Essay

01. Jan. 2016

Wer mit dem Teufel speist

… muss einen langen Löffel haben: Zur Renaissance der Realpolitik

Der Aufstieg des IS hat realpolitischen Forderungen Auftrieb gegeben, zusammen mit Baschar al-Assad gegen die Terrormiliz vorzugehen. Ein Plan, der allenfalls geeignet ist, noch verheerendere Konflikte zu schaffen. Und: Die Geschichte lehrt, dass Demokratien nur bestehen, wenn sie den Anspruch nicht aufgeben, ihre Werte weltweit zu verankern.

Als im Spätsommer und Frühherbst 2015 die Flüchtlingswelle aus Syrien den Zusammenhalt der Europäischen Union erschütterte und die militärische Intervention Russlands auf Seiten des massenmörderischen Assad-Regimes das Gemetzel in Syrien auf eine neue weltpolitische Eskalationsstufe hob, erlebte hierzulande ein – lange Zeit gar nicht sehr beliebter – Begriff inflationäre Hochkonjunktur: die Realpolitik.

Zahlreiche Politiker, Analysten und politische Kommentatoren, aber auch Essayisten, die bisher kaum als Experten für die komplexen Zusammenhänge und Hintergründe der Dauerkonflikte im Nahen Osten aufgefallen waren, hantierten nun mit diesem Zauberwort, als offeriere es einen schlagartigen Ausweg aus der immer bedrohlicher näher rückenden Malaise. Von der Frank­furter Rundschau über das Flensburger Tagblatt bis zur Thüringer Allgemeinen formierte sich dabei schnell so etwas wie eine normierte Standardmeinung, in der die Wendung immer wiederkehrte, es sei angesichts des Chaos im Nahen Osten realpolitisch dringend geboten, „notfalls mit dem Teufel zu paktieren“. Gemeint war damit, der Westen müsse über seinen moralischen Schatten springen und, wie von Moskau verlangt, endlich auch mit dem Schlächter Assad gegen den Menschheitsfeind IS an einem Strang ziehen.

Dass, wer mit dem Teufel speisen will, einen langen Löffel haben muss, gehört freilich ebenfalls zum Arsenal deutscher Spruchweisheiten. Ob sich die diversen Gelegenheitsexperten darüber klar waren, mit wem man es bei dem vermeintlich gutwillig zur Befriedung Syriens bereitstehenden Partner tatsächlich zu tun haben würde, darf indes bezweifelt werden. Schwerlich war an dem plötzlichen Enthusiasmus für Realpolitik zu übersehen, dass er eher einem ebenso panischen wie bequemen Wunschdenken als einer ernsthaft durchdachten strategischen Planung entsprungen war. Tatsächlich liefen diese Appelle an den Westen, sich endlich von abstrakter Humanitäts- und Moralduselei in der Weltpolitik zu verabschieden und den nackten Machtverhältnissen in der Welt Tribut zu zollen, auf den Vorschlag hinaus, um des lieben Friedens willen vor der aggressiven Einschüchterungspolitik Wladimir Putins einzuknicken.

Dahinter war nur unschwer die Vorstellung zu erkennen, Putin und sein Schützling in Damaskus könnten uns, als Retter in der Not, den IS wie den syrischen Krieg insgesamt vom Hals schaffen, ohne dass wir selbst uns zu sehr ins gefährliche Schlachtgetümmel einmengen müssten. Für diese Dienstleistung, die sie sich vom starken Mann im Kreml erhofften, waren viele bereit, auch im Blick auf die russische Aggression in der Ostukraine und die völkerrechtswidrige, die europäische Friedensordnung unterminierende Annexion der Krim mindestens ein Auge zuzudrücken.

