Neue Gefahren, alte Gesetze?
Buchkritik
Neuartige Phänomene wie Computerangriffe und nichtstaatliche Gewalt bedrohen die internationale Sicherheit. Welche Lehren zieht das internationale Völkerrecht aus dieser Entwicklung? Vier Neuerscheinungen dokumentieren das gestiegene Interesse auch deutscher Völkerrechtler am Thema Friedenssicherungsrecht.
Steht das in der Satzung der Vereinten Nationen festgelegte Friedenssicherungsrecht zur Disposition? Könnte es bereichsweise durch ein nachfolgendes Völkergewohnheitsrecht ersetzt worden sein? Fragen, auf die derzeit angesichts bisher unbekannter globaler Bedrohungen und eines völkerrechtlichen Wandels im Umfeld des Friedenssicherungsrechts eine Antwort gesucht wird. Sie stehen im Mittelpunkt einer neuen Trierer Dissertation.
Dabei stellt der Verfasser, Christian Stelter, mit Recht fest, dass das Läuten der Totenglocke für das Gewaltverbot nach Artikel 2 Nr. 4 der UN-Satzung durch amerikanische „Leugner des Friedenssicherungsrechts“ zu früh kommt. Gleichzeitig ist Stelter im Unterschied zu vielen seiner deutschen Kollegen aufmerksam genug, um zu erkennen, dass das völkervertragliche Friedenssicherungsrecht nach der - UN-Satzung weder deckungsgleich mit seinem Pendant im Völkergewohnheitsrecht ist noch in vollem Umfang dem so genannten „zwingenden Recht“ zugeordnet werden kann.
Zur Gewaltanwendung im Rahmen des kollektiven Sicherheitssystems der UN-Satzung fördert der Autor keine neuen Erkenntnisse zu Tage. Lesenswerter sind seine Darlegungen zur unilateralen Gewaltanwendung durch den Staat respektive durch „Koalitionen der Willigen“. Indes sieht sich der Verfasser außerstande, Änderungen des Friedenssicherungsrechts nachzuweisen. Da er das überkommene Recht nach der UN-Satzung tendenziell restriktiv auslegt, bestätigt der Verfasser am Ende zu fast allen brennenden Fragen – präventive Selbstverteidigung, Selbstverteidigung gegen den globalen Terror, Gewalt zur Beendigung massiver Menschenrechtsverletzungen – die orthodoxe Lesart der in Deutschland lange Zeit herrschenden Auffassung. So soll es ohne entsprechende Ermächtigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kein präventives Selbstverteidigungsrecht, kein Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche bewaffnete Angriffe und kein Recht zur gewaltsamen Beendigung von Menschenrechtsverletzungen geben.
Völkerrechtspolitisch überzeugen diese Ergebnisse den Verfasser selbst nicht durchweg, dem Rezensenten erscheinen sie auch völkerrechtlich wenig einsichtig. Sie beruhen fast durchgängig auf einer Verbindung von zu enger Textauslegung und unvollständiger oder anfechtbarer Auswertung der Staatenpraxis. Deren Wert bleibt unterbelichtet. Die vollständige Auswertung der inzwischen weit verzweigten Praxis war indes im Rahmen einer Dissertation auch nicht zu leisten. Am Ende stellt sich der fast zu befürchtende Gesamteindruck ein, dass Stelters weit ausgreifender thematischer Zugriff von etwas zu viel Ambition zeugt.
Dem Umfang nach weitaus bescheidener ist die Themenwahl der Schweizer Arbeit von Nikolas Stürchler. Mit dem Verbot der Androhung von Gewalt als Teilaspekt des Gewaltverbots widmet sich der Verfasser einem von ihm treffend so bezeichneten „blind spot“ des geltenden Friedenssicherungsrechts. Die Vorgeschichte ist rasch erzählt: Nach einer ersten – lateinamerikanischen – Initiative zur ausdrücklichen völkerrechtlichen Beschränkung der Gewaltandrohung im Jahre 1890 blieb die Aussage der Völkerbundsakte zum Thema diffus. Wie der Autor nachweist, fand die Drohungsvariante des Gewaltverbots schließlich als Rudiment weitergehender amerikanischer Überlegungen Eingang in Artikel 2 Nr. 4 der UN-Satzung. Ursprünglich hatte das State Department erwogen, das Gewaltverbot auf das Feld der Rüstungskontrolle zu erstrecken, doch ließ man diesen Plan rasch fallen.
Was die Schöpfer der UN-Satzung mit dem stattdessen statuierten Verbot der „Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen“ genau im Sinn hatten, vermag der Autor dem Dunkel nicht zu entreißen. Stattdessen vertieft er sich zu Recht, und überdies methodisch höchst reflektiert, in das Studium der nachfolgenden internationalen Praxis. Nur diese kann näheren Aufschluss bringen, ob ein völkerrechtswidriger Gewalteinsatz angedroht, ob die Drohung gegenwärtig sein muss, und schließlich, ob der Drohung ein „nötigendes Element“ innezuwohnen hat. Dabei macht der Verfasser deutlich, dass die völkerrechtspolitische Haltung zu diesen Fragen davon abhängen wird, ob man eine Politik der Androhung von Gewalt auf der Grundlage eines „Abschreckungsmodells“ unter Umständen für nützlich, ja nach der Erfahrung der dreißiger Jahre als geradezu Gewalt verhindernd erachtet, oder ob man fürchtet, dass Gewaltdrohungen auf der Grundlage eines „Spiralenmodells“ der Gewaltanwendung den Boden bereiten – hier mag die Erfahrung vom Juli 1914 Pate stehen.
