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23. Aug. 2018

„Wer den Frieden will, sollte über den Krieg zumindest nachdenken“

Auch Großbritannien erwartet mehr von Deutschland

Soll, kann, muss Deutschland in der europäischen Verteidigung führen? Soll, kann, muss – das sind handlungsorientierte Verben, wie sie besonders US-Präsident Donald Trump gerne verwendet.

Seit dem Brüsseler NATO-Gipfel, bei dem Trump zuletzt solch scharfzüngigen Durchsetzungswillen demonstrierte, sind es Worte, mit denen sich auch die Deutschen beschäftigen sollten. Denn ohne eine wesentliche deutsche Beteiligung kann es keine glaubwürdige europäische Verteidigung Europas geben. Wenn jedoch Berlin eine Führungsrolle spielen soll, möglicherweise im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsunion, müssen sich die Deutschen heute harten politischen Entscheidungen stellen.

Die deutsche Debatte konzentriert sich derzeit auf die Verpflichtung der NATO-Staaten, ihre Verteidigungsinvestitionen zu erhöhen. 2014 hatten die Verbündeten versprochen, ihre Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2024 auf 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Ein Fünftel davon sollte für neue Ausrüstung verwendet werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss sich dieser Verpflichtung an, allerdings mit der Einschränkung, dass Deutschland „versuchen werde, das Ziel zu erreichen“. Aufgrund innenpolitischen Drucks rudert sie seither zurück. Der Grund dafür ist offensichtlich. Wenn Deutschland 2 Prozent seines BIP für Verteidigung ausgeben würde, wären das 60 Milliarden Euro im Jahr, also mehr als Frankreich oder Großbritannien. Viele von Deutschlands Freunden hätten damit kein Problem; das gilt auch für mich. Das Land ist heute eine vorbildliche Demokratie, und es würde Großbritannien Mut machen, wenn Berlin der 2-Prozent-Verpflichtung nachkommen würde. Aber was ist mit den Deutschen selbst?

Deutsche Macht?

Die NATO muss und wird der Grundstein der europäischen Verteidigung bleiben. Die EU bietet den Rahmen und die Mittel an, eine neue Verteidigung aufzubauen, die mehr europäische Effizienz und Effektivität ermöglicht. Zugleich verleiht sie einer deutschen Führungsrolle durch die Einbettung in den EU-Rahmen mehr Legitimität. Unabhängig von Stilfragen hat Präsident Trump eine tiefe Wahrheit über die transatlantische Lastenteilung ausgesprochen: Angesichts der immer stärkeren Überlastung der US-Streitkräfte rund um den Globus wird Amerika die europäische Verteidigung in Zukunft nur noch dann unterstützen, wenn die Europäer selbst viel größere Anstrengungen unternehmen, vor allem Deutschland, Großbritannien und Frankreich.

Während des Kalten Krieges stellte die Bundeswehr die größten Landstreitkräfte zur Verteidigung Europas. Insofern ist die heutige Debatte über die Verteidigungsrolle Deutschlands und den besten Weg zu einer effizienten europäischen Verteidigung überhaupt nicht neu. In den frühen 1950er Jahren scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, weil weder Großbritannien noch Frankreich bereit waren, ihre jahrhundertealte Identität als Militärmächte zugunsten einer europäischen Armee aufzugeben. Der Brexit zeigt, und möglicherweise wird das auch Präsident Emmanuel Macron tun, dass die beiden großen Militärmächte Europas sich weiterhin föderalistischen Vorstellungen einer europäischen Verteidigung widersetzen. Eine europäische Armee würde eine europäische Regierung notwendig machen. Deswegen wird die so dringend erforderliche Neugestaltung der europäischen Verteidigung viel eher auf einer Gruppe von Ländern aufbauen als auf einem gemeinsamen europäischen Modell. Das wird auch an Macrons Europäische Interventionsinitiative deutlich.

Kann Deutschland führen?

