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01. Juli 2007

Völkerrecht

Claus Kreß über Terror, Krieg und staatliche Selbstverteidigung

Rezensionen zu "Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht", "Terrorism and the State. Rethinking the Rules of State Responsibility", "The Chapter VII Powers of the United Nations Security Council" sowie "Essays on War in INternational Law"

Internationaler Terrorismus und Selbstverteidigungsrecht

Christiane Wandscher | Duncker & Humblot 2006, ISBN 3428120167, 340 Seiten.

Erstreckt sich das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht unter Umständen auf die militärische Abwehr schwerer transnationaler nichtstaatlicher Gewalt? Diese Position, die der Verfasser dieser Zeilen 1995 in seiner Schrift „Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht nach der Satzung der Vereinten Nationen in Fällen staatlicher Verwicklung in Gewaltakte Privater“ vertreten hat, war vor dem 11. September 2001 in Deutschland (nicht jedoch in der anglo-amerikanischen Diskussion) deutlich in der Minderheit. Inzwischen hat sich das Meinungsbild gewandelt. Es ist das Verdienst von Christiane Wandscher, in ihrer am ehrwürdigen Walther-Schücking-Institut der Universität Kiel entstandenen und von Rainer Hofmann und Jost Delbrück betreuten grundsoliden Studie die bis zum 11. September 2001 hierzulande herrschende Ansicht erstmals minutiös begründet zu haben. Sie gelangt zu dem Schluss, das Selbstverteidigungsrecht nach der UN-Satzung setze einen staatlichen bewaffneten Angriff voraus, und die Zurechnung terroristischer Gewaltakte zum Staat erfordere, dass dieser Staat zumindest das „Ob“ der Gewaltanwendung kontrolliert hat. Die hierzu entfaltete Argumentation ist gut lesbar und hat Gewicht, doch überzeugt sie am Ende nicht. Vielmehr sprechen sowohl der Wortlaut des Artikels 51 der UN-Satzung als auch die – in dem Buch wegen der Verengung des Blickes auf „terroristische“ nichtstaatliche Gewalt bei weitem nicht vollständig ausgebreitete – Staatenpraxis für ein Selbstverteidigungsrecht gegen schwere transnationale nichtstaatliche bewaffnete Angriffe; und das gilt bei Licht betrachtet nicht erst seit dem 11. September. Wandschers Position zufolge ist nicht nur die NATO-Operation „Enduring Freedom“ schwerlich zu rechtfertigen – ein Staat ist generell schwerer transnationaler Gewalt aus einem agonisierenden („failing“) Staat heraus wehrlos ausgeliefert, sofern sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als handlungsunwillig erweist. Kaum eine Regierung dieser Welt wird eine solche Rechtsauffassung verantworten wollen, und ein nüchterner Blick auf die letzten 200 Jahre Staatspraxis bestätigt das. In Anbetracht dessen macht sich die deutsche Völkerrechtslehre inzwischen glücklicherweise verstärkt Gedanken über die exakten Voraussetzungen und Grenzen des – gewiss prekären – Notwehrrechts bei transnationaler nichtstaatlicher Gewalt, statt in einem praxisfernen und völkerrechtspolitisch überaus zweifelhaften Verbotsrigorismus zu verharren.

