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01. Juni 2006

Wenn das Volk die Falschen wählt

Externe Demokratisierung in Nahost ist ein schwieriges Geschäft

Die Erwartung, dass nach dem 11. September 2001 im Nahen und Mittleren Osten „nichts mehr so sein würde wie vorher“, hat sich nicht bewahrheitet. Tatsächlich haben seither nur im Irak und in Afghanistan tiefgreifende Veränderungen stattgefunden – allerdings keine, die Euphorie aufkommen ließen. Der Irak-Krieg als Teil eines „war on terrorism“ hat im Gegenteil viele Ansätze zum Wandel eher blockiert.

Es wäre falsch, den Raum zwischen Nordafrika und dem Golf als lediglich in Stagnation und Lethargie verharrend wahrzunehmen. Dies lassen schon die akademischen und öffentlichen Debatten erkennen, die sich mit dem Stand der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation im arabischen Raum beschäftigen. Zuerst haben die als Arab Human Development Reports ausgewiesenen Berichte internationales Aufsehen erregt (siehe auch die Buchkritik, S. 128–132). Waren sie doch nicht nur von Arabern selbst verfasst, sondern enthielten eine durchweg wissenschaftlich abgesicherte, teilweise schonungslose Kritik am Entwicklungsstand der arabischen Staaten. Der erste von ihnen (2002) listete allgemeine Entwicklungshindernisse der 22 arabischen Länder auf. Schlechte Bildung, geringe politische Freiheiten und der Ausschluss von Frauen wurden als wesentliche Defizite herausgestellt. Eine besondere Herausforderung stellte der dritte Bericht (2004) unter dem Titel „Auf dem Weg zur Freiheit in der arabischen Welt“ dar. Die Autoren forderten darin die Respektierung der grundlegenden Bürgerfreiheiten, die Beendigung jeglicher Ausgrenzung und Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten und die Sicherstellung der Unabhängigkeit der Judikative in arabischen Staaten.

So schien der amerikanische Präsident auf einen fahrenden Zug aufzuspringen, als er am 6. November 2003 – neun Monate nach dem Beginn der Inva-sion im Irak – in einer Grundsatzrede vor dem National Endowment for Democracy in Washington eine Strategie der Freiheit und demokratischen Transformation im Nahen und Mittleren Osten verkündete.1 Da Unterdrückung und Rückständigkeit miteinander untrennbar verbunden seien, würden die USA die „Feinde der Demokratie herausfordern“. Er verkündete seine Entschlossenheit, den Demokratisierungsprozess im Irak zu Ende zu führen. Für die Palästinenser forderte er einen eigenen Staat, die Einstellung des Baus von israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und ein Ende der Demütigung des palästinensischen Volkes.

Diese später – im Rahmen der G-82 – als „Partnerschaft für Fortschritt und eine gemeinsame Zusammenarbeit mit der Region Weiterer Mittlerer Osten und Nordafrika“ firmierende Erklärung verschwand jedoch in den Archiven, bevor auch nur deutlich gemacht werden konnte, wie sich die Väter der Erklärung ihre Umsetzung vorstellten. Dass die Invasion im Irak der erste Schritt dahin sein sollte, diskreditierte sie von Anfang an. Die Vereinnahmung der Arab Human Development Reports durch die amerikanische Politik schadete den Reformempfehlungen der Autoren mehr, als dass sie genutzt hätte. Zwar gab es auch immer wieder rationale Stimmen in der Region, die dafür plädierten, die Forderungen nicht deshalb zu verteufeln, weil sie aus den USA kämen. Aber als Kronzeuge für die Politik von Präsident Bush herzuhalten, erwies sich in der arabischen Welt als eher kontraproduktiv. Die trotz aller Bekundungen über das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat als proisraelisch empfundene Politik der USA und die Invasion im Irak versetzten der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Politik einen Schlag. In ihrem Schatten verschärften arabische Führer ihre Kontrolle über die Bürger. Der dritte Arab Human Development Report (2004) äußerte sich überaus freimütig zu den autokratischen Herrschaftspraktiken in arabischen Ländern;3 der „anglo-amerikanischen Invasion im Irak“ – so die Autoren – kam dabei eine kaum zu unterschätzende entwicklungshemmende Wirkung zu.

