Wiederwahl mit Hindernissen
Bei den zunächst für Anfang Mai geplanten Präsidentschaftswahlen in Polen sah Amtsinhaber Andrzej Duda von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wie der sichere Sieger aus. Doch die Coronavirus-Pandemie und der Senat machten dem einen Strich durch die Rechnung – vorläufig jedenfalls.
Anfang des Jahres noch schien dies ein einfacher Wahlkampf für den amtierenden Präsidenten Andrzej Duda zu werden. Seine Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatte im Mai 2019 bei der Europawahl einen deutlichen Sieg gefeiert und kurze Zeit später ihre absolute Mehrheit im Sejm verteidigt. Der Verlust des Senats an die Opposition hatte die Stimmung nur leicht getrübt. Duda lag in den Umfragen unangefochten vorn. „Es gibt niemanden, gegen den Duda verlieren könnte“, hatte Rafał Ziemkiewicz Ende 2019 in der konservativen Wochenzeitung Do Rzeczy konstatiert.
Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie verstärkte diesen Trend zunächst auch noch. Die Regierung schottete Polen früh von der Außenwelt ab und verordnete einen strikten Lockdown. Dadurch wurde nicht nur die Verbreitung des Virus gestoppt, sondern zugleich die Wahlkampagnen der Oppositionskandidaten fast ausgesetzt; ihnen blieben nur noch ihre Websites und Medienauftritte. Präsident Duda hingegen nutzte seinen Amtsbonus voll aus und setzte seine Wahlkampftour durch ganz Polen fort. So werde die Präsidentschaftswahl nicht fair, warnte früh die unabhängige Website NotesFromPoland.
Doch Jarosław Kaczyński, PiS-Vorsitzender und Anführer der nationalkonservativen Koalition, wollte diese glänzende Ausgangsposition seines Kandidaten unter keinen Umständen aufgeben. Von den Hardlinern in seiner Partei unterstützt, setzte er alles daran, die für den 10. Mai geplante Wahl trotz Pandemie über die Bühne zu bringen. Dazu sollten kurzerhand das Wahlrecht geändert, die unabhängige Wahlkommission entmachtet und eine ausschließliche Briefwahl eingeführt werden. „Jarosław Kaczyński und [Ungarns Regierungschef] Viktor Orbán streben nach absoluter Macht“, schrieb alarmiert Bartosz Węglarczyk, Chefredakteur von Onet, einem führenden polnischen Internetportal.
Von den regierungsnahen Medien wurde solche Berichterstattung nur belächelt: „Welcher Diktator beharrt darauf, eine Wahl abzuhalten, die die Verfassung vorschreibt?“, kommentierte spöttisch wPolityce. Und für Sieci stand außer Frage, dass die Opposition mit ihren Forderungen, die Wahl zu verschieben, ein „dreistes Spiel mit der Epidemie“ spiele. In Anbetracht der schwachen Umfragewerte ihrer Kandidaten wolle die Opposition die „Annullierung einer bereits absehbaren Katastrophe“ erzwingen, hieß es.
Doch am Ende scheiterte Kaczyńskis Plan. Zunächst verzögerte der Senat die Abstimmung über das neue Wahlgesetz. Dadurch blieb für die Vorbereitung der Briefwahl keine Zeit übrig, und das, obwohl die Regierung einige Druckereien mit der Vorbereitung der Briefwahlpakete schon vorher und damit ohne gesetzliche Grundlage beauftragt hatte. Den entscheidenden Schlag führte dann Kaczyńskis kleiner Koalitionspartner aus. Eine Handvoll Abgeordneter um den ehemaligen stellvertretenden Premierminister Jarosław Gowin weigerte sich, das Veto des Senats zurückzuweisen.
Kaczyński, der allmächtig geglaubte Strippenzieher der polnischen Politik, musste dem Druck aus den eigenen Reihen nachgeben und stimmte schließlich einer Verschiebung der Wahl zu. Der neue Termin wurde für den 28. Juni anberaumt, mit einer potenziellen Stichwahl zwei Wochen später.
Ein Dämpfer für Kaczyński
„Jarosław Kaczyński war noch nie so entschlossen. Und noch nie war seine Niederlage so verheerend“, urteilte die oppositionelle Gazeta Wyborcza und zitierte zugleich einen anonymen Vertreter des Regierungslagers mit den Worten: „Kaczyński wurde vor sich selbst gerettet.“ Denn die Briefwahl wäre zu einem organisatorischen Fiasko geraten.