Terrorism and the State. Rethinking the Rules of State Responsibility

Tal Becker | Hart Publishing 2006, ISBN 9781841136271, 390 Seiten

Sehr realitätsnah argumentiert der israelische Völkerrechtler Tal Becker, was mit seiner langjährigen Tätigkeit im Außenministerium seines Staates zu tun haben mag. Becker geht der Frage nach, ob die Regeln über die Zurechnung privaten Verhaltens zum Staat im Zuge der Staatenpraxis seit dem 11. September 2001 eine Änderung erfahren haben. Die Frage ist deshalb spannend, weil sie zu den Grundlagen des Völkerrechts der Staatenverantwortlichkeit für völkerrechtswidriges Verhalten zurückführt und gleichzeitig eine für das moderne Friedenssicherungsrecht kaum zu überschätzende Bedeutung aufweist. Denn Beckers Zurechnungsfrage entscheidet auch bei Anerkennung eines Selbstverteidigungsrechts gegen nichtstaatliche Angreifer darüber, ob bei der Verteidigung – wie im Fall der Operation „Enduring Freedom“ – über die nichtstaatlichen Ziele hinaus auch staatliche Positionen (im Fall Afghanistan genauer: Positionen der faktischen Regierung des Staates) einbezogen werden dürfen. Der Internationale Gerichtshof hat sich in seinem Urteil von 1986 im Streitfall zwischen Nicaragua und den USA für eine relativ hohe Zurechnungsschwelle ausgesprochen und die „effektive Kontrolle“ der zuzurechnenden privaten Handlung durch den betreffenden Staat verlangt. Becker verweist zu Recht darauf, dass diese These mit der Staatenpraxis nach dem 11. September 2001 nicht im Einklang steht. Becker leitet aus dieser Staatenpraxis die Entwicklung einer neuen Zurechnungsregel ab, bei der die Kausalität (Causation-based Responsibility) an die Stelle des überkommenen Paradigmas von der notwendigen staatlichen Beauftragung des Privaten (Agency Paradigm) trete. Hiernach seien die Al-Qaida-Angriffe auf die USA dem Staat Afghanistan deshalb zuzurechnen, weil dessen faktische (Taliban-)Regierung diese Angriffe durch die Überlassung von Stützpunkten auf dem eigenen Staatsgebiet erst ermöglicht habe. Ob mit dem Begriff der Kausalität der zurechnungsdogmatische Stein der Weisen gefunden ist, mag zweifelhaft sein. Sicher ist, dass Becker die internationale Reaktion auf die von Präsident George Bush jun. verkündete „Harbouring Doctrine“ zutreffend als Belastung für die orthodoxe Zurechnungslehre thematisiert. Der Internationale Gerichtshof hat seinen orthodoxen Standpunkt soeben im Völkermordstreitfall zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien bekräftigt, ohne dass erkennbar geworden wäre, dass sich das Gericht mit kritischen Anfragen der von Becker formulierten Art näher befasst hätte. Sollte sich der Gerichtshof in der Zukunft mit dem Selbstverteidigungsrecht gegen schwere transnationale Terrorakte zu befassen haben, so kann man sich nur wünschen, dass die Richter das Werk Beckers zu Rate ziehen, um zu prüfen, ob die Staatenpraxis inzwischen nicht zumindest speziell für den Fall transnationaler, terroristischer Gewaltakte eine Ausnahme von der Lehre der „Effective Control“ herausgebildet hat.

The Chapter VII Powers of the United Nations Security Council

Erika de Wet | Hart Publishing 2004, ISBN 1841134228, 413 Seiten

Als George Bush sen. 1990 die Geburt einer „Neuen Weltordnung“ ausrief, verbanden dies nicht wenige Beobachter mit der Hoffnung, in der Zukunft würden die gefährlichsten internationalen Konflikte über das kollektive Sicherheitssystem der Satzung der Vereinten Nationen domestiziert. Diese Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet, wie sowohl die kollektive humanitäre Intervention in der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien als auch die Durchführung von „Enduring Freedom“ als Maßnahme kollektiver Verteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Satzung zeigen. Dieser Befund ändert nichts daran, dass der Aktionsradius des Sicherheitsrats nach dem siebten Kapitel der Satzung der Vereinten Nationen seit dem Ende des Kalten Krieges beträchtlich zugenommen hat und damit auch die Bedeutung der Frage nach den rechtlichen Grenzen seines Handelns. Das Werk der südafrikanischen Völkerrechtlerin Erika de Wet, die inzwischen in Amsterdam „Völkerverfassungsrecht“ lehrt, ist ein zentraler und nach wie vor aktueller Beitrag zu dieser Debatte. Der Stand der internationalen Diskussion wird souverän zusammengefasst und mit gewichtigen eigenen Überlegungen einer neuen Ebene zugeführt. Wie ein roter Faden zieht sich die Überzeugung durch das sehr gut lesbare Buch, die Handlungsfreiheit des UN-Sicherheitsrats reiche sehr weit, doch unterliege sie letzten rechtlichen Grenzen, die dann auch gerichtlich feststellbar sein müssten. In letzterer Hinsicht sieht de Wet auch und insbesondere Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs als geeignetes Instrument an. Die Begriffe „Friedensbedrohung“, „Friedensbruch“ und „Angriffshandlung“ in Artikel 39 der UN-Satzung seien Rechtsbegriffe und damit nicht der gänzlich freien Bestimmung durch den Sicherheitsrat überantwortet; bei der Auswahl seiner Maßnahmen kollektiver Sicherheit sei der Sicherheitsrat nicht lediglich an zwingendes Völkerrecht („ius cogens“), sondern auch an einen Kernbestand von international anerkannten Menschenrechten gebunden. Ausgehend von diesen Prämissen wird das gesamte Spektrum von Maßnahmen, dessen sich der Sicherheitsrat inzwischen bedient, durchdekliniert – mit der einen, aber betrüblichen Ausnahme quasilegislativer Anordnungen, wie sie sich in der berühmten Antiterrorismusresolution 1373 finden. Besonders spannend liest sich de Wets Analyse der Invasion des Irak durch die „Koalition der Willigen“. Die These der Koalition, der Gewalteinsatz sei durch die Artikel 42 und 48 der UN-Satzung in Verbindung mit Resolution 678 des Sicherheitsrats gedeckt, wird mit Recht verworfen. Zu der in diesem Konflikt bedrohlich aufscheinenden Problematik des Streites über weit und ungenau gefasste Ermächtigungsresolutionen entwickelt de Wet die weitreichende These, derartige Mandate müssten ihre zur Gewaltanwendung berechtigende Wirkung verlieren, sobald die Gewaltanwendung nicht mehr von einer Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrats getragen sei. Vielleicht wird mancher Völkerrechtsberater der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats die Thesen de Wets mit Widerwillen zur Kenntnis nehmen, setzt die Autorin dem unbändigen Willen der Staaten nach maximaler Handlungsfreiheit doch mit starken Argumenten zu. Vielleicht aber wird sich ein solcher Völkerrechtsberater nach der Lektüre der Einsicht nicht länger verschließen, dass die Autorität des Sicherheitsrats auch davon abhängt, dass sich dieses Organ bei der Ausübung seiner sehr beträchtlichen Machtbefugnisse nicht gänzlich von der Bindung an das Recht frei macht.