Die bisherigen Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs vermögen die Lage nur ansatzweise aufzuhellen. Immerhin hat sich das Gericht in seinem Atomwaffen-Gutachten aus dem Jahre 1996 dafür ausgesprochen, dass die verbotene Drohung auf einen völkerrechtswidrigen Gewalteinsatz zielen muss. Sehr weit gehend deutet sich in demselben Gutachten auch die Überzeugung an, bereits der Besitz von Nuklearwaffen könne die verbotene Androhung ihres Einsatzes implizieren. Seine Analyse führt den Verfasser zu einem sehr nuancierten Befund: Während tendenziell nur eine hinreichend konkrete Drohung auf völkerrechtliche Bedenken stößt, laufen andererseits auch implizite Androhungsformen wie insbesondere die Demonstration militärischer Macht etwa durch Manöver Gefahr, völkerrechtlichen Protest hervorzurufen.
Interessant ist der Schluss, den der Autor aus seiner näheren Betrachtung des verbalen Schlagabtauschs vor dem Ausbruch des Kosovo-Kriegs 1999 sowie des Irak-Kriegs 2003 zieht. Hier sieht er deutliche Anhaltspunkte für die Bereitschaft der Staatengemeinschaft, die Androhung von Gewalt zur Durchsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats auch dann hinzunehmen, wenn diese Androhung den Fall mit einschließt, dass es am Ende nicht zu einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den Sicherheitsrat kommen sollte. Die Drohung, Gewalt in einer Notwehrsituation anzuwenden, stößt nach Stürchlers Analyse auf verbreitete Zustimmung, sofern eine solche Drohung auf die Abwehr eines erkennbar bevorstehenden Angriffs gerichtet ist. Stürchler hat ein hervorragendes Buch geschrieben, dem auch die Beachtung durch die internationale Politikwissenschaft zu wünschen ist.
Anders als der Titel es nahelegt, thematisieren die Beiträge des Bandes „The Security Council and the Use of Force“ nicht nur das kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen, sondern auch die unilaterale Gewaltanwendung. Eine Reihe von Autoren, unter ihnen einer der Herausgeber, Nico Schrijver, halten das geltende Friedenssicherungsrecht in dieser Hinsicht keineswegs für überholt oder grundlegend überholungsbedürftig. Darin ist ihnen ebenso zuzustimmen wie in der Erkenntnis, dass es nichtsdestotrotz noch Grauzonen gibt, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Insbesondere bei der Bedrohung durch den globalen Terror erkennen die Autoren fast durchgängig die Tendenz, das Selbstverteidigungsrecht auf die Abwehr nicht-staatlicher bewaffneter Angriffe auszudehnen.
Eine wichtige Detailinformation liefert der amerikanische Regierungsjurist Stephen Mathias, wenn er die in Europa verbreitete Sorge in Frage stellt, die US-Regierung habe sich mit ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie 2002 einem konturenlosen Recht der gewaltsamen Präemption verschrieben. Tatsächlich, so Mathias, komme in dem Dokument lediglich der Wunsch zum Ausdruck, eine internationale Debatte zu starten, ob die engen Grenzen antizipatorischer Selbstverteidigung heute noch für jedes Bedrohungsszenario angemessen sind.
Den zweiten Schwerpunkt des Bandes bilden die Friedensmissionen der Vereinten Nationen. Hier zeigt sich, dass die jeweiligen Mandate seit 1973 in der Gewaltfrage sukzessive größere Spielräume zugelassen haben. War die erlaubte Gewalt zunächst ganz eng auf die Selbstverteidigung des einzelnen Peacekeepers beschränkt, so werden die UN-Kräfte in jüngster Zeit vergleichsweise ausdrücklich ermächtigt, bestimmte Resolutionszwecke erforderlichenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Nach den leidvollen Erfahrungen mit UN-Friedenseinsätzen, die mangels Fähigkeit oder Bereitschaft zum Gewalteinsatz gescheitert sind, kann man diese Entwicklung als Ausdruck einer gewachsenen Einsicht in das mitunter Unausweichliche nur begrüßen.
Was die derzeit schärfste Waffe des Sicherheitsrats angeht, die Ermächtigung von Staaten oder Staatengruppen zur gewaltsamen Friedensdurchsetzung, so bietet der Band insgesamt weniger als man erwarten durfte. Reizvoll ist allerdings eine „inneramerikanische“ Kontroverse zu der Frage, ob der Sicherheitsrat in den Fällen Kosovo 1999 und Irak 2003 versagt hat, weil sich seine Mitglieder am Ende nicht auf eine einheitliche Position verständigen konnten. Während Mary Ellen O’Connell das in beiden Fällen verneint, geht Stephen Mathias davon aus, dass es auch in Zukunft gelegentlich zu Situationen kommen wird, in denen das „Bypassing“ des Sicherheitsrats gerade zur Stärkung des internationalen Friedens geboten ist; das Völkerrechtsregime dafür sei in der Entwicklung begriffen.
