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01. Aug. 2006

Wie ernst ist die Krise?

Atomare Proliferation und internationale Ordnung

Nukleare Nichtverbreitung und internationale Ordnung wurden für Jahrzehnte vornehmlich von
den USA garantiert. In dem
Maße, wie die Wirksamkeit multilateraler Institutionen abnimmt, treffen
einseitige Maßnahmen der USA zum Erhalt dieser Systeme international
auf Widerstand. Daraus ergeben sich Spielräume für Länder wie den Iran.
Nicht Rüstungswettläufe sind die Gefahr, sondern die Erosion des
Gewaltverbots und die Möglichkeit von Nuklearkriegen.

Die Sorgen um die Nuklearprogramme Nordkoreas und des Iran sowie die Auseinandersetzungen um das indisch-amerikanische Nuklearabkommen vom Sommer 2005 haben zu einem tiefen Pessimismus über die Aussichten des nuklearen Nichtverbreitungsregimes geführt. Immer häufiger ist zu hören, dass das Regime am Ende und die internationale Ordnung gefährdet sei – fraglich ist allerdings, wie ernst die Krise ist und worin der Zusammenhang zwischen beiden liegt. Derzeit lassen sich vier unterschiedliche Auffassungen darüber identifizieren, warum und wie ernsthaft die nukleare Nichtverbreitungspolitik gefährdet sei und welche Folgen daraus für die internationale Ordnung zu ziehen sind:

  • Weit verbreitet ist die Ansicht der liberalen Rüstungskontrollschule, wonach das nukleare Nichtverbreitungsregime aus drei Gründen gefährdet sei: (1) dem Ausbleiben der Abrüstung durch die Kernwaffenstaaten, (2) dem Fortbestehen von Regelungslücken beim Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968 sowie (3) der Gefahr, die durch Terroristen drohe. Die liberale Rüstungskontrollschule geht davon aus, dass Rüstung prinzipiell problematisch und dass Kernwaffen besonders gefährlich seien.1 Sie betont die Gefahr von Rüstungswettläufen und sieht das größte Risiko-potenzial bei den Kernwaffenstaaten. Diese gäben ein schlechtes Vorbild für die anderen ab, weil sie sich weigerten, ihre Kernwaffen abzurüsten. Anhänger der liberalen Rüstungskontrollschule gehen davon aus, dass in den sechziger Jahren die nukleare Abrüstung zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten fest vereinbart worden sei. Nachdem die Nichtkernwaffenstaaten auf Kernwaffen verzichtet hätten, sei es nun an den Kernwaffenstaaten, ihre Bestände vollständig abzurüsten. Die Schwierig-keiten im Umgang mit tatsächlichen oder mutmaßlichen Vertragsbrechern werden primär als eine Folge der verfehlten Politik der Kernwaffenstaaten, insbesondere der USA, dargestellt.2
  • Demgegenüber steht eine strategische Denkschule, bei der der Kern des nuklearen Nichtverbreitungsregimes anders definiert wird. Demnach hätten sich die Kernwaffenstaaten bei Abschluss des NVV im Jahre 1968 dazu bereit erklärt, Nichtkernwaffenstaaten nukleare Technologien und Materialien zur Verfügung zu stellen, um die ansonsten drohende Proliferation von Kernwaffen zu verhindern. Die Kernwaffenstaaten hätten sich allerdings lediglich rhetorisch zu Abrüstungsmaßnahmen durchgerungen, tatsächlich sei es ihr Bestreben gewesen, ihren Status zu wahren und das Aufkommen weiterer Nuklearmächte zu unterbinden. Die Nichtkernwaffenstaaten hätten sich darauf eingelassen, weil nur so die Möglichkeit bestand, Nukleartechnologie für zivile Zwecke zu nutzen. Infolge der Doppeldeutigkeit der Nukleartechnolgie tendiere die nukleare Ordnung jedoch dazu, sich selbst aufzuheben: Mit zunehmender ziviler Nutzung der Kernenergie würden mehr und mehr Staaten Fähigkeiten erwerben, die es ihnen erlauben, rasch auf ein militärisches nukleares Programm umzusteigen. Diese strukturelle Schwäche des NVV sei Ende der sechziger Jahre absehbar gewesen – nun sei der Zeitpunkt gekommen, wo dieses Regime an seine inneren Grenzen stoße. Von daher werde es notwendig, eine neue Nuklearordnung aufzubauen.3
  • Eine dritte Denkschule ist heute vor allem in den USA in Kongress und Administration vorherrschend. Ihr zufolge ist das nukleare Nichtverbreitungsregime im Prinzip lebensfähig, es sei aber einer Vielzahl von Herausforderungen ausgesetzt, die mit den klassischen Mitteln der multilateralen Diplomatie nicht (mehr) adäquat bewältigt werden könnten.4 Im Gegenteil: Die etablierten Mechanismen der multilateralen, globalen Diplomatie stellten oft eher ein Hemmnis dar, die dortigen Debatten kreisten um zweitrangige Probleme, wirkliche Herausforderungen würden kaum angegangen. Daher sollten auch einseitige oder plurale Maßnahmen ergriffen werden, bis hin zu militärischen und im Notfall präventiven Maßnahmen.
  • Eine vierte, auf die akademische Theoriedebatte beschränkte „realistische“ Denkschule geht davon aus, dass das nukleare Nichtverbreitungsregime eine Anomalität sei – Staaten könne auf Dauer nicht das Recht vorenthalten werden, sich für ihre Sicherheit mit den von ihnen für richtig angesehenen Mitteln auszustatten. Eine Welt mit vielen Kernwaffenmächten sei im Prinzip stabiler als eine Welt, in der nur wenige über diese Waffen verfügten.5