Wendige Politiker

Als politischer Vorreiter dieses Kurses der Kapitulation vor der imperialen Erpressungspolitik Moskaus profilierte sich unmittelbar nach dem Beginn der russischen Intervention in Syrien der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Er forderte, es müssten nunmehr flugs die Sanktionen gegen Russland wegen der Ukraine überdacht werden, denn die passten ja wohl nicht mehr in ein Klima, in dem man Moskau von einem gemeinsamen Vorgehen in Syrien überzeugen wolle. Dass Putin auf Seiten eines der größten Massenverbrechers der jüngeren Geschichte eine zweite militärische Front eröffnet hatte, um den Westen in die Enge zu treiben, wurde so von dem Vorsitzenden einer Partei, die einstmals an vorderster Front den totalitären Systemen des vergangenen Jahrhunderts getrotzt hatte, in ein Argument dafür umgemünzt, dem Kriegsherrn im Kreml die Konsequenzen für seine erste Aggression zu erlassen. Kurze Zeit später wurde Gabriel dafür mit einer zweistündigen Audienz beim neuen Zaren belohnt. Artig bedankte er sich am Ende dafür, dass Putin sich so viel Zeit für ihn genommen hatte, wo er doch gerade so sehr mit der syrischen Krise beschäftigt sei. In der Tat: Putin hatte eine Luftwaffe zu befehligen, die keineswegs vor allem den IS, sondern die syrische Opposition – und dabei rücksichtslos die Zivilbevölkerung – bombardierte.

Aber nicht nur wendige Politiker wie Wirtschaftsminister Gabriel, der sich zuvor bereits durch von eilfertiger ökonomischer Kooperationsbereitschaft gekennzeichnete Besuche in Saudi-Arabien und der Islamischen Republik Iran als Prototyp des neuen Realpolitikers empfohlen hatte, gaben sich in den vergangenen Monaten dieser Logik einer als Realismus verkleideten Selbstaufgabe des Westens hin. Auch intellektuell anspruchsvolle Köpfe redeten sich in diesem Sinne die tatsächlichen Ziele Assads und seiner Schutzmächte Russland und Iran schön. Der Historiker Götz Aly fand es gar „beruhigend“, dass sich nun die Russen dem Islamismus militärisch entgegenstellten, nachdem der Westen auf diesem Feld nichts Richtiges zustande gebracht habe. Die über 500 zivilen Opfer der russischen Angriffe, die bis Dezember gezählt wurden, spielen bei derartigen Beurteilungen keine Rolle. Auch andere Stimmen ließen durchblicken, dass sie den taffen Russen mehr zutrauen als dem in seine Idealvorstellungen vernarrten Westen. So erklärte der Konfliktforscher Jochen Hipp­ler im Deutschlandfunk, im Gegensatz zum Westen habe Russland in Syrien für die Zeit nach Assad immerhin „eine unerfreuliche, aber halbwegs realistische Perspektive anzubieten“. Den „Rücktritt von schlechten Diktatoren zu fordern“, spottete er, sei „sicher immer eine gute Idee, aber man muss natürlich auch angeben können, wie der nächste Schritt aussehen wird“.

Diese Forderungen, endlich Vernunft anzunehmen und die Realität der Alternative Diktatur oder Chaos anzuerkennen, bauten allerdings ihrerseits auf einer Fiktion auf – nämlich, dass der syrische Diktator, sein Schutzherr Wladimir Putin und seine iranischen Verbündeten tatsächlich willens und fähig seien, dem dschihadistischen Horrorgebilde den Garaus zu machen und Syrien eine stabile und friedliche Ordnung zu bringen. In Wahrheit aber haben sie den IS in Syrien nie ernsthaft bekämpft, sondern im Gegenteil am meisten von dessen ebenso rätselhaftem wie blitzartigem Aufstieg profitiert. Hätte der IS – in faktischer Allianz mit Assads Truppen – die syrischen Rebellen nicht massiv dezimiert, wäre das Baath-Regime in Damaskus längst gestürzt. Dessen Feldzug gegen die eigene Bevölkerung ist die Quelle des uferlosen syrischen Gemetzels in all seinen barbarischen Formen.

