Buchkritik: Durch den Nebel des Traumas
Wie vom 7. Oktober erzählen? Wie dem Leid der Opfer eine Stimme geben, den Schmerz der Angehörigen ausdrücken, eine Sprache für das Grauen finden? Wie einen Ausweg weisen, wenn die Hoffnung stirbt? Drei Versuche aus Israel, den USA und Deutschland.
Ende November 2024. Ein Jahr nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 herrscht immer noch Krieg im Nahen Osten. Es ist der längste und verheerendste in der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Die Führungsmitglieder der Hamas wurden getötet, aber weiterhin sind etwa hundert israelische Geiseln in Gefangenschaft der Terrororganisation.
Katar hat sich als Vermittler zurückgezogen. Man werde die Aufgabe erst dann wieder übernehmen, wenn beide Parteien die „Bereitschaft und Ernsthaftigkeit zeigen, den brutalen Krieg zu beenden“, erklärte das katarische Außenministerium dazu.
Doch von einem Ende des Krieges kann zum Redaktionsschluss dieses Textes Anfang Dezember keine Rede sein. Auch die zwischen Israel und der Hisbollah vereinbarte Waffenruhe scheint mittlerweile zu bröckeln, wofür beide Parteien die jeweils andere Seite verantwortlich machen.
Mehr als 40 000 Tote im Gazastreifen, mindestens 4500 im Libanon. Zu den 1200 Opfern des Hamas-Massakers kommen mittlerweile Hunderte tote Zivilisten und Soldaten auf israelischer Seite. Israel ist dem vom Iran gesteuerten Milizenbündnis, der sogenannten Achse des Widerstands, bisher militärisch überlegen.
Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen kürzlich entlassenen Verteidigungsminister Yoav Galant wegen möglicher Kriegsverbrechen in Gaza verhängt. Auch gegen den Hamas-Militärchef Mohammed Deif wurde ein Haftbefehl erlassen. Deif ist laut israelischen Angaben getötet worden. Die Hamas hat den Tod nie bestätigt, begrüßte aber die jetzt verhängten Haftbefehle: Die Entscheidung sei eine „Korrektur eines langen Weges historischer Ungerechtigkeit gegen unser Volk“, hieß es.
Zu viel, zu schlimm
„Norwegen, Irland und Spanien erkennen einen palästinensischen Staat an“ − mit diesem Eintrag am 22. Mai 2024 endet „Israel im Krieg, ein Tagebuch“ von Saul Friedländer, begonnen am 7. Oktober. Friedländer ist über 90 Jahre alt, gehört zu den Begründern der Holocaustforschung. Die Nachkriegswelt verdankt es Historikern wie ihm, dass wir eine Sprache gefunden haben für das unaussprechliche Grauen. Als Pavel Friedländer 1932 in Prag geboren, wuchs er in einem deutschsprachigen Haushalt auf. Am Tag des Einmarschs der Deutschen in Prag floh die Familie gemeinsam mit zahlreichen anderen deutschsprachigen Juden aus der Tschechoslowakei.
Trotz der Flucht: Friedländers Eltern wurden ermordet, vermutlich in Auschwitz. Ihren Sohn aber konnten sie retten, er überlebte, versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich. Nach dem Kriegsende kam er in Kontakt mit jüdischen Jugendorganisationen und der zionistischen Idee.
Im Juni 1948 machte sich Friedländer auf den Weg in den frisch gegründeten Staat Israel, so wie Millionen andere Überlebende. Das frühe Israel wurde nicht nur zur Rettung für die Juden der Welt, sondern auch zum Sammelort für die Berichte der Überlebenden. Persönliche Briefe, offizielle Schreiben und vor allem Tagebücher zählen heute zu den wertvollsten Belegen des Holocausts, weil diese Dokumente frisch und im Moment entstanden sind. Weil die Erinnerung trügen kann. Weil das Trauma wie ein Nebel wirkt, in dem man sich verirrt.
„Selbst an Jom Kippur war der Beginn weniger katastrophal und schrecklich als jetzt“, notiert Friedländer, der mittlerweile in den USA lebt, am 8. Oktober 2023 über den Vergleich zum Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973, genau 50 Jahre vor dem verheerenden Hamas-Angriff. Seine Aufzeichnungen führen wie Leitplanken durch den Nebel. Denn selbst wer vor Ort war und die Ereignisse beobachtet hat, weiß ein Jahr später nicht mehr jedes Detail abzurufen. Es war zu viel, und es war zu schlimm.
Alles war von Anfang an da
Bis Mitte Dezember führt Friedländer akribisch Tagebuch. Nach einer Pause schreibt er im März noch einmal weiter bis Mai, legt die Informationen und seine Bewertungen dazu wie Fäden − nicht, um sie schließlich zusammenzubinden. Wie soll man auch ein Fazit ziehen aus Geschehnissen, die noch nicht vorbei sind?
Vielmehr bieten die Texte mit zeitlichem Abstand die wichtige Chance, den Knoten der Narrative zu entwirren, die den Nahost-Krieg bestimmen. Was ist der Kontext für das, was passiert ist? Wer trägt Schuld woran?