Deutschsprachige Medien schrieben von einer „Geisterwahl“, da sie offiziell weder verschoben noch abgesagt wurde. Der konservative Publizist Łukasz Warzecha beklagte „totalen politischen Voluntarismus“, der die rechtsstaatlichen Prinzipien ersetze. Noch deutlicher wurde Edwin Bendyk von der liberalen Wochenzeitung Polityka: „Es ist keine Demokratie, es ist eine Anarchie.“
„In den vergangenen Wochen sahen wir einer Katastrophe entgegen“, schrieb der Direktor des konservativen, regierungskritischen Klub Jagielloński, Piotr Trudnowski. „Aber am Ende geschah das, woran wahrscheinlich überhaupt niemand mehr geglaubt hat. Gesunder Menschenverstand und Staatsverantwortung haben gesiegt.“ Etwas weniger euphorisch formulierte es die links-progressive Krytyka Polityczna: „Eine Wahl, in der Millionen von Menschen ihres Stimmrechts beraubt wären, würde einem Blick in den staatspolitischen Abgrund gleichen. Am Ende werden die Menschen ihr Recht behalten, durch die Gnade des Präses [Kaczyński].“
Jarosław Kaczyński wurden die Grenzen seiner Macht aufgezeigt. Sie kann zwar offenbar weder durch die Verfassung noch andere Gesetze, doch durchaus durch politische Realitäten eingeschränkt werden. Zudem offenbarte die Revolte einer kleinen Gruppe von Abgeordneten tiefe Risse zwischen dem moderaten und dem radikalen Flügel der regierenden Koalition und brachte das national-konservative Projekt Kaczyńskis an den Rand des Kollapses. Die Koalition sei eigentlich eine „gespaltene Vereinte Rechte“, stellte Polityka fest. „Geht Kaczyński in Rente, wird ein offener Krieg ausbrechen“, sagte Dominika Wielowieyska von der Gazeta Wyborcza voraus.
Noch bleibt Kaczyński die letzte Instanz, doch er wird immer größere Mühe haben, die internen Streitereien zu schlichten. Und das unabhängig davon, wie die verschobene Präsidentschaftswahl ausgeht. Das Misstrauen und die Feindschaften sind inzwischen so gravierend, dass sogar der sonst regierungsunkritische Jacek Karnowski von wPolityce sich mit Sorge über die langfristige Zukunft der Koalition äußerte.
Die Opposition sortiert sich
Wird des einen Leid des anderen Freud? Die größte Oppositionspartei, die liberal-konservative Bürgerplattform (PO), wollte die Gelegenheit zumindest nicht ungenutzt lassen. Die Parteiführung tauschte kurzerhand die wenig überzeugende Małgorzata Kidawa-Błońska als Präsidentschaftskandidatin aus und stellte den populären liberalen, proeuropäischen Bürgermeister von Warschau, Rafał Trzaskowski, als ihren neuen Kandidaten auf. Kidawa-Błońska war stark zurückgefallen, nachdem sie ihre Anhänger zum Boykott der Wahl am 10. Mai aufgerufen hatte. Trzaskowski sollte nun eine Aufholjagd starten. „Schafft er es in den zweiten Wahlgang, wird er die Bürgerplattform retten. Schlägt er Andrzej Duda, bricht er der PiS-Herrschaft das Genick“, hieß es im Newsweek Polska.
Tatsächlich setzte sich Trzaskowski im Eiltempo an die Spitze der Verfolgergruppe hinter Duda. Dabei wusste er vermeintliche Nachteile zu seinem Vorteil zu nutzen. Während sich andere Kandidaten für die Wiederholungwahl nicht erneut registrieren mussten, hatte er als Nachrücker nur wenige Tage, um die geforderten 100 000 Unterstützerunterschriften zu sammeln. Diese Aufgabe mobilisierte seine Anhängerschaft und gab der Kampagne den neuen Schub, den die Bürgerplattform nach dem katastrophalen Wahlkampf von Kidawa-Błońska dringend gebraucht hatte. So kommt es wahrscheinlich zu einer Neuauflage des zutiefst polarisierenden Konflikts zwischen der PiS und der PO, deren Kandidaten seit 2005 regelmäßig in der Stichwahl um die Präsidentschaft kämpfen.
Die polnische Medienlandschaft richtet sich ganz überwiegend nach dieser Trennlinie aus. Während die liberalen Medien große Hoffnungen in Trzaskowski setzten, bezeichnete ihn das regierungsnahe Wochenmagazin Sieci aufgrund seiner Unterstützung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als einen „extremistischen Kandidaten“ und „äußerst radikalen Politiker“.
Für viele Kommentatoren, darunter den konservativ-libertären Publizisten Łukasz Warzecha, ist diese Auseinandersetzung jedoch „eine unfruchtbare und ermüdende Rivalität zwischen dem angeblich Guten und dem angeblich Bösen“. Die aus diesem Duopol resultierende Verdrossenheit der Polen wollen andere Anwärter für sich nutzen. Neben den Kandidaten der im Parlament vertretenen Parteien gehörte dazu stets ein Vertreter einer politischen Spezies, die die polnische Politik immer wieder aufs Neue aufzumischen versucht: ein Anti-Parteien-Kandidat.