Deutschland führt bereits bei der Verteidigung Europas. Mit dem neuen Logistik-Kommando (Joint Support and Enabling Command) zur schnelleren Verlegung von Soldaten und Material innerhalb Europas in Ulm hat das Land die Führungsrolle bei der Entwicklung des Rahmennationskonzepts übernommen. Solche Initiativen sind essenziell, wenn die künftigen Komponenten der kollektiven Verteidigung und Abschreckung der NATO zu Land und in der Luft durch militärische Fähigkeiten und Kapazitäten unterlegt werden sollen. Auch für viele der 34 Projekte der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) der EU bildet Deutschland mit seiner eindrucksvollen Verteidigungs-, Technologie- und Industriebasis die Grundlage.

Deutschland unternimmt außerdem große Anstrengungen, um robuste und widerstandsfähige Infrastrukturnetze aufzubauen, die hohen Ansprüchen an die neuen hybriden oder Cyber-Verteidigungsaufgaben genügen. Im 21. Jahrhundert gehört es zu den Kernaufgaben der europäischen Verteidigung, die deutsche und europäische Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Cyber-Angriffe zu machen. Aber vermutlich noch dringender ist es sicherzustellen, dass zivile Häfen, Straßen und Schienen im Notfall sich in einem Zustand befinden, der rasche militärische Bewegungen ermöglicht. Hier soll, kann und muss Deutschland auf kurze bis mittlere Sicht am effektivsten führen. Gewiss hat sich die Bundeswehr einen guten Ruf als hochqualifizierte, technisch gut ausgebildete und demokratisch verantwortliche Armee erworben, aber es bleibt noch viel zu tun.

Kann Deutschland mehr tun?

Es ist von zentraler Bedeutung, die politische Rhetorik in Deutschland besser auf die Realitäten der Bundeswehr abzustimmen. Die Armee und ihre Aufgaben passen derzeit nicht zusammen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat zwar eine Trendwende in Bezug auf Personal, Ausrüstung und Budget verkündet, aber Deutschland ist von ihrer Umsetzung noch weit entfernt. Die Einsatzbereitschaft der deutschen Marine und Luftwaffe lässt sehr zu wünschen übrig. Die chronische Unterfinanzierung der Bundeswehr untergräbt Deutschlands legitimen Anspruch auf Führung der europäischen Verteidigung.

Übrigens: Die Lage in Großbritannien ist auch nicht viel besser, wie sich an dem gerade angekündigten, sehr bescheidenen Programm zur Modernisierung der Verteidigung zeigt. Gleiches gilt für die mittlerweile wahrscheinlich gewordenen Verzögerungen und Einschnitte bei der neuen Fregatte vom Typ 31E (steht hier „E“ für entkernt?). Zweifelhaft ist zudem, ob Großbritannien das 2-Prozent-Ziel der NATO auch ohne Buchhaltungstricks erreichen würde. Insgesamt lassen diese britischen Probleme die Notwendigkeit gemeinsamer Anstrengungen mit Deutschland nur noch deutlicher hervortreten.

Woran hakt es? Es fehlt an einer umfassenden politischen Strategie, in die sich die gewachsene deutsche Militärmacht angemessen einbetten ließe. Eine solche Strategie kann auch nicht nur daraus bestehen, dass sie zu ihrer Rechtfertigung Russland als Feind präsentiert, selbst wenn das in vielerlei Hinsicht zutrifft. Vielmehr muss die Strategie das Ergebnis einer politischen Debatte über die Notwendigkeit sein, an anspruchsvollen Stabilisierungseinsätzen teilzunehmen. Ein Beispiel dafür könnte sein, den Einsatz von Chemiewaffen durch Regime wie in Syrien zu verhindern; ein anderes der Kampf gegen dschihadistische Terroristen.

Brexit in der Praxis

Berlin hat vor Kurzem erklärt, dass Großbritannien unabhängig von den Auswirkungen des Brexit ein starker Partner und Verbündeter bleibe, sowohl in der NATO als auch bilateral. Aber was bedeutet das in der Praxis? Die neue Einsatzträgergruppe und die Atom-U-Boote der Astute-Klasse der Royal Navy bilden, gemeinsam mit Schiffen der französischen Marine, das Rückgrat künftiger europäischer Koalitionen im maritimen und amphibischen Bereich. Die deutsche Marine sollte in der Lage sein, zum Schutz dieser Einsatzkräfte beizutragen. Dafür muss sie angemessen ausgerüstet sein.