Friedländer zählt zu den Verfechtern der Zweistaatenlösung und zu den lautesten Kritikern von Benjamin Netanjahu. Immer wieder macht er dem umstrittenen Ministerpräsidenten und seiner mit Rechtsextremen besetzten Koalition schwere Vorwürfe: Durch die von ihnen ausgelöste innenpolitische Krise, den geplanten Umbau der Justiz in den Monaten vor dem Hamas-Angriff, wurde Israel auch von außen angreifbar. Israels Feinde würden die inneren Kämpfe genau beobachten und für sich zu nutzen wissen, warnten Beobachter und Beobachterinnen.
„Offenbar haben die Hamas und die iranischen Planer gelernt, Operationen vorzubereiten, ohne die üblichen technischen Kommunikationsmittel zu verwenden, die Israel leicht abfangen könnte“, notiert Friedländer am 9. Oktober. „Überdies tragen die zunehmende Ablenkung durch die Geschehnisse im Westjordanland und vor allem die wachsende Aufmerksamkeit, die den Siedlern und Siedlungen durch die messianische Ideologie der Netanjahu-Koalition und ihr Beharren auf einer Justizreform zuteilwurde, welche die demokratische Struktur des Landes bedrohte und zu einer inneren Spaltung führte, zweifellos einen Teil der Verantwortung.“
Friedländers Tagebuch beweist: Alles war von Anfang an da. Die Befürchtungen der Mitverantwortung Netanjahus für eine Situation, die Israel angreifbar gemacht hat. Genauso aber auch die schonungslose Klarheit darüber, dass die Hamas vom iranischen Regime finanziert und unterstützt wurde.
„Unterdessen bereist der iranische Außenminister einige muslimische Länder der Region und droht Israel in jeder Hauptstadt mit noch schlimmeren Konsequenzen, wenn es seinen ‚Völkermord an den Palästinensern‘ in Gaza nicht beende. Irans oberster Führer Ali Khamenei küsste den Hamas-Führern die Hände für die Niederlage, die sie Israel zugefügt haben“, notiert Friedländer am 15. Oktober; dazu: „In Europa scheint der Hass auf Israel – und in vielen Fällen auch der Hass auf die Juden – eine anschwellende Flut zu sein.“
Vor dem 7. Oktober hatte Friedländer ein Sachbuch über Israels innenpolitische Krise veröffentlicht, der deutsche Titel lautet: „Blick in den Abgrund“. Danach habe er eigentlich nicht mehr schreiben wollen, erklärte er. In seinem Tagebuch nun plädiert er dafür, beide Werke chronologisch zu lesen.
Er selbst steht wie ein Beobachter am Rand der Abbruchkante, beschreibt jeden neuen Riss und erklärt, wie er entstehen konnte. Das ist eine enorme Leistung und bietet die notwendige Basis, um über den Krieg im Nahen Osten fundiert sprechen zu können. Aber wer sind die Menschen, die in den Abgrund hinuntergerissen wurden?
Die Dunkelfelder ausleuchten
So wichtig ein Tagebuch wie dieses als Dokument der Zeitgeschichte ist, so wichtig sind Zeugenaussagen. Diese hat die preisgekrönte israelische Journalistin Lee Yaron in ihrem Buch „Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags“ zusammengetragen. Yaron ist 30 Jahre alt und gehört damit zu der Generation von Israelis, die in der Zeit geboren wurde, als Jitzchak Rabin im November 1995 von einem rechtsextremen Siedler ermordet wurde; eine Zeit, in der mit dem Ministerpräsidenten zugleich die Hoffnung in Israel auf eine friedliche Lösung für den Nahen Osten starb.
Yaron wuchs auf in der Zeit der Zweiten Intifada zwischen 2000 und 2004, mit Bussen und Cafés, in denen sich palästinensische Terroristen in die Luft sprengten, und der ständig präsenten Angst zu sterben. Am 7. Oktober wurden mehr Israelis getötet als während der gesamten Zweiten Intifada.
„Für Gal, einen Mann des Friedens, der aus dem Krieg nicht zurückkehrte“, schreibt Yaron als Widmung am Anfang ihres Buches. Gemeint ist Gal Eisenkot, gefallen am 7. Dezember 2023 im Gazastreifen. Yaron beschreibt Gal Eisenkot als ihren besten Freund. Öffentlich bekannt ist er als Sohn von Gadi Eisenkot, der nach dem 7. Oktober als Berater der von Netanjahu einberufenen Notfallregierung beitrat.
Der pensionierte General agierte als Vermittler zwischen der eher linken Armeeführung und dem in seine rechtsreligiöse und rechtsextreme Regierung eingebundenen Netanjahu. Eisenkot gilt als Kritiker der extremistischen Siedlerbewegung im besetzten Westjordanland; Mitte dieses Jahr verließen er und Benny Gantz die Koalition.
Auf mehr als 300 Seiten widmet sich Yaron den Getöteten und Überlebenden des schlimmsten Massakers an Juden seit dem Holocaust, erzählt dabei aber nicht nur die Geschichten jüdischer Israelis. Vielmehr folgt sie ihrem journalistischen Anspruch, mit dem sie sich als Reporterin für die linke Tageszeitung Haaretz Ansehen erarbeitet hat.