Das heutige nukleare Nichtverbreitungsregime reflektiere die hegemoniale Rolle der USA im internationalen System. Werde diese Hegemonie gefährdet, sei es unvermeidbar, dass das nukleare Nichtverbreitungsregime kollabiere.

Alle diese Denkschulen haben einen realen Kern, alle bleiben aber letztlich unbefriedigend. Die Schwäche der beiden erstgenannten Denkschulen besteht darin, dass sie von der Annahme einer – sicherheitspolitische Interessen konstituierenden – Gruppenbildung zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten ausgehen. Tatsächlich lässt sich kein Staat in seiner Sicherheitsstrategie primär davon leiten, ob er zu der einen oder der anderen Gruppe gehört. Vielmehr dürfte gelten, dass Staaten ihre Sicherheitsstrategien davon abhängig machen, wie sie ihre eigene Lage wahrnehmen und welche Risiken und Bedrohungen sie vorfinden. Es gibt kaum Beispiele von Staaten, die Kernwaffen haben wollen, weil sie dem angeblich schlechten Beispiel der fünf Kernwaffenstaaten nacheifern (Indien dürfte die einzige Ausnahme sein). Auch fällt es schwer, Staaten zu identifizieren, die davon ausgehen, dass sie ein naturgegebenes Recht auf Kernwaffen haben und die darauf warten, dass das Nichtverbreitungsregime zusammenbricht oder dass die Kernwaffenmächte ihnen etwas als Ausgleich für den weiteren Verzicht auf Kernwaffen anbieten. Die überwiegende Zahl der Staaten streben keine Kernwaffen an – eine Tatsache, die im Widerspruch zu der theoretischen Annahme der realistischen Schule steht. Die meisten Staaten akzeptieren es im Übrigen, dass es eine mehr oder weniger dauerhafte Ungleichheit zwischen Kernwaffen- und Nichtkernwaffenstaaten gibt, solange daraus nicht greifbare sicherheitspolitische Benachteiligungen für sie entstehen. Daneben sahen und sehen viele Staaten den Kernwaffenbesitz der USA als Unterpfand für ihre eigene Sicherheit an. Dies galt besonders für die Bundesrepublik Deutschland in der Zeit des Ost-West-Konflikts.

Zwar spricht das Abstimmungsverhalten vieler Nichtkernwaffenstaaten während der Überprüfungskonferenzen des NVV für die These, dass es unterschiedliche Gruppierungen gibt. Aber auch hier gibt es kein einheitliches Auftreten der Nichtkernwaffenstaaten. Selbst diejenigen Regierungen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf den Überprüfungskonferenzen die radikalsten Kritiker der Kernwaffenmächte waren (Mexiko, Malaysia, Nigeria), haben nicht erkennen lassen, dass sie aus Verärgerung über das Verhalten der Kernwaffenmächte eigene Kernwaffen anstreben. Die wenigen Staaten, die im Verdacht standen bzw. stehen, heimliche Kernwaffenprogramme aufzulegen, haben sich bei derartigen Debatten meist zurückgehalten.