Die bescheidenen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die von 2003 bis 2006 zu verzeichnen sind, ergeben einen widersprüchlichen Befund. Auf der einen Seite ist durchaus ein Reformdruck erkennbar, der innergesellschaftlich induziert wird und der durch den von der amerikanischen Politik erzeugten äußeren Druck zusätzliche Dynamik erhält. Dem steht die Entschlossenheit der Regime gegenüber, den Wandel unter Kontrolle zu halten und einen Verlust eigener Macht zu verhindern. Das Scheitern der USA, im Irak eine stabile neue Ordnung herbeizuführen, kommt diesem Interesse der regionalen Machthaber entgegen.

Innerer Druck – autokratische Kontrolle

Das Spannungsverhältnis von innerem Druck und autokratischer Kontrolle trat in einer Serie von innerarabischen Konferenzen und Symposien zutage. Ihre Resolutionen bekundeten durchweg Unterstützung für die von der internationalen Gemeinschaft vorgeschlagenen Maßnahmen und Entwicklungsziele. Auf – je nach Zusammensetzung der Foren – höchst unterschiedliche Weise wurden jedoch zugleich unmittelbar und mittelbar Vorbehalte gegenüber dem Reformprozess geäußert. Dabei wurde die Priorität auf die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts gelegt und die Notwendigkeit betont, den Reformprozess auf den eigenen inneren Gegebenheiten, insbesondere den gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen, zu gründen. Als enthüllendes Dokument einer Taktik des Ausweichens und Hinhaltens erwies sich die auf der arabischen Gipfelkonferenz vom 22./23. Mai 2004 (die jedoch nur von 13 Staatsoberhäuptern besucht wurde) abgegebene Erklärung. Inhaltliche Schwerpunkte des Dokuments waren die üblichen Verweise auf verschiedene Krisenherde mit Bezug auf die arabische Welt (vor allem in Palästina und Somalia) sowie unverbindliche Absichtserklärungen, was innere Wandlungsprozesse betraf.4

Keine Regierung oder wesentliche gesellschaftliche Institution in der Region zwischen Marokko und dem Golf konnte sich dem Reformdruck vollständig entziehen. In nahezu allen Ländern begann eine Reformdebatte, an der sich die Regierungen, die Öffentlichkeit und die Medien beteiligten.5 Die Themenstellungen waren nicht durchweg neu, erhielten aber durch die Ereignisse neue Aktualität. Grob strukturiert lassen sie sich als Identitätsdebatte, Demokratisierungsdebatte, Menschenrechtsdebatte, Frauengleichstellungsdebatte, Globalisierungsdebatte sowie als Neoimperialismus- und Neonationalismusdebatte darstellen. Drei Hauptdenkrichtungen prägten jeweils den Gang der Argumente: die säkularistische, die fundamentalistisch-islamistische und die eine Synthese aus beiden anstrebende reformerische Richtung. Angesichts der offensiven US-Politik im Nahen Osten nahmen identitäre Diskurse, Überlegungen zur Abgrenzung gegenüber „dem Westen“, seinen Dominierungsversuchen und seiner Einflussnahme im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich größeren Raum ein. Eine besondere Rolle als Foren der Debatten spielten die Medien und das Internet. Die kritische Haltung gegenüber den USA, der Antiimperialismus und die arabisch-nationalistischen Empfindungen, die in den Fernsehdebatten zum Ausdruck kamen, wurden nicht erst von ihnen geschaffen. Sie griffen vielmehr weit verbreitete Gefühlslagen und Interpretationen von aktuellen Vorgängen auf.

Dilemma von Wandel und Systemerhalt

Kristallisationspunkt des Dilemmas von Wandel und Systemerhalt in der ganzen Region bleiben die Entwicklungen im Irak, die weit in den Nahen und Mittleren Osten ausstrahlen. Zwar verlief der Prozess der Errichtung politischer Institutionen im Lande weitgehend nach amerikanischen Vorgaben. Das Verfassungsreferendum vom 15. Oktober 2005 und die Parlamentswahlen vom 15. Dezember 2005 waren die bislang letzten Etappen der Umsetzung dieser Agenda der „Demokratisierung“. Dieser positiven Entwicklung aber stand eine anhaltend hohe Gewalt in weiten Teilen des Landes gegenüber. Eine der Zielsetzungen der Extremisten ist, durch spektakuläre Attentate gegen die schiitischen Araber einen Bürgerkrieg zu provozieren und auf diese Weise deren historische Machtübernahme auf dem Weg über die Wahlurnen zu verhindern. Dem Terrornetz Al-Qaida zuzuordnende Gewaltakte verfolgten daneben das diffuse Ziel des „Kampfes gegen den Westen“.