Auch die Konstruktion, man könne Assad vorübergehend als „kleineres Übel“ akzeptieren, bis der IS besiegt sei, funktioniert nur unter Ausblendung der wirklichen Verhältnisse in Syrien. Das Assad-Regime, das dem IS an Grausamkeit kaum nachsteht, zum Alliierten zu nobilitieren, hieße nichts anderes, als dessen Wüten gegen die syrische Opposition und Zivilbevölkerung den Segen des Westens zu geben. Statt eines Schrittes in Richtung Frieden wäre dies die Weichenstellung zu womöglich noch verheerenderen Konflikten. Der Westen würde damit nicht nur eine russische Einflusszone in Syrien, sondern auch das aggressive Hegemonialstreben der Islamischen Republik Iran in der Region legitimieren. Wobei es für Putin im Übrigen ein Leichtes wäre, zur Beruhigung des Gewissens des Westens die Figur auszuwechseln, um ein ihm gewogenes baathistisches Regime an der Macht zu halten. Womit man dem IS nur noch mehr sunnitische Rekruten in die Arme treiben würde. Und auch der offene Krieg zwischen dem schiitischen Iran und den sunnitisch-arabischen Mächten wäre damit ein weiteres, großes Stück näher gerückt.

Verhandeln aus einer Position der Stärke heraus

Unberührt von diesen Zusammenhängen pflegt der deutsche Diskurs über Realpolitik jedoch die ebenso irreale wie idyllische Vorstellung, man müsse nur mit aufrichtiger Dialogbereitschaft und unter Eingeständnis der eigenen Schwäche auf alle Beteiligten zugehen, um bei ihnen auf dieselbe ehrliche Einigungsbereitschaft zu stoßen – so, als basiere das Gemetzel in Syrien nicht auf realen, teils unversöhnlichen Feindschaften, sondern auf bedauerlichen Missverständnissen, die sich im vernünftigen Diskurs auflösen lassen.

Realpolitik, wie sie – etwa von der außenpolitischen Schule des früheren US-Außenministers Henry Kissinger – in der wirklichen Welt betrieben wurde, sieht jedoch anders aus. Ihre Prämisse ist, dass man erfolgreiche Verhandlungen mit eingeschworenen Gegnern nur von einer starken eigenen Machtposition aus führen kann – und mit einer klaren Vorstellung davon, welche eigenen Interessen man damit durchzusetzen beabsichtigt. Realpolitik bedeutet, sich diese Machtpositionen unter Ausschluss allzu penibler moralischer Kriterien zu sichern.

Dies hieß etwa für die USA, hinter den Kulissen den Putsch in Chile 1973 zu steuern oder in den achtziger Jahren den Despoten Saddam Hussein aufzurüsten, damit er den strategischen Feind Iran in einen jahrelangen, entsetzlich opferreichen Krieg verwickeln konnte. Wer sich Realpolitik dieser Art wünscht, soll es offen sagen – und dann aber auch nicht mehr über andere westliche Mesalliancen wie die mit Saudi-Arabien klagen. Nicht ernst zu nehmen ist jedoch eine realpolitische Haltung, die nur den Feinden des Westens das Recht auf ruchlose Macht- und Interessenpolitik zugesteht, die eigene ­realistische Perspektive jedoch darauf beschränkt, auf deren guten Willen und verständige Einsichtsfähigkeit zu vertrauen.

Der gegenwärtig im Umlauf befindliche unbedarfte Begriff von Realpolitik baut zudem auf Unkenntnis oder willentlicher Negierung der Entwicklung auf, die das Völkerrecht in den Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges genommen hat. Die diesbezügliche weit verbreitete Amnesie oder Ignoranz in der deutschen Öffentlichkeit ist ein Indiz dafür, wie weit die Absicht des reaktionären Putin-Regimes, diese Errungenschaften wieder zunichte zu machen, bereits von Erfolg gekrönt ist. Die Argumentation der Apologeten einer neuen Realpolitik suggeriert stets, eine von prinzipiellen Leitlinien wie der Achtung von Menschenrechten und der Förderung demokratischer Selbstbestimmung geleitete Außenpolitik sei ein bloßes Hirngespinst weltfremder Utopisten. In der rauen Wirklichkeit gälten jedoch nur die faktischen Kräfteverhältnisse zwischen Staaten – woraus sich offenbar ergeben soll, dass es das Klügste sei, dem jeweils Stärksten nachzugeben. In Wahrheit sind die oben genannten Prinzipien jedoch längst in völkerrechtliche Formen gegossen worden. Sie sind damit selbst ein nicht mehr zu umgehender Faktor der weltpolitischen Realität.