Ursachen des Erfolgs der nuklearen Nichtverbreitung

Was hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass die 182 Nichtkernwaffenstaaten des NVV – von wenigen Ausnahmen abgesehen – mit dem nuklearen Status quo zufrieden sind? Wer die Akzeptanz der Ungleichheit zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten erklären will, muss bei zwei Entwicklungen ansetzen, die prägend für die vergangenen Jahrzehnte waren: der Beachtung des zwischenstaatlichen Gewaltverbots und dem Strukturwandel des Staates in den entwickelten westlichen Ländern und den Schwellenländern Asiens und auch Lateinamerikas.

Das zwischenstaatliche Gewaltverbot ist in der Charta der Vereinten Nationen (UN) festgelegt und kann mit Blick auf die vergangenen 60 Jahre als relativ erfolgreich gelten. Dass es heute immer weniger Gewaltausübung zwischen Staaten gibt, liegt nicht nur daran, dass das Gewaltverbot in der UN-Charta verankert ist. Viel wichtiger war und ist, dass es Institutionen und Staaten gibt, die sich dafür verantwortlich fühlen, dass dieses Gewaltverbot auch eingehalten wird. In den über 60 Jahren seit Gründung der UN war es weniger der dafür zuständige Sicherheitsrat der UN als vielmehr die US-Regierung, die sich entweder durch die UN, durch die NATO, in Zusammenarbeit mit Verbündeten oder alleine als Vermittler, Garant von Friedensschlüssen oder Verbündeter erfolgreich für die Einhaltung dieses Prinzips eingesetzt hat. Das Eintreten der USA für das Gewaltverbot markiert den großen Unterschied zu der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als es keine Macht gab, die bereit und fähig gewesen wäre, die internationale Ordnung der kollektiven Sicherheit zu garantieren. Ohne amerikanische Sicherheitsgarantien und ohne wiederholte Bemühungen Washingtons, Konflikte diplomatisch-präventiv zu lösen, in Krisenfällen zu intervenieren und gegebenenfalls auch massiven Druck auszuüben, um regionale Kriege (wie im Mittleren Osten oder Süd-asien) rasch zu beenden, hätte das Gewaltverbot der UN-Charta den gleichen Effekt gehabt wie das Briand-Kellog-Abkommen von 1928. Sprich: Ohne die Wirksamkeit des heutigen Gewaltverbots wäre das nukleare Nichtverbreitungsregime nie erfolgreich gewesen.

Die andere Entwicklung, die den Erfolg des Nichtverbreitungsregimes entscheidend bestimmt hat, war der generelle Strukturwandel des Staates in den westlichen Industrieländern bzw. in den Industrie- und Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas. Im Zuge der Neuordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg hat es in den westlichen Staaten eine Verschiebung der Aufgaben des Staates in Richtung Wirtschaftssteuerung, Modernisierung der Infrastruktur, wohlfahrtsstaatliche Vorsorge und Umverteilung gegeben. Erfolg in der Politik wird weniger in Kategorien territorialer Erweiterungen und Sicherheit definiert, sondern durch die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, durch internationale Konkurrenzfähigkeit und soziale Sicherheit. Mit der Globalisierung hat dieses Modell einer primär ökonomischen und auf innergesellschaftliche Befriedigung abzielenden Staatsrolle auch andere Staaten außerhalb der westlichen Welt mit sich gezogen. Die verstorbene britische Politikwissenschaftlerin Susan Strange hat diese Entwicklung auf das Wirken der USA zurückgeführt. Diese hätten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre strukturelle Macht genutzt, um die Regeln des internationalen Wirtschaftssystems zu bestimmen – und den Staaten Westeuropas und Nordasiens ein freihändlerisches Wirtschaftssystem näher gebracht. Dieses habe mittlerweile eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass die Macht der Staaten zurückgehe und unpersönliche Marktkräfte an Einfluss gewönnen.6