Welche Rolle die NATO dabei spielen wird, bleibt ungewiss. Bislang sieht es nicht danach aus, dass es etwa im Darfur-Konflikt zu einem solchen „Bypassing“ kommen wird. Ob das aus Sicht der Gewaltopfer zu begrüßen ist, lässt sich nach der Lektüre des Beitrags von Jeremy Levitt füglich bezweifeln. Fest steht, dass die (wirtschaftlichen) Motive, aus denen heraus insbesondere China seine Position zum Konflikt im Sicherheitsrat zu definieren scheint, wenig mit den Zielen der UN zu tun haben. Immerhin könne, so Levitt, das kooperative Vorgehen zwischen UN und Afrikanischer Union, an deren Ende man sich einigte, der AU die operative Hauptrolle zuzuweisen, ein Modell für die Zukunft abgeben.
Nach dem gegenwärtigen Stand der Verhandlungen wird sich die erste Konferenz zur Überprüfung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahre 2010 mit der Definition des Verbrechens der Aggression (früher: des Angriffskriegs) beschäftigen. Mit einer Einigung kämen die über 80 Jahre währenden Bemühungen um das in Nürnberg so genannte „Supreme international crime“ zum Abschluss, und die Gesamtarchitektur des Friedenssicherungsrechts erhielte ihre völkerstrafrechtliche Befestigung. Die Geschichte des Ringens um das Aggressionsverbrechen hat Oscar Solera in seinem Werk so minutiös dokumentiert, dass sein Buch alsbald zum Standardwerk avancieren könnte. Der Verfasser zeichnet zunächst die Verhandlungen zum Begriff der staatlichen Angriffshandlung nach, die in der Völkerbundszeit begannen und 1974 in die berühmte Aggressionsdefinition der Generalversammlung mündeten. Angesichts der zahlreichen Untiefen dieses Kompromisstextes wendet sich Solera mit Recht gegen die weit verbreitete Vorstellung, er könne ohne Weiteres zum zentralen Baustein des zu formulierenden Straftatbestands avancieren. In einem zweiten Abschnitt erzählt der Verfasser den völkerstrafrechtlichen Teil der Geschichte, vom Nürnberger Strafverfahren über die Arbeiten der Völkerrechtskommission seit 1951 und den dilatorischen Kompromiss von Rom bis zu den laufenden Verhandlungen.
Auch nach seinem Studium der vielen gescheiterten Lösungsvorschläge schreckt der Verfasser nicht davor zurück, einen eigenen Definitionsvorschlag anzubieten. Diesem liegt die richtige Überzeugung zugrunde, dass der Völkerstraftatbestand der Aggression lediglich einen harten Kern der völkerrechtswidrigen Gewaltanwendung erfasst und erfassen sollte. Diesen Kernbereich möchte Solera über das Erfordernis einer spezifischen Zielsetzung des Gewalteinsatzes begreifen. Der „Animus aggressionis“ soll auf die völkerrechtswidrige Änderung des Status quo gerichtet sein.
Das so beschriebene „Gesamttatziel“ des Aggressionsverbrechens ist wohl weniger eng als etwa dasjenige der (dauerhaften) Beherrschung des Zielstaats, doch erlaubt auch Soleras Kriterium sinnvolle Abschichtungen, wie der Verfasser anhand der Fallstudien Kosovo 1999, Afghanistan 2001 und Irak 2003 demonstriert. So verbleibt eine genuine humanitäre Intervention ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat nach Soleras Ansatz zu Recht außerhalb des völkerrechtlich Strafbaren. Dass Grenzfälle wie der gewaltsame Regimewechsel zur Durchsetzung völkerrechtlicher Pflichten aus Sicherheitsratsresolutionen bestehen bleiben – siehe Irak 2003 – ist kein durchschlagender Einwand gegen den Lösungsansatz, über den es weiter nachzudenken lohnt.
Christian Stelter: Gewaltanwendung unter und neben der UN-Charta. Berlin: Duncker & Humblot 2007, 320 Seiten, 68,00 €
Nikolas Stürchler: The Threat of Force in International Law. Cambridge University Press 2007, 384 Seiten, 88,50 $
Niels Blokker und Nico Schrijver: The Security Council and the Use of Force. Theory and Reality - A Need for Change? Boston: Martinus Nijhoff Publisher 2005, 330 Seiten, 104,99 €
Oscar Solera: Defining the Crime of Aggression. London: Cameron May International Law & Policy 2007, 521 Seiten, 85,00£
Prof. Dr. CLAUS KRESS, geb. 1966, ist Professor für Völkerrecht sowie deutsches und internationales Strafrecht an der Universität zu Köln.
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 163 - 167