Nach den Erfahrungen mit Ruanda 1994 und Bosnien 1995, als die Weltgemeinschaft tatenlos genozidalen Massakern zugesehen hatte, reifte in den Vereinten Nationen die Erkenntnis heran, dass das Völkerrecht in den Zeiten der Globalisierung einer Erweiterung über das starre Dogma nationaler Souveränität hinaus bedarf. Das Ergebnis war die Formulierung der „Responsibility to protect“ (Schutzverantwortung). Sie verpflichtet nationale Regierungen, ihre Bevölkerung vor Massenverfolgung zu beschützen und ermächtigt die internationale Staatengemeinschaft einzugreifen, wenn sich eine Regierung dazu nicht willens oder fähig zeigt oder solche Massaker sogar selbst betreibt. Durch die ­Unterschrift fast aller UN-Mitgliedstaaten und eine Entschließung des UN-Sicherheitsrats hat die Schutzverantwortung 2005 de facto völkerrechtlichen Status erlangt.

Grundgerüst an Werten und Normen

Bei der Frage, ob man gegen ein die eigene Bevölkerung mordendes Regime wie das Assads einschreiten müsse, ging es also nicht um eine willkürliche westliche Idee von Regime Change, sondern um eine vom internationalen Recht vorgeschriebene Verpflichtung. Indem sie Assad gewähren ließen, verstießen die UN gegen diese von ihr selbst aufgestellte Rechtsvorschrift. Das geht primär auf das Konto der Vetomächte Russland und China, die ihre Anwendung im Namen eines vom Völkerrecht bereits überwundenen absoluten Prinzips der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ torpedieren. Was dieses Nichteinmischungsgebot Putins Russland freilich in Wahrheit wert ist, demonstrierte es unterdessen mit seiner militärischen Aggression gegen die Ukraine, deren unverletzliche Souveränität es noch 1994 im Budapester Memorandum ausdrücklich bekräftigt hatte.

Noch kurz vor ihrer Auflösung hatte die Sowjetunion in der Charta von Paris 1991 die Gültigkeit der Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten als Grundlage für die friedliche Zusammenarbeit der Staaten in Europa als bindend anerkannt. Mit der Annexion der Krim und dem Überfall auf die Ostukraine hat Russland auch diese verbindlichen Vereinbarungen gewaltsam missachtet. Diesen Bruch der internationalen Rechtsordnung nunmehr mit Verweisen auf die angebliche ewige Gültigkeit traditioneller Machtpolitik nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts zu beschönigen, hat nichts mit Realismus zu tun, dafür aber mit einer Selbstaufgabe nicht nur der Grundlagen der westlichen Sicherheit, sondern einer auf rechtlichen Grundlagen beruhenden internationalen Sicherheitsstruktur insgesamt.

Die Erkenntnis, dass internationale Sicherheit ohne ein Grundgerüst an Werten und Normen nicht auskommt, ist das Ergebnis historischer Erfahrungen. Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums hatte die westliche Politik darüber belehrt, zu welchen Fehleinschätzungen bis hin zur Realitätsblindheit es führen kann, wenn bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse unter dem Signum des Realismus für unveränderbar und unantastbar erklärt werden. Und nachdem die Blockkonfrontation überwunden war, in der die Menschheit am Rande der atomaren Vernichtung gestanden hatte, galt es nun, eine internationale Ordnung zu schaffen, die nicht mehr nur von den Entscheidungen alles dominierender Übermächte abhängen sollte. Nicht zuletzt die Europäische Union formierte sich auf der Grundlage dieses postimperialen Prinzips: als Modell einer Staatengemeinschaft, die nicht mehr auf der Unterteilung in Peripherie und Zentrum, sondern auf Gleichberechtigung demokratisch selbstbestimmter Nationen gründen sollte.