Funktionswandel und Machtverlust des Staates haben Auswirkung auf nukleare Proliferation: Staaten, die großen Wert darauf legen, dass die Wirtschaft funktioniert und deren wirtschaftliches Wohlergehen davon abhängt, dass ihre Firmen Zugang zu internationalen Märkten haben und sie selber ausländische Investoren anziehen, können es sich heute nicht erlauben, Kernwaffen zu beschaffen. Erwin Häckel und Karl Kaiser haben in den neunziger Jahren eine Analyse der Opportunitätskosten einer theoretischen Kernwaffenoption für die Bundesrepublik Deutschland vorgelegt. Das Ergebnis war eindeutig: Die politischen wie wirtschaftlichen Opportunitätskosten wären so hoch, dass sich eine derartige Entscheidung verbietet.7

Vergleichbare Kalkulationen dürften für fast alle Staaten gelten, die nennenswerte nukleare Fähigkeiten besitzen – das sind heute weltweit etwa 50. Es gibt wenige Ausnahmen, aber diese bestätigen die Regel. Dies gilt sowohl für die Länder, die nicht dem NVV beigetreten sind (Israel, Indien, Pakistan) wie für diejenigen, die ihn gebrochen haben. Israel ist eines der wenigen Länder, die tatsächlich ein massives Sicherheitsproblem haben und für die Kernwaffen eine existenzielle Bestandsgarantie darstellen. Indien ist das einzige Land, welches im Sinne der liberalen Rüstungskontrolltheorie das Vorbild der USA, Chinas, Frankreichs und Großbritanniens nachahmt, um seinen Großmachtstatus zu unterstreichen – aber Indien ist unter dem Eindruck seiner stärker werdenden Verflechtung mit der Weltwirtschaft bedeutend zurückhaltender geworden. Der Abschluss des Abkommens mit den USA über zivile nukleare Zusammenarbeit signalisiert, dass auch in Neu Delhi die Zeichen der Zeit verstanden werden. Pakistan wiederum ist Kernwaffenmacht, weil es keinen anderen Weg sieht, um mit der indischen Übermacht fertig zu werden. Irak (unter Saddam Hussein), Libyen und Iran haben gemeinsam, dass sie sich als Produzenten von Rohöl nicht so sehr um die Einhaltung kooperativer Standards scheren müssen. Der Zufluss riesiger Renteneinkommen hat bei ihnen dazu geführt, dass sich Abenteurer, kriminelle Familienclans, religiöse Eiferer oder Sonderlinge an der Macht halten konnten. Derartige Rentierstaaten können zu Interessenten für Kernwaffen werden – etwa wenn sich ihre internen Probleme in internationale Aggressivität umsetzen und wenn sie internationale Sanktionen oder gar Interventionen verhindern wollen. Nordkorea ist ein Sonderfall, als hier ein Staat existiert, der dank seiner internationalen Isolation Bankrott gegangen ist und der durch nukleare Erpressung glaubt, aus dieser Krise herauszukommen.

Nukleare Ordnung und Gewaltverbot

Somit könnte man der dritten Denkschule zustimmen, wonach die nukleare Ordnung gar nicht so grundsätzlich gefährdet sei. In der Tat ist sie solange sicher, wie die oben skizzierten Elemente der internationalen Ordnung (Sicherung des Gewaltverbots entweder durch den Sicherheitsrat oder die USA sowie der Primat der Ökonomie und der Wohlfahrt) wirksam bleiben. Die Frage ist aber, ob es nicht doch zu einer Erosion der nuklearen Nichtverbreitung als Folge einer Erosion des Gewaltverbots kommen kann. In den vergangenen 15 Jahren ist es zu einer Reihe von Entwicklungen gekommen, die es angebracht erscheinen lassen, von einer Krise des Gewaltverbots zu sprechen. Hierfür waren zwei Gründe verantwortlich:

  • Die zunehmende Gewalt im Rahmen von innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen, am meisten in so genannten Failed States, die mehr und mehr zu einer Realität der heutigen Politik werden. In den meisten von ihnen wurden und werden viele der im Völkerrecht gültigen Prinzipien der Einhegung von Gewalt massiv verletzt, ohne dass es zu nennenswerten Eingriffen der internationalen Staatengemeinschaft gekommen ist.
  • Das Versagen des Zentralorgans der Kollektiven Sicherheit, des Sicherheitsrats der UN, anlässlich der großen internationalen Krisen der vergangenen 15 Jahre (Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Ruanda, Kongo, Sudan, Irak, Nordkorea, Naher Osten) hat erheblich dazu beigetragen, dass es in verschiedenen Regionen der Welt zur Erosion des Gewaltverbots gekommen ist. Das betrifft vor allem Afrika. Dort, wo die USA, die NATO oder Allianzen westlicher Staaten (mit oder ohne) Mandat der UN eingegriffen haben, konnte diese Erosion gestoppt werden.

Darüber hinaus muss mit großer Sorge festgestellt werden, dass in der islamischen Welt gewaltbereite Parolen des politischen Islam an Zustimmung gewinnen, die – wenn sie einmal politisches Programm von existierenden Regierungen werden sollen – das Potenzial haben, zu einer fundamentalen Herausforderung des internationalen Gewaltverbots zu werden. Wie sehr nukleare Ordnung und internationale Ordnung zusammenhängen, erkennt man daran, dass ein Umkippen des Gewaltverbots dann stattfinden könnte, wenn es radikalen Vertretern des politischen Islam gelänge, die Kontrolle über Kernwaffen zu erhalten. Im Fall eines nuklear bewaffneten Iran muss damit gerechnet werden, dass es zu einem Nuklearkrieg im Mittleren Osten kommt, sobald die sonst nur rhetorisch beschworene Auslöschung Israels eine reale Option wird: Israel könnte aufgrund seiner geringen territorialen Größe schon mit einer kleinen Zahl von Atomexplosionen „ausgelöscht“ werden.8

Prekäre Rolle der USA

Ohne das wiederholte Eintreten der USA (alleine oder im Zusammenschluss mit Europäern und anderen Staaten der westlichen Welt) für das Gewaltverbot und für die Einhaltung des NVV wäre die internationale Ordnung wie auch das nukleare Nichtverbreitungsregime heute kaum noch existent oder nur noch auf den Westen beschränkt. Insofern ist es folgerichtig, wenn – wie die Vertreter der dritten Denkschule es sehen – die USA zu einer Art Garantiemacht des Nuklearen Nichtverbreitungsregimes und des internationalen Gewaltverbots werden. Das Problem dabei ist nur: Je mehr sich die USA dazu bereit finden, die Defizite der multilateralen internationalen Institutionen auszugleichen, umso mehr wächst der Widerstand dagegen.

Für diesen Widerstand gibt es zwei Gründe: Zum einen führt unilaterales Vorgehen einer Supermacht wie der USA – auch wenn es von der Sache her begründet ist – oft zu Gegenbewegungen, die aus einer generellen Abwehr- und Widerstandshaltung resultieren oder die Vorurteile und Feindbilder reflektieren. Zum anderen ist auch die amerikanische Politik nie ohne Fehler und Unwägbarkeiten und oft sind starke Zweifel an der Qualität und Professionalität der im Namen der USA handelnden Personen berechtigt. Dies war und ist auch in anderen Bereichen der Fall,9 aber noch nie war dieses Problem so deutlich akzentuiert wie unter der gegenwärtigen Administration. Die dilettantisch vorbereitete und durchgeführte Invasion des Irak (die die Autorität des UN-Sicherheitsrats wiederherstellen sollte und dann im Einzelnen mit haarsträubenden Falschmeldungen begründet wurde) und die katastrophale PR-Politik der Bush-Administration haben dazu geführt, dass in einer Vielzahl von Ländern die USA als größere Gefährdung der internationalen Sicherheit angesehen werden als der Iran mit seinen nuklearen Ambitionen. Damit wird das grundlegende Dilemma der Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung (des Gewaltverbots) wie der nuklearen Nichtverbreitung deutlich. Je mehr deren Aufrechterhaltung aufgrund der Schwäche der multilateralen Institutionen durch die USA wahrgenommen werden, umso problematischer wird es, hierfür internationale Zustimmung zu gewinnen. Im Gegenteil: Je mehr die USA als unilateral handelnder Akteur vorgehen, umso stärker wird der Widerstand dagegen. In dieser Lage eröffnen sich für Staaten, die diese Ordnung massiv herausfordern, ungeahnte Gelegenheiten.