Berlin sollte außerdem rasch dafür sorgen, dass Großbritannien weiterhin einen gleichberechtigten Zugang zum europäischen Satellitensystem Galileo erhält. Auch für die Verankerung einer wirksamen Zusammenarbeit der Geheimdienste in dem neuen EU-UK-Sicherheitsvertrag sollte sich Deutschland einsetzen. Auf diese Weise kann Berlin dazu beitragen, dass Großbritannien in die Verteidigung Europas eingebunden bleibt. Die so wichtige „gemeinsame Vision“ der beiden Länder würde auf diese Weise eine wirkliche Bedeutung bekommen. Dies wiederum würde auch zur Stärkung der Zusammenarbeit bei landgestützten Systemen führen, etwa bei gepanzerten Transportfahrzeugen oder bei anderen Beschaffungsvorhaben.

Wie kann Deutschland führen?

Damit Deutschland zu einer Führungsnation in der europäischen Verteidigung wird, müssen den Worten Taten folgen. Mit Rücksicht auf die europäische Stabilität sollten die Verbündeten akzeptieren, dass Deutschland nicht mehr für die Verteidigung ausgibt als Großbritannien oder Frankreich. Dies würde bedeuten, dass es sich zu jährlichen Ausgaben im Umfang von 1,5 Prozent seines BIP verpflichtet. Für die europäische Verteidigung sollte Deutschland sich aber darüber hinaus zu einem einmaligen Sonderbudget verpflichten, um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr erheblich zu verbessern. Dies würde es ermöglichen, den Vorgaben der NATO (und der EU) für besonders wichtige Ausrüstung zu entsprechen. Außerdem müsste Deutschland mehr investieren, um militärisch nutzbare Infrastrukturverbindungen durch Europa zu schaffen, damit die Streitkräfte mobiler werden.

Blanker Unsinn ist es, wenn Frankreich und Deutschland mit Großbritannien um den Bau der nächsten Generation von Kampfflugzeugen (G6) konkurrieren, nicht zuletzt, weil das Vereinigte Königreich wegen seiner Teilnahme am Bau der F35-Flugzeuge (G5) klare technologische Vorteile hat. Großbritannien verfügt zudem über so wertvolle Einsatzerfahrungen, dass es absurd wäre, wenn die EU das Land aus den Vereinbarungen der Europäischen Verteidigungsunion ausschließen wollte – ganz so, als handele es sich um die Türkei! Ohnehin ist man in Deutschland keineswegs davon überzeugt, dass das geplante deutsch-französische Zukünftige Luftkampfsystem (Future Combat Air System) ein Erfolg wird. Zu unübersichtlich und verworren ist die französische Politik, wenn es um die Rüstungsindustrie geht.

Der beste Weg, wie Deutschland die Führung bei der künftigen Verteidigung Europas übernehmen kann, liegt darin, alle anderen Europäer einschließlich Großbritanniens zusammenzubringen. Wirkliche Führung bedeutet allerdings, der harten Wirklichkeit ins Auge zu schauen. Vom römischen Kriegstheoretiker Vegetius stammt der Satz: „Si vis pacem para bellum“ – wer den Frieden will, der bereite den Krieg vor. Deutschlands Ziel besteht wohl darin, über das gesamte Spektrum bewaffneter und unbewaffneter Einsätze hinweg der strategische Friedenswächter Europas zu werden. Um diese Rolle zu spielen, sollte Deutschland das Vegetius-Zitat abändern: Wer Frieden will, sollte über den Krieg zumindest nachdenken und das gemeinsam mit Freunden und Verbündeten tun.

Soll, kann, muss Deutschland in der europäischen Verteidigung führen? Die Entscheidung liegt bei Deutschland selbst.

Prof. Dr. Julian Lindley-French ist Senior Fellow am Institute for Statecraft in London, Direktor von Europa Analytica in den Niederlanden und Distinguished Visiting Research Fellow an der National Defense University in Washington (DC).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 34 - 37

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