Essays on War in International Law

Christopher Greenwood | Cameron May 2006, ISBN 1905017324, 701 Seiten

Seit vielen Jahren ist der englische Völkerrechtler Christopher Greenwood als einer der führenden Schriftsteller im Bereich des Friedenssicherungsrechts (das man heute als „ius contra bellum“ bezeichnen kann) und des Rechts der bewaffneten Konflikte (das mit den Genfer Konventionen von 1949 aus dem klassischen „ius in bello“ hervorgegangen ist) international anerkannt. Mit seinen inhaltlich etwas verkürzend so benannten „Essays on War“ versammelt Greenwood seine zentralen Schriften zu beiden genannten Rechtsgebieten aus den letzten 20 Jahren. Hieraus ist kein Lehrbuch erwachsen, dafür aber ein Werk, das zu nahezu sämtlichen Grundfragen des „ius contra bellum et in bello“ kenntnis- und gedankenreich Stellung bezieht. Spannend ist das Stöbern in Greenwoods gleichermaßen elegant wie präzise formulierten Schriften deshalb, weil der Autor die meisten Probleme ausgehend von der aktuellen Konflikts- bzw. Rechtsprechungspraxis entwickelt. So wird die für das geltende Recht weiterhin fundamentale Unterscheidung zwischen Friedenssicherungsrecht und Konfliktsvölkerrecht im Zuge einer luziden Kritik des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs zur Nuklearwaffenfrage entfaltet, Grund und Grenzen des „ius contra bellum“ erhalten über eine Fallstudie zur Bombardierung Libyens durch die USA nach dem Anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ im April 1986 konkrete Konturen. Das kollektive Sicherheitssystem gewinnt durch eine rechtliche Analyse der militärischen Befreiung Kuwaits an Farbe, und das Völkerrecht der militärischen Besetzung wird über eine kritische Schilderung der Praxis Israels lebendig. Es ist ein nicht geringer Gewinn der Lektüre, dass man bei Greenwood fast durchgängig sicher sein darf, dem offiziellen Standpunkt Großbritanniens mindestens nahe zu sein – gilt doch Großbritannien unverändert als ein herausragender Akteur auf dem Feld des Völkerrechts der internationalen Sicherheit. Augenfällig wird die Nähe zur britischen Regierungsposition (die Greenwood dank seines engen Kontakts zum Foreign Office nicht selten mitgestaltet haben mag) bei den Beiträgen zur Kosovo-Operation (1999) und zum Irak-Krieg (2003). Der erste Text liefert eine Argumentation für das Recht zur bewaffneten Intervention zur Abwendung einer drohenden humanitären Katastrophe bei Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrats, die in ihrer Akribie auch die zahlreichen Kritiker nicht unbeeindruckt lassen kann. Was seine Rechtfertigung des Irak-Kriegs anbetrifft, so überzeugt Greenwoods Rechtfertigung am Ende nicht; doch sollten diejenigen, die die Invasion der „Koalition der Willigen“ für „glasklar“ völkerrechtswidrig halten, ihr Urteil im Licht der äußerst scharfsinnigen und ernsthaften Gegenrede Greenwoods überprüfen.

Dr. Claus Kreß LL.M. (Cambridge), geb. 1966, ist Professor für Völkerrecht sowie deutsches und internationales Strafrecht an der Universität zu Köln.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 195 - 199.

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