Die iranische Führung hat diese Chance erkannt und nutzt die Situation, um dem Iran die Fähigkeiten zu verschaffen, so dicht wie nur irgend möglich an den Bau einer Atomwaffe zu kommen. Das Bemerkenswerte hierbei ist, dass der Iran nach der Enttarnung seiner heimlichen Anreicherungsprogramme im Jahr 2002 die politische Offensive gewählt hat und als lautstarker Verfechter des Rechts aller Staaten der Dritten Welt auf nukleare Anreicherung auftritt. Das islamistische Mullah-Regime in Teheran nutzt die seit 2003 offenkundig gewordenen Brüche zwischen den USA und ihren Verbündeten, um eine Konfrontation mit den USA und den UN zu inszenieren. Damit kann es auch seine innenpolitische Machtstellung stärken. Die Führung in Nordkorea verhält sich in einer Weise, die erkennen lässt, dass sie die internationale Lage ähnlich einschätzt.

Der Kampf um die nukleare Nichtverbreitungspolitik wie um die internationale Ordnung kann verloren gehen, wenn sich dieser Trend fortsetzt. Kein geringerer als der frühere US-Außenminister Henry Kissinger hat warnend darauf hingewiesen, dass beide Krisenfälle einen Wendepunkt der Geschichte markieren können. Ähnlich wie in den dreißiger Jahren könnte es zu einem Kollaps der internationalen Ordnung kommen, wenn diejenigen Mächte, die für deren Einhaltung stehen, diese nicht mehr stützen. „Ein Scheitern der Diplomatie“, so Kissinger, „wird uns vor zwei Alternativen stellen: entweder Gewalt einzusetzen oder eine Welt zu akzeptieren, wo die institutionalisierten Beschränkungen des Gebrauchs von Gewalt zerfallen, weil diejenigen Staaten [gemeint ist der Westen], die am meisten von der Wirksamkeit dieser Beschränkungen profitieren, unfähig oder unwillig sind, herausfordernde Fanatiker in die Schranken zu weisen“.10

Optionen deutscher und europäischer Politik

In dieser Situation hängt vieles davon ab, wie sich die Regierungen Europas und die Bundesregierung verhalten. Viele vertreten die Ansicht, alles werde besser, wenn sich die USA wieder als wohlmeinender Hegemon verhalten und in den Schoß multilateraler Diplomatie zurückkehren.11 Dieser Vorschlag ist zwar vernünftig, jedoch: Wenn innerhalb des etablierten Multilateralismus die Aufrechterhaltung des Gewaltverbots wie der Nichtverbreitungspolitik nicht mehr gewährleistet sind, dann reicht die Forderung nicht aus, dass sich die USA fortan an Beschlüsse multilateraler Institutionen halten sollen.

In dieser Lage sollte es Aufgabe deutscher und europäischer Diplomatie sein, Wege aus dem Dilemma zu weisen. Eine derartige Politik sollte darin bestehen, die USA dadurch wieder an den Multilateralismus heranzuführen, dass dafür Sorge getragen wird, den sicherheits- und abrüstungspolitischen Multilateralismus effektiver zu gestalten. „Effektiver Multilateralismus“ ist bereits eine akzeptierte Formel deutscher und europäischer Außenpolitik, die Umsetzung dieses Postulats ist allerdings noch keinesfalls weit gediehen.

Deutlich erkennbar wird die Umsetzung dieses Postulats bei den Versuchen der Bundesregierung, im Rahmen der EU-3 sowie in den informellen Gesprächen der Sechsergruppe (die fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrats plus die Bundesrepublik Deutschland) zu einvernehmlichen Lösungen der iranischen Nuklearkrise beizutragen. Dieses Vorgehen stellt eine Verknüpfung etablierter multilateraler Institutionen mit informellen Formen multilateraler Diplomatie dar. Ob diese Politik effektiv sein wird, wird sich in den kommenden Wochen erweisen.

