milliarden US-Dollar. Ums Geld gehe es bei der Schließung nicht, sagen Menschen, die mehr darüber wissen, eher um die Frage, welche Relevanz das Erbe der Jeckes heute in Israel noch hätte. „Wir hatten hier viele gute Jahre und ich bin sicher, dass wir einen neuen Ort für das Museum finden werden“, sagt Ofek. Auf die Frage, welche Rolle die politischen Entwicklungen in Israel für das deutsch-israelische Verhältnis hätten, bleibt sie weniger zurückhaltend. „Sie meinen diese Annexion? Ein ganz großer Quatsch ist das.“



Ein Stück deutsche Gemütlichkeit

Seit einigen Wochen dürfen Unterkünfte in Israel wieder Übernachtungen annehmen. Im Hotel Shtarkmann Erna läuft der Betrieb allmählich wieder an. Orna sitzt an der Rezeption und wirkt ein wenig erschöpft – im Moment muss sie ohne Angestellte auskommen und vom Frühstücksbuffet bis zur Zimmerreinigung alles alleine erledigen. Zeit für ein Gespräch nimmt sie sich trotzdem, ein Freund ihres verstorbenen Vaters ist zum Kaffee vorbeigekommen. Ein Mann, über den Orna sagt, dass das ein echter Jecke sei.



„Für mich wird das hier immer das Hotel Erna, ein Stück deutsche Gemütlichkeit bleiben“, sagt der Mann, der als Kind der ersten Einwanderer in den 1950ern in Naharija geboren wurde. Während Orna auf einem der Sofas, unter den großgerahmten Fotos ihrer Großmutter, sitzt und der Unterhaltung auf Deutsch zu folgen versucht, erzählt der Gast von Ornas Vater; davon, wie er sich in ihre Mutter, eine Israelin mit jemenitischen Wurzeln, verliebte und mit ihr bis zu seinem Tod das Haus mit deutscher Korrektheit führte. „Die drei Töchter sind alle so hübsch und haben das Beste von beiden Seiten. Nur dass Orna jetzt in die Politik möchte, ich weiß ja nicht. Eine so junge Frau sollte doch erst einmal eine Familie gründen, nicht wahr?“



Orna Shtarkmann versteht sich als rechts und eckt damit im eigenen Freundeskreis und dem der Eltern an. Für ihr Umfeld erschließt sich nicht, weshalb sich die nichtreligiöse, moderne Frau für eine religiös-zionistische Partei einsetzt. Als sich der Gast verabschiedet hat und es Abend wird in Naharija, schlägt Orna einen Spaziergang an der Promenade vor und beginnt unterwegs zu erzählen, warum sie sich so entschieden hat. „Ich bin konservativ, mich interessiert die Wirtschaft mehr als etwa der Konflikt mit den Palästinensern, und wenn etwas in mir Jecke ist, dann sind es meine Ansprüche an Korrektheit. Vermutlich würde ich auch Likud unterstützen, stünde Netanjahu nicht wegen Korruption vor Gericht. Aber ich kann keinen Mann wählen, den ich nicht für einen guten Menschen halte“, sagt sie – das Wort Mensch sagt sie auf Deutsch.



Höflich wie ein Jecke

Seit Mai läuft ein Prozess gegen den Ministerpräsidenten, damit hat er sich für Orna unwählbar gemacht. Dass Naftali Bennett, der Vorsitzende von Yemina und nun Oppositionspolitiker, ein besserer Amtsinhaber wäre, davon ist sie überzeugt. Von ihm fühlt sie sich politisch unterstützt, eine Erfahrung, die sie bisher selten gemacht hat. „Bei den Wahlen für den Stadtrat habe ich zu spüren bekommen, dass nicht nur die Religiösen, sondern eigentlich Politiker aller Parteien mit mir ein Problem hatten. Einfach nur, weil ich eine junge Frau bin.“ Dass Bennett so engagiert für die Annexion kämpfe, sei für Orna in Ordnung. „Es ist nicht meine Top-Priorität, schon gar nicht in Zeiten von Corona. Aber grundsätzlich bin ich dafür.“



Über Jeckes sagt man in Israel, dass sie besonders pflichtbewusst und zuverlässig seien. Nachdem man den Einwanderern aus Deutschland am Anfang mit Skepsis begegnete und die stets akkurat gekleideten Neu-Israelis teils belächelte, ist das Wort Jecke heute positiv besetzt, gilt als Synonym für besondere Höflichkeit. Politisch haben sich die Werte der deutschen Juden nie durchsetzen können, die Mischung aus Konservatismus und Zurückhaltung war in Israel nicht mehrheitsfähig.