In der Periode des Kalten Krieges hieß Realpolitik einerseits, jede Möglichkeit zu verfolgen, um Spannungen zwischen den Blöcken abzubauen, damit die drohende atomare Konfrontation abgewendet werden konnte. Andererseits zielte der realpolitische Ansatz jedoch darauf, den Gegner mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, aber unterhalb der Schwelle des offenen Krieges, zu schwächen und zu unterminieren. Es galt dabei das bekannte Prinzip, dass dieser oder jener Klient im Kampf der Supermächte ruhig ein Schurke sein dürfe, solange er nur „unser“ Schurke sei.

Verdrängt wird heute aber auch, dass Fortschritte in der Entspannungs­politik zwischen Ost und West nur vor dem Hintergrund einer massiven, effektiven Abschreckungskulisse möglich waren, die in der Androhung der atomaren Vernichtung kulminierte. Ein solches Abschreckungskonzept fehlt jedoch in der heutigen Auseinandersetzung mit einer Macht wie Russland, die den Westen durch seine handstreichartigen Attacken auf die seit dem Ende der Blockkonfrontation herangereifte internationale Ordnung überrumpelt. Die Anerkennung des Machtanspruchs der Sowjetunion über Osteuropa durch den Westen war überdies alles andere als eine einseitige Konzession aus einer Position der Schwäche heraus gewesen. In der Schlussakte von Helsinki 1975 mussten sich die Staaten des Warschauer Paktes dazu verpflichten, grundlegende Menschen- und Bürgerrechte zu achten. Auch wenn dieses Zugeständnis einstweilen nur auf dem Papier stand und die kommunistischen Machthaber nicht daran dachten, sich daran zu halten, entfaltete es doch einen nicht zu unterschätzenden Druck. Es ermutigte die Dissidentenbewegungen in Osteuropa und der Sowjetunion, die sich nun darauf berufen konnten, zu einer Menschenrechtsoffensive, die das totalitäre System auf Dauer von innen her zermürbte.

Allerdings nährten die Erfolge bei der Vertragspolitik mit dem Sowjetblock im Westen auch die Illusion, jegliche Veränderung in Osteuropa sei nur im strikten Einvernehmen mit dem herrschenden Machtapparat möglich und im Sinne der Stabilität zulässig. Dies führte dazu, dass sich gerade heute wieder besonders gepriesene, eingefleischte Realpolitiker wie Egon Bahr, der sich in der Frühphase der Ostpolitik gewiss unbestrittene Verdienste erworben hatte, den sich anbahnenden großen historischen Umbruch von 1989/90 bis zuletzt nicht zu erkennen vermochte.

Versuch und Irrtum

Wie wenig realitätstüchtig eine kurzsichtige Realpolitik sein kann, zeigt sich etwa an dem Fiasko, das die Vereinigten Staaten 1979 im Iran erlebten. Das Potenzial der Opposition gegen das von Washington gestützte Schah-Regime wurde sträflich unterschätzt, wenn nicht vollständig ignoriert. Hätte der Westen die Zeichen der Zeit erkannt und Verbindungen zu den säkularen, demokratischen Kräften in der Revolutionsbewegung aufgebaut, die zu Anfang der Erhebung 1979 durchaus noch eine tragende Rolle gespielt haben, hätte er den Durchmarsch zur islamisch-fundamentalistischen Diktatur womöglich verhindern können. Doch im Westen wollte man nicht glauben, dass das vermeintlich so stabile und sich anscheinend so vorbildlich modernisierende Schah-Regime auf tönernen Füßen stand. Sein Realismus, sich nur auf bestehende Machtverhältnisse zu verlassen, führte den Westen auf die Verliererseite der Geschichte.