Defizite sind jedoch in einem anderen Bereich erkennbar. Man fragt sich, warum weder die Bundesregierung noch die anderen europäischen Staaten versucht haben, die Effizienzreserven multilateraler Institutionen für die Festigung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags zu nutzen. Anstelle einer direkten Kritik an Iran wäre es etwa besser gewesen, der Sicherheitsrat hätte sich zuerst generell mit dem Problem von solchen Nichtkernwaffenstaaten beschäftigt, die als Vertragsstaaten des NVV ihre Privilegien nutzen, um an sensible Technologien heranzukommen, die ihnen die Möglichkeit verschaffen, sich später als Kernwaffenstaaten zu outen. Ziel eines derartigen Vorgehens der Staatengemeinschaft hätte es sein müssen, den Sicherheitsrat zu allgemeinen Stellungnahmen und zu rechtlich verbindlichen Interpretationen des NVV zu veranlassen. Hier wären drei Maßnahmen denkbar gewesen:

  • Zum einen hätte der Sicherheitsrat für den Fall, dass ein Nichtkernwaffenstaat im Verdacht steht, die Sicherungsmaßnahmen der IAEO zu verletzen, festlegen können, dass die IAEO Sondervollmachten für Inspektionen bekommt und dass das erweiterte Inspektionsprotokoll der IAEO vom Mai 1997 auch dann gilt, wenn der fragliche Staat es noch nicht ratifiziert hat. Auslöser für ein solches Verfahren müsste die Überweisung des Falles durch den Gouverneursrat der IAEO an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sein.
  • Der Sicherheitsrat hätte allgemeine Maßnahmen verhängen können, die einem eventuellen Vertragsaustritt des Iran oder anderer Staaten zuvorkommen würden – die Austrittsklausel des NVV erlaubt es derzeit jedem Nichtkernwaffenstaat, nach einer Kündigungsfrist von 90 Tagen von allen Bestimmungen des Vertrags befreit zu sein. Hier wäre eine vorab getroffene Festlegung des Sicherheitsrats sinnvoll gewesen, wonach jeder Nichtkernwaffenstaat, der aus dem NVV austritt nachdem Zweifel an seiner Vertragstreue aufgekommen sind, eine Bedrohung des internationalen Friedens darstellt und Handlungen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta erforderlich macht.
  • Der Sicherheitsrat hätte eine Resolution beschließen können, nach der bei bestimmten, sensitiven Technologien Artikel II des NVV Vorrang vor Artikel IV hat und dass Anreicherungs- und Wiederaufarbeitungstechnologien nur bei jenen Nichtkernwaffenstaaten zulässig sind, die einen Bedarf schlüssig nachweisen können (dazu gehören eine Mindestzahl an Kraftwerken) und für die jeweils gesonderte Kontrollregime durch den Sicherheitsrat verabschiedet werden. Die entsprechenden sachlichen Vorabklärungen sind bereits Ende der siebziger Jahre im Rahmen der Nuclear Suppliers Group sowie der International Nuclear Fuel Cycle Evaluation getroffen worden. Damals haben sich die Staaten mit wesentlichen nuklearen Aktivitäten nach jahrelangen Streitigkeiten bereit gefunden, auf die Verfolgung und Weitergabe von sensitiven nuklearen Technologien zu verzichten und andere riskante Technologien herunterzufahren. Man fragt sich, warum es nicht möglich gewesen ist, derartige Bestimmungen im Rahmen einer interpretierenden Resolution des UN-Sicherheitsrats rechtlich verbindlich zu machen. Dieser Schritt hätte es der Führung in Teheran erschwert, ihre herausfordernde Haltung beizubehalten und dafür noch Unterstützung bei den Nichtpaktgebundenen zu bekommen.

Dass es möglich ist, Effektivitätsreserven etablierter multilateraler Organisationen zu nutzen, ist im Verlauf der Iran-Krise deutlich geworden, als die Safeguards-Abteilung der IAEO eine zentrale Rolle bei der Sichtung und Bewertung der Informationen spielte. Auch in der Frage der Aufklärung des Netzes von A. Q. Khan hat die IAEO positive Beiträge geleistet. In den vergangenen Jahren ist es zu einer erheblichen Verbesserung der technologischen Möglichkeiten der Überwachung gekommen.