Dieses Mal ist es Szymon Hołownia, ehemaliger Fernsehmoderator beim größten privaten Fernsehsender TVN und katholisch-humanitärer Aktivist. Er ziehe Wähler an, die glauben, dass der PiS-Kandidat scheitern solle, die Bürgerplattform den Sieg jedoch nicht verdient habe, erklärte der Politologe Jarosław Flis in Polityka. Nach dem Niedergang des Kommunismus schaffte es allerdings nur einmal ein Anti-Establishment-Bewerber in die Stichwahl. „Die Erfahrung zeigt, dass die Obergrenze für solche Kandidaten bei 20 Prozent liegt“, meinte der Politikwissenschaftler Antoni Dudek in PolskaTimes.
Aggressive Propaganda
Wer immer Duda in die Stichwahl folgen wird: Der Gegenkandidat wird zur Zielscheibe brutaler Attacken der staatlichen und regierungsnahen Medien; das haben die Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre gezeigt. Neben Printmedien wie Sieci oder Gazeta Polska und dem Internetportal wPolityce fallen vor allem der staatliche Nachrichtenkanal TVP Info und die Abendhauptnachrichtensendung Wiadomości durch ständige und äußerst aggressive Propaganda auf. Sie übertreffen dabei das amerikanische Vorbild Fox News um Längen. Überschriften wie „Ein fremder kultureller Code der Opposition“, „Die oppositionelle Strategie des totalen Chaos“ oder „Die antidemokratische Opposition will die Macht“ samt diffamierender Beiträge sind an der Tagesordnung.
Vor der umstrittenen „Geisterwahl“ stand die politische Auseinandersetzung ganz im Zeichen von Corona. Den geplanten Umstieg auf eine reine Briefwahl begründete der Gesundheitsminister mit dem Argument, dass ein normaler Urnengang innerhalb der nächsten zwei Jahre aus gesundheitlichen Gründen unvorstellbar sei. Das Narrativ änderte sich prompt mit der Verschiebung der Wahl. Viele der zuvor geltenden Restriktionen wurden aufgehoben und die wenigen, die noch in Kraft blieben, wurden von den Kandidaten selbst weitgehend missachtet.
Dank der strengen Lockdown-Maßnahmen waren die Infektionszahlen in Polen zwar zu Beginn der Pandemie im Vergleich zu Westeuropa gering. Doch im Gegensatz zu der zeitgleichen Entwicklung in anderen Ländern gingen sie bis zum Neustart des Wahlkampfs nicht entscheidend zurück. Die Opposition „hat ihre Botschaft von ‚Die Wahl ist eine tödliche Gefahr!‘ zu ‚Lasst uns alle wählen gehen!‘ geändert“, spottete daraufhin der Hauptpropagandist von TVP Info, Samuel Pereira. Dabei übersah er, dass der amtierende Präsident sowie weitere Vertreter des Regierungslagers die Corona-Regeln wiederholt ignoriert haben.
Ein Lied verschwindet
Für den größten Aufreger sorgte der Besuch Jarosław Kaczyńskis samt seiner Entourage am Grab seiner Mutter, und zwar inmitten der Pandemie, als Friedhöfe für Normalsterbliche gesperrt waren. Der Vorfall löste eine Debatte nicht nur über sein Verständnis von Gleichheit vor dem Recht, sondern auch über die Medienfreiheit aus, als das kurz darauf veröffentlichte Lied des Altrockers Kazik Staszewski mit dem sarkastischen Titel „Dein Schmerz ist besser als meiner“ aus der Hitparade des öffentlich-rechtlichen Kultradiosenders Trójka verschwand. Der verantwortliche Redakteur wurde sogar vom Radiochef beschuldigt, die Liste manipuliert zu haben. Viele Redakteure verließen daraufhin den Sender aus Protest.
Kein Wunder, dass unter diesen Umständen Polen in der neuesten Rangliste der Pressefreiheit auf Rang 62 abgerutscht ist. Im Bericht der Reporter ohne Grenzen heißt es: „Parteiischer Diskurs und Hassrede sind in den staatlichen Medien, die zu Propaganda-Sprachrohren der Regierung geworden sind, nach wie vor die Regel. Ihre neuen Leiter tolerieren weder Widerstand noch Neutralität ihrer Angestellten und entlassen diejenigen, die sich weigern, sich zu fügen.“
Sollte Staatspräsident Duda die Wiederwahl gelingen, wird sich diese Situation wohl weiter verschärfen. Denn immer wieder sprechen Politiker des Regierungslagers von der „Repolonisierung der Medien“. Die unabhängige Journalistische Gesellschaft warnte bereits 2019, dass eine derartige Veränderung der privaten Medien mit ausländischem Kapital ihre Unterwerfung unter die PiS-Partei bedeuten würde. Denn nur staatliche Konzerne verfügen über genügend Kapital, um die Anteile zu übernehmen.
Sollte hingegen ein Kandidat der Opposition erfolgreich sein, wird er durch das dem Präsidenten zustehende Vetorecht in die Lage versetzt, den illiberalen Reflexen der PiS-Regierung entgegenzuwirken.
Adam Tarczyk ist Junior Fellow beim Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.
Internationale Politik 4, Juli/August 2020; S. 120-123