Im zynischen Sinne realpolitisch betrachtet, darf Washingtons Unterstützung für den irakischen Diktator Saddam Hussein in den achtziger Jahren hingegen als erfolgreich betrachtet werden – wenn auch nur kurzfristig. Denn mit amerikanischer Rückendeckung und Waffenhilfe konnte Saddam Hussein den Iran in einen langjährigen verheerenden Krieg verwickeln, der die von Teheran ausgehende „islamische Revolution“ eindämmte. Längerfristig züchtete der Westen mit Saddam jedoch ein Monster heran, das nur mit gigantischem Aufwand wieder zu beseitigen war – und mit Folgen, die der Region bis heute zusetzen.

Bei Lichte betrachtet, ist die wirkliche Realpolitik nie realistischer und erfolgreicher gewesen als ihr vermeintlicher Antipode, für die eine „idealistisch“ oder „werteorientiert“ genannte Außenpolitik gemeinhin gehalten wird. So war es die Ikone einer realistischen Gleichgewichtspolitik, Henry Kissinger, der als Außenminister Anfang der siebziger Jahre jenen „Waffenstillstand“ aushandelte, der in Wahrheit die Auslieferung Südvietnams an den kommunistischen Norden und einen schmachvollen, fluchtartigen Rückzug der in ­Vietnam verbliebenen US-Truppen besiegelte.

Realpolitik, verstanden als eine vermeintlich wertfreie Politik der Verfolgung ungeschminkt zutage liegender Interessen, suggeriert, diese Interessen stünden gleichsam naturwüchsig fest, und man müsse nur ihrer nun einmal gegebenen Faktizität folgen, um bei der richtigen Politik zu landen. In Wirklichkeit gibt es keine Interessen, die objektiv festliegen wie Naturgesetze. Wie die eigenen Interessen zu definieren und wie ihre Durchsetzung jeweils am besten zu verfolgen sei, ist Gegenstand ununterbrochener diskursiver Aushandlung im Modus von Versuch und Irrtum. Wo die demokratischen Bedingungen für einen solchen Prozess fehlen, ist die Festlegung von Interessen indes Sache der Willkür von Diktatoren oder herrschenden Cliquen. Weshalb auch die Frage berechtigt ist, ob die brachialen Großmachtambitionen des vermeintlichen Realpolitikers Wladimir Putin tatsächlich den wohlverstandenen Interessen seines Landes dienen oder ihnen nicht vielmehr unabsehbaren Schaden zufügen.

Für Demokratien aber ist es auf Dauer unmöglich, ihre Außenpolitik gänzlich von den Werten und Normen abzulösen, auf denen sie selbst gründen – so drastisch sie im Einzelnen auch selbst dagegen verstoßen mögen. Die Geschichte hat gezeigt, dass Demokratien nur bestehen können, wenn sie den Anspruch nicht aufgeben, ihre Werte und Prinzipien auf Dauer weltweit zu verankern. Diese langfristige, stets von massiven Rückschlägen bedrohte Perspektive schließt selbstverständlich realpolitische Konzessionen an bestehende Realitäten und Kräfteverhältnisse so wenig aus wie temporäre Abkommen und Arrangements mit Kräften, die demokratischen Ideen feindlich gegenüberstehen. Entscheidend ist aber, dass diese auf der Grundlage nicht nur einer klaren Werteorientierung, sondern auch einer langfristigen Interessendefinition beruhen.

Die gegenwärtige Schwäche des Westens besteht darin, dass es ihm an beidem fehlt. In dieser Situation darauf zu setzen, dass ihm autoritäre Mächte und abgewirtschaftete Diktatoren aus der Klemme helfen, wäre jedoch ein fataler Kurzschluss mit unabsehbaren Konsequenzen für die Zukunft der westlichen Demokratien als solche. Selbst wenn es gegenwärtig wenig ermutigende Anzeichen dafür gibt und diese Einsicht dem Hohn neu bekehrter Realpolitiker ausgesetzt ist – auch dem Nahen Osten können nur Demokratisierung und die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit echte und dauerhafte Stabilität sichern. Von Despoten, über die das Urteil der Geschichte bereits gesprochen ist und die das heutige Chaos in der Region selbst angerichtet haben, können wir sie nicht erwarten.

Dr. Richard ­Herzinger ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der WELT-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 120-127

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