Ein wichtiger Beitrag der Europäer zum Gelingen des Multilateralismus könnte auch darin liegen, einen Beitrag zur verbalen Abrüstung in der multilateralen Abrüstungs- und Rüstungskontrolldiplomatie zu leisten. Derzeit sind es vor allem Staaten der Nichtpaktgebundenen, die – oft im Einklang mit NGOs – die internationalen Bemühungen im Nichtverbreitungsbereich dadurch erschweren, dass sie mit einseitiger Rhetorik meist Front gegen die USA machen (das war schon lange vor George W. Bush so) und mit überzogenen Forderungen multilaterale Beratungs- und Verhandlungsgremien lahm legen. Die oben erwähnte liberale Rüstungskontrollschule hat diesen primär propagandistischen Bemühungen häufig die notwendige argumentative Unterstützung gegeben. In Europa ist es vor allem die schwedische Regierung, die derartige Rhetorik übernimmt. Der oben erwähnte Bericht der Blix-Kommission (der weitgehend die Haltung des schwedischen Außenministeriums reflektiert) ist voller derartiger Argumentationslinien. Indem er die Hauptverantwortung für die derzeit bestehenden Probleme auf die Kernwaffenstaaten (und besonders auf die USA) legt, trägt er dazu bei, dass die problematischen Akteure argumentativ entlastet werden. Zwar geht dieser Bericht kritisch mit dem Iran zu Gericht, aber die Teile, die sich mit den angeblichen Sünden der Kernwaffenstaaten befassen, stellen für den iranischen Staatspräsidenten Machmud Achmadinedschad einen willkommenen argumentativen Beistand dar. Es wäre viel gewonnen, wenn sich die schwedische Abrüstungspolitik stärker im Einklang mit derjenigen der EU befinden würde.

Prof. Dr. JOACHIM KRAUSE, geb. 1951, ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften und Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zudem ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums des Forschungsinstituts der DGAP.

  • 1Ein typisches Beispiel dieser Denkschule ist der im Juni 2006 erschienene Bericht der Blix- Kommission, vgl. Weapons of Mass Destruction Commission (chairman: Hans Blix): Weapons of Terror. Freeing the World of Nuclear, Biological and Chemical Arms’, Stockholm Juni 2006, ins- besondere S. 62 ff.
  • 2Vgl. William Walker: Weapons of Mass Destruction and International Order, London, IISS – Adelphi Paper Nr. 37, 2004.
  • 3 Vgl. Michael Rühle: Das Nichtverbreitungsregime in der Krise – Entsteht eine neue nukleare Ordnung?, Neue Zürcher Zeitung, 20.6.2006, S. 7.
  • 4 Vgl. die Darstellung in Joachim Krause: Die Nichtverbreitungspolitik der Clinton-Administration – Internationale Führungsmacht oder nationaler Alleingang?, Aus Politik und Zeitgeschichte, 50/1999, 10.12.1999, S. 10–17.
  • 5 Vgl. insbesondere Kenneth N. Waltz: The Spread of Nuclear Weapons: More May be Better, London – IISS Adelphi Paper, Nr. 171, 1981.
  • 6 Susan Strange: The Retreat of the State. The Diffusion of Power in the World Economy, Cambridge 1996. Siehe auch das lesenswerte Buch von Philip Bobbit: The Shield of Achilles. War, Peace and the Course of History, New York 2003, insbesondere S. 213 ff.
  • 7 Erwin Häckel und Karl Kaiser: Kernwaffenbesitz und Kernwaffenabrüstung. Bestehen Gefahren der nuklearen Proliferation in Europa?, in: Joachim Krause (Hrsg.): Kernwaffenverbreitung und internationaler Systemwandel, Baden Baden 1994, S. 239–262, insbesondere S. 252 ff.
  • 8 Siehe Joachim Krause: Die internationale Krise um das iranische Nuklearprogramm. Wie geht es weiter? Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 15, April 2006 (www.isuk.org).
  • 9 Vgl. Susan Strange: Reaganomics, the Third World and the future, in: Altaf Gauhar (Hrsg.): Third World Affairs, London 1986, S. 65–72.
  • 10 Henry A. Kissinger: A Nuclear Test for Diplomacy, Washington Post, 16.5.2006.
  • 11 Vgl. Peter Rudolf: Die Rückkehr des liberalen Hegemons, IP, Januar 2006, S. 6–15.