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05. Mai 2014

Wider die normative Kraft des Faktischen

Die Krim-Krise aus völkerrechtlicher Sicht

Ist Russlands Vorgehen in der Ukraine zu rechtfertigen? Ja, oder doch zumindest teilweise, sagt ein vielstimmiger Chor in Deutschland, der von den Altkanzlern Helmut Schmidt und Gerhard Schröder über den Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft bis hin zu Sahra Wagenknecht reicht. Doch halten ihre Argumente einer näheren Prüfung stand?

Wladimir Putin und Helmut Schmidt beurteilen das russische Vorgehen auf der Krim ähnlich. Doch in einem Punkt weichen die beiden Staatsmänner voneinander ab. Während der deutsche Altkanzler das Völkerrecht für nicht so bedeutsam hält, legt der russische Präsident großen Wert auf die Feststellung, die Russische Föderation habe das Völkerrecht respektiert. Bei diesem begrenzten Dissens sind wir näher bei Putin. Allerdings ist dessen Begründung so rechtsirrig, dass man dem Schluss nicht ausweichen kann, die Russische Föderation habe dem Völkerrecht nicht nur mit Taten, sondern auch mit Worten Gewalt angetan.

Nach der Auflösung der Sowjetunion entstand die Ukraine 1991 als Staat im Sinn des Völkerrechts. Die Krim gehört zum Gebiet dieses Staates, was auch Russland anerkannt hat. Durch sein Vorgehen auf der Krim hat es gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstoßen. Diesem ist bereits früher zuwidergehandelt worden, leider auch durch NATO-Staaten.

Doch wenn Helmut Schmidt andeutet, das Gewaltverbot habe deshalb seine Geltung verloren, ist er auf dem Holzweg. Vereinzelten Überlegungen amerikanischer Völkerrechtler zum Trotz legen die Staaten allergrößten Wert auf die Geltung dieser zentralen Norm. In den Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine ist sie im Budapester Memorandum (1994) und im bilateralen Freundschaftsvertrag (1997) bekräftigt worden. Auch diese Verträge hat Russland verletzt. Besonders gravierend ist das im Fall des Budapester-Memorandums: In diesem wurde der Ukraine, weil sie auf ehemals sowjetische Atomwaffen verzichtete, der Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots nochmals gesondert zugesichert, und dies ohne jede territoriale Einschränkung.

Der russische Präsident verweist hingegen darauf, Russland könne das -Gewaltverbot nicht verletzt haben, weil sich seine Soldaten auf der Krim aufhalten durften. In der Tat gestattet das russisch-ukrainische Abkommen über die Schwarzmeerflotte, das 1997 abgeschlossen und 2010 verlängert wurde, die Stationierung russischer Streitkräfte. Doch durften sich diese nur mit der Zustimmung der Ukraine außerhalb ihrer Stützpunkte bewegen. Eine Erlaubnis, ukrainische Häfen und Militärstützpunkte zu blockieren, hat die Ukraine russischen Soldaten aber nicht erteilt.

Ein solches Vorgehen ist nicht nur ein Gewalteinsatz, sondern ein Akt der Aggression im Sinne der von der UN-Generalversammlung 1974 einvernehmlich angenommenen Definition. Entscheidend ist nicht, dass die Stationierungstruppen auf dem fremden Staatsgebiet schießen, sondern dass sie die Grenzen des Stationierungsabkommens überschreiten. Auch Putins Argument, alles sei doch friedlich zugegangen, liegt deshalb völkerrechtlich neben der Sache.