Sie lenkt den Fokus auf Realitäten, die im Schatten der Aufmerksamkeit liegen, zeigt Israel in seiner Widersprüchlichkeit, zu der Armut gehört, Ausgrenzung und Diskriminierung. 20 Prozent der Bevölkerung gehören der arabischen Minderheit an, zu der palästinensisch-israelische Muslime und Christen ebenso zählen wie Drusen und Beduinen. Auch entlang der Grenze zum Gazastreifen leben Angehörige dieser Minderheiten, und auch sie wurden Opfer des Terrors der Hamas.
„Als er zu Sujood hinüberschaute, sah er, dass sie aus dem Unterleib blutete. Eine Kugel war ins Auto eingedrungen und hatte ihren schwangeren Bauch getroffen“, schreibt Yaron. Sie schildert, was der jungen Beduinin Sujood Abu Karinat, Mitte 20, am 7. Oktober Furchtbares widerfuhr. Sujood erwartete an jenem Morgen ihr erstes Kind, ein Mädchen. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurden sie von zwei weißen Lieferwagen eingekeilt, die Terroristen der Hamas eröffneten das Feuer und schossen auf Sujoods Bauch − obwohl sie den Hijab trug. Sujood hat überlebt, ihr Baby hat die Kugel abgefangen. Wie Yaron schreibt, ist das Kind das jüngste Opfer des 7. Oktobers. Das Mädchen wurde nur zehn Stunden alt.
Auch Lee Yaron hilft mit ihrem Buch durch den Nebel des Traumas hindurch. Ihre Geschichten wirken klein im Vergleich zur großen Einordnung und leuchten genau deshalb die Dunkelfelder aus, erzählen das, was nach dem 7. Oktober entweder schnell vergessen oder nie bekannt wurde. Weil es zu viel war, und zu schlimm.
Allein: Einen Ausweg, so etwas wie Hoffnung können weder Lee Yaron noch Saul Friedländer bieten. Sie helfen nur dabei, den Weg zur nächsten Kreuzung zu finden. Zu der Frage, wie man das vermittelte Wissen vertiefen will.
Eine gegenwärtige Geschichte
An einer solchen sinnbildlichen Kreuzung steht der deutsche Schriftsteller Marko Martin mit seinem Buch „Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober“.
Anfang November, bei einer Rede im Schloss Bellevue anlässlich des 35. Jahrestags des Berliner Mauerfalls, konfrontierte Martin den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier; er prangerte unter anderem dessen Haltung gegenüber Russland und Kremlchef Wladimir Putin in seiner Zeit als deutscher Außenminister an.
Martin zählt zu den Intellektuellen, die den wachsenden, miteinander verschmelzenden globalen Konflikten und Deutschlands Rolle darin mit klarer Haltung begegnen. Für die Ukraine fordert er einen klaren und geschlossenen Rückhalt im Kampf gegen die russische Aggression. Mit Blick auf den Nahost-Krieg erinnert er daran, die eigene deutsche Geschichte im Umgang mit Israel mitzubedenken. In einem Interview mit dem Philosophie-Magazin sagte er kürzlich: „Es gibt eine deutsche Kontinuität der Desolidarisierung mit Israel.“
„Ende November in Berlin, gestern ist der erste Schnee gefallen“, schreibt Martin am Anfang seines Buches über die Wochen nach dem 7. Oktober. Er führt so ein in seinen persönlichen Bezug zu Israel, zu Freundinnen und Freunden, die in beiden Welten zu Hause sind, in Israel und Deutschland. Er zeigt, dass dies eine Geschichte der Gegenwart ist, keine abgeschlossene Vergangenheit. „In der Straßenbahn von der Osloer Straße im Wedding hinüber in den Prenzlauer Berg – und schon auf der Fahrt die seltsame Frage, ob Adi wohl mit ihrem Sohn zurzeit hebräisch sprechen kann, in der Öffentlichkeit.“
Es ist wieder Ende November, in Deutschland ist erneut der erste Schnee gefallen. Auch im Nahen Osten ist es wieder kalt geworden. Die besprochenen Bücher erschienen kurz vor Beginn des zweiten Kriegswinters, zum ersten Jahrestag des 7. Oktobers. Lee Yaron sagte in einem Interview, sie habe erst jetzt Zeit, um darüber nachzudenken, was diese Ereignisse mit ihr persönlich gemacht haben. Und in einer Rezession von Saul Friedländer im Bayerischen Rundfunk wird darin erinnert, dass ihm deutsche NS-Forscher mit eigener Nazi-Vergangenheit einst Befangenheit vorwarfen.
Saul Friedländer: Israel im Krieg. Ein Tagebuch. München: C.H. Beck 2024. 204 Seiten, 24,00 Euro
Lee Yaron: Israel, 7. Oktober. Protokoll eines Anschlags. Frankfurt/Main: S. Fischer 2024. 320 Seiten, 26,00 Euro
Marko Martin: Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober. Stuttgart: Tropen 2024. 224 Seiten, 22,00 Euro
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 128-131
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