Linde Apel, die Leiterin der Werkstatt der Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeit- geschichte in Hamburg, hat für ihre Arbeit „Die richtigen Jeckes sind andere“ mehrere Jeckes der ersten Generation interviewt. Eine der Antworten, die sie erhielt, lautete: „Es hätte unseren Israelis nicht geschadet, wenn sie ein bisschen was Jeckisches an sich gehabt hätten, aber die Jeckes waren hier nicht sehr populär. Wir haben auch keine in der Regierung. Nur hier und da hat sich einer verlaufen. Nein, die konnten es auch nicht so.“



Mitte Juli verlässt eine der Parteien Yemina, Naftali Bennett und die anderen Parteivorsitzenden machen mit ihrer Oppositionspolitik weiter, die eine rechte Alternative zu Likud bieten soll. In jenen Wochen beginnen überall im Land Proteste gegen Benjamin Netanjahu und die schwierige wirtschaftliche Lage. Durch die Folgen der Corona-Krise haben mehr als 850 000 Israelis ihre Arbeit verloren, ist die Zahl der Insolvenzen im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent in die Höhe geschossen.



Die Wut auf Bibi, wie Netanjahu genannt wird, gilt als der kleinste gemeinsame Nenner der Protestierenden, die sich zu Tausenden jede Woche vor der Residenz des Ministerpräsidenten treffen und „Bibi, geh’ nach Hause“ rufen. Unter den Demonstranten finden sich auch verprellte Likud-Wähler, die ihre Botschaft auf ihren Plakaten tragen: „Ich bin nicht links, nur weil ich gegen Korruption bin.“ In den israelischen Medien beginnt bald eine Debatte über die Frage, welche Folgen die größten Proteste seit acht Jahren für das Land haben könnten. In der linken Tageszeitung Haaretz wird spekuliert, die Antwort könnte rechts vom Likud liegen, bei Yemina.



Überraschende Übereinkunft

Mitte August und relativ überraschend verkündet US-Präsident Donald Trump, unter der Vermittlung der Vereinigten Staaten sei ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zustande gekommen. Beobachter deuten die Verkündung als letzten Versuch des amerikanischen Präsidenten, seine Aussichten für die Wahlen zu verbessern. Die Zeit bis zu den Abstimmungen im November läuft, und anders als noch vor der Pandemie sehen die Werte schlecht für den Republikaner aus.



Auch in Israel sind die Reaktionen gespalten: Die Linke hält die Erklärung für ein Ablenkungsmanöver, bestehen informell doch schon seit Jahren gute Beziehungen mit den VAE. Kritik kommt auch von Naftali Bennett, da im Zuge der Verhandlungen Netanjahu erklärt hat, die Annexionspläne auf Eis zu legen. „Es ist tragisch, dass Netanjahu den Moment nicht ergriffen und auch nicht den Mut aufgebracht hat, die Souveränität des Landes Israel auch nur einen Zentimeter auszudehnen.“



Orna Shtarkmann kandidiert

Zurück in Naharija im Hotel Shtarkmann Erna, ein letztes Mal. Es sind Sommerferien in Israel. Und weil der Flughafen noch immer geschlossen ist, machen die Israelis dieses Jahr Urlaub im eigenen Land. Orna ist bereits seit vier Uhr auf, zum ersten Mal seit Jahren sind im August alle Zimmer ausgebucht. Die vergangenen Wochen hätten ihren Blick auf ihre Arbeit verändert, erzählt sie. Das positive Feedback der Gäste, das viele Lob für die sauberen Zimmer und den frischen Apfelstrudel hätten sie neu motiviert.



„Ich bin stolz auf das, was wir hier erreicht haben, dass wir das Erbe meiner Großmutter fortsetzen können“, sagt sie und erzählt, dass sie auch für ihre politische Arbeit eine Entscheidung getroffen hätte. „Ich habe deshalb heute Vormittag mit Naftali Bennett telefoniert, ich hoffe, dass er mich unterstützen wird“, sagt Orna und lächelt wie jemand, der eine Überraschung zu verkünden hat: In zwei Jahren stehen in Naharija, der Stadt der Jeckes, wieder Bürgermeisterwahlen an. Orna Shtarkmann will dafür als erste Bürgermeisterin kandidieren.

 

Steffi Hentschke ist freiberufliche Reporterin und berichtet hauptsächlich über israelische Politik und Kultur für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Die Zeit / Zeit Online und GEO Reise. Sie hat einen Master of Arts in Politikwissenschaft von der Universität Hamburg und einen Abschluss in Journalismus der Henri-Nannen-Schule. Derzeit lebt sie in Tel Aviv.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, November 2020, S. 36-43

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