Oder hatte die Ukraine doch zugestimmt? Die neuen Machthaber auf der Krim konnten die Ukraine völkerrechtlich nicht vertreten. Doch brachte der russische Vertreter im UN-Sicherheitsrat wenig später ein „Hilfeersuchen“ des vormaligen Präsidenten Wiktor Janukowitschs ins Spiel. Zum Zeitpunkt des angeblichen Ersuchens war Janukowitsch nach Russland geflüchtet und in Kiew eine neue Regierung gebildet worden. Nach Ansicht der Russischen Föderation war dieser Regierungswechsel verfassungswidrig und deshalb völkerrechtlich unbeachtlich. Es spricht tatsächlich viel dafür, dass der Machtwechsel in der Ukraine die Bahn der ukrainischen Verfassung verließ. Doch wäre er deswegen völkerrechtlich nicht irrelevant. Die Regierung eines Staates im Sinn des Völkerrechts bildet, wer tatsächlich Herrschaft ausübt.

In jüngster Zeit hat die Staatengemeinschaft die Bereitschaft zu erkennen gegeben, von diesem Effektivitätsprinzip eine eng umrissene Ausnahme zugunsten der Legitimität zu machen. So hat der UN-Sicherheitsrat 1997/98 am demokratisch gewählten Präsidenten Sierra Leones, Ahmad Tejan Kabbah, festgehalten, als dieser durch einen Militärputsch zu Fall gekommen war. Doch wie auch immer man den ukrainischen Volksaufstand beurteilt – mit einem Putsch wie im Fall Sierra Leones lässt er sich nicht gleichsetzen. Deshalb behandeln die allermeisten Staaten die neuen Machthaber in Kiew mit Recht als die Regierung der Ukraine im Sinn des Völkerrechts.

Es bleibt die Frage, ob die russischen Streitkräfte der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim bei der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Beistand leisten durften. Hierhin verschob sich am Ende der Schwerpunkt der völkerrechtlichen Argumentation Russlands. An dieser Stelle ist Genauigkeit geboten. Gewiss ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker inzwischen Bestandteil des Völkerrechts. Doch ebenso gewiss ist, dass es seinem Inhaber keine Befugnis gibt, den Austritt aus einem bestehenden Staatsverband zu verlangen und mit Gewalt durchzusetzen. Bislang war auch Russland dieser Meinung, und als Tschetschenen vor einiger Zeit nach Unabhängigkeit strebten, bekräftigte es seine Rechtsposition – beklagenswert – robust. Ein Volk ist innerhalb des Staatsverbands zu schützen, dem es zugehört, etwa durch Autonomierechte, wie sie die Bewohner der Krim genossen.

Nun lenken der russische Präsident und ihm beipflichtende Beobachter hierzulande den Blick auf das Kosovo. Dem „Westen“ wird vorgehalten, er habe hier einen Präzedenzfall geschaffen, auf den sich nun auch Moskau berufen dürfe. Doch hat der Westen im Fall Kosovo keineswegs geltend gemacht, das Völkerrecht gestehe jedem Volk ein Sezessionsrecht zu, das überdies mit militärischem Beistand von außen durchgesetzt werden dürfe. Vielmehr hat ein Teil der Staatengemeinschaft lediglich für eine behutsame Fortentwicklung des Völkerrechts plädiert. Ein Sezessionsrecht sei ausnahmsweise dann in Betracht zu ziehen, wenn die Angehörigen des betreffenden Volkes zum Opfer weitflächiger und schwerster Menschenrechtsverletzungen geworden seien und sich ein weiteres Zusammenleben unter demselben staatlichen Dach als unmöglich erweise.

Auch Russland hatte sich zwischenzeitlich vorsichtig für diese These geöffnet und 2009 vor dem Internationalen Gerichtshof erklärt, ein Sezessionsrecht sei (nur) in dem ganz extremen Fall vorstellbar, in dem das betreffende Volk zum Ziel eines seine Existenz bedrohenden bewaffneten Angriffs durch den Mutterstaat geworden sei. Unabhängige Beobachter sahen kein Anzeichen dafür, dass derartige bewaffnete Angriffe auf der Krim bevorstanden. Putins Einlassung, ohne den beherzten Einsatz der „lokalen Selbstverteidigungskräfte“ hätte es zu solcher Drangsalierung kommen können, wirkt zynisch.

Der Gewalteinsatz Russlands auf der Krim ist also völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen. Er mündete in der russischen Besetzung der Krim. Eine solche kann sich auch ohne Blutvergießen vollziehen, wie es die Genfer Konventionen 1949 (auch unter dem Eindruck der Okkupation Dänemarks 1940) klarstellten. Das im Windschatten der Besetzung eilig und auf Grundlage eines beschränkten Fragenkatalogs durchgeführte „Referendum“ ist völkerrechtlich unbeachtlich. Dabei spielt es keine Rolle, ob Russland die Durchführung der Abstimmung gesteuert oder durch seine militärische Präsenz nur ermöglicht hat.

Die Bewohner der Krim haben sich nicht aus eigener Kraft von der Ukraine gelöst, was das Völkerrecht eventuell hingenommen hätte. Stattdessen hat die Russische Föderation die faktische Eingliederung der Krim in den eigenen Staatsverband durch einen völkerrechtswidrigen Gewalteinsatz zumindest ermöglicht und sodann tätig vollzogen. 1974 hatte die UN-Generalversammlung erklärt, jeder „sich aus einer Aggression ergebende Gebietserwerb oder besondere Vorteil“ sei unzulässig. Diese Aussage gibt geltendes Völkerrecht wieder und erfasst auch die stufenweise Annexion der Krim.

Das Völkerrecht verpflichtet andere Staaten, einem Gebietserwerb, der auf einer völkerrechtswidrigen Gewaltanwendung beruht, die Anerkennung zu versagen. 13 von 15 Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats wollten dies in einer Resolution bekräftigen; China hätte es nicht verhindert. Doch das russische Veto war davor. Immerhin hat die UN-Generalversammlung die Staaten am 27. März 2014 mit großer Mehrheit aufgerufen, den Wechsel der territorialen Souveränität auf der Krim nicht anzuerkennen.
Die Erfüllung dieser Rechtspflicht wird (wie in den vergleichbaren Situationen in Osttimor oder Nordzypern) fühlbare Wirkungen im Alltag der internationalen Beziehungen zeitigen. Die Regierung in Kiew kann etwa internationale Direktflüge auf die Krim verhindern und die Seehäfen des Schwarzen Meeres schließen. Auch dürfen die Staaten mit Russland keine Verträge schließen, die sich auf die Krim erstrecken. Lediglich politisch neutralen Hoheitsakten russischer Behörden, wie etwa Eintragungen in Geburts- und Eheregister, muss die Anerkennung nicht verweigert werden.

Die Rechtspflicht zur Nichtanerkennung ist in der Krim-Krise von besonderer Bedeutung. Denn der UN-Sicherheitsrat ist „strukturell“ außerstande, kollektive Zwangsmaßnahmen zu verhängen, und eine militärische Wiederherstellung des Status quo ante steht politisch nicht zur Debatte. Nichtmilitärische Gegenmaßnahmen (etwa im Wirtschaftssektor) sind völkerrechtlich mit Zustimmung der Ukraine möglich; doch zeigt die Praxis der EU, wie schwierig es ist, die politische Bereitschaft für spürbare Sanktionen aufzubringen. In einer solchen Situation verlangt das Völkerrecht von den Staaten immerhin, sich der drohenden normativen Kraft des Faktischen mit langem Atem entgegenzustellen. Das ist mit der Unbequemlichkeit verbunden, gegenüber einem mächtigen Völkerrechtsbrecher nicht bereits nach einer kleinen „Schonfrist“ wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. „Abgeklärten Realisten“ mag allein Letzteres vernünftig erscheinen. Doch der Schaden für das Gewaltverbot wäre beträchtlich. Vor allem für verletzliche Staaten.

Prof. Dr. Claus Kreß ist Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht an der Universität zu Köln

Prof. Dr. Christian J. Tams ist Professor für Internationales Recht an der Universität Glasgow.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 16-19

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