Im Kontext der ungelösten Krise im Irak wurde Gewalt auch auf zahlreichen Nebenschauplätzen zwischen Nordafrika und dem Golf verübt. Sie war ein wesentlicher Grund dafür, dass sich politische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse nur in kleinen Schritten vollzogen. Besorgt achteten die Regime darauf, dass ihre Stabilität nicht gefährdet würde. Zu den Ländern, in denen sich das Spannungsverhältnis von Wandel und Systemerhalt ganz besonders deutlich zeigte, gehört Saudi-Arabien. Kronprinz Abdullah (seit August 2005 König) legte im Januar 2003 eine Reformcharta für die arabische Welt vor, in der er mehr politische Partizipation in den arabischen Ländern und eine verstärkte Zusammenarbeit in der arabischen Welt forderte. Im Oktober kündete die saudische Führung die Abhaltung von Wahlen für die Ratsversammlung auf kommunaler Ebene an. Im November wurden die Befugnisse der Beratenden Versammlung“ (madschlis ash-shura) gestärkt, indem dieser das Recht eingeräumt wurde, ohne vorherige Zustimmung des Königs Gesetzesvorlagen zu initiieren. Als historischer Schritt konnte die Tatsache gewertet werden, dass Abdullah am 30. April 2003 eine Delegation der schiitischen Minderheit (die bei den erzkonservativen Wahhabiten als häretisch gilt) empfing. In einer Petition hatte diese die Gleichstellung von Sunniten und Schiiten gefordert.

Unterdessen aber hatte die Gewalt auch Saudi-Arabien erreicht. Mit dem Terrorakt vom 9. Mai 2003, bei dem 35 Menschen starben, wurde der saudischen Führung definitiv klar, dass das Regime selbst zur Zielscheibe des Extremismus geworden war. In bislang nicht gekannter Radikalität gehen die Sicherheitskräfte seither (erfolgreich) gegen gewalttätige Zellen vor. Neu ist auch, dass nunmehr Maßnahmen gegen Prediger und Moscheen getroffen werden, in denen antiwestliche Parolen verkündet werden oder zu Gewalt aufgerufen wird. Verstärkt wurde auch die Kontrolle über alle Wohlfahrtseinrichtungen und religiösen Stiftungen. Angesichts der Gewalt wurden die angekündigten Wahlen verschoben; sie fanden erst von Februar bis April 2005 statt. Frauen blieben ausgeschlossen. Forderungen nach weiterreichenden Reformen im Sinne von konstitutioneller Herrschaft wurden unterdrückt.

Trotz der konservativen Haltung des saudischen politischen und religiösen Establishments im Hinblick auf die Stellung der Frauen ist das „Thema Frau“ ein Indiz für wachsenden Reformdruck in Teilen des arabischen Raumes – insbesondere in den in vielen Bereichen konservativen Emiraten am Persischen Golf. Von der atemberaubenden wirtschaftlichen Entwicklung geht ein Druck aus, Frauen weiterreichende Partizipation einzuräumen. Frauenorganisationen gehören zu den Kräften, die sich am dynamischsten für gesellschaftlichen Wandel einsetzen. Immer mehr Frauen nehmen am Wirtschaftsleben teil und erstreben einen Universitätsabschluss.

In Kuwait räumte das Parlament nach jahrelangem Ringen Frauen das aktive und passive Wahlrecht ein. Zum ersten Mal werden sie an den Parlamentswahlen im Jahre 2007 teilnehmen. Seit Juni 2005 ist eine Frau Ministerin für Planung. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo derzeit 16 000 Frauen an den Universitäten immatrikuliert sind, ist mit der Berufung einer Ministerin für Wirtschaft und Planung zum ersten Mal eine Frau Mitglied des Regierungskabinetts. In Oman wurden zum ersten Mal in der Geschichte des Landes drei Frauen mit Ministerämtern betraut. In den meisten Emiraten spielen die Ehefrauen der herrschenden Persönlichkeiten selbst eine aktive Rolle als Vorkämpferinnen für Frauenrechte. Auch im Westen der arabischen Welt, in Marokko, war die Verbesserung der Stellung der Frau ein zentrales Element eines Modernisierungsprozesses als Antwort auf die Verschärfung innergesellschaftlicher Spannungen, die sich in extremistischer Gewalt entlädt. Als Reaktion auf die Anschläge in Casablanca vom 16. Mai 2003 verkündete König Mohammed VI. eine Reihe von Reformschritten, die u.a. elementare Bereiche wie die Polygamie, das Scheidungs- und Sorgerecht sowie das Heiratsalter von Frauen betreffen.

Am offenkundigsten und folgenreichsten stellt sich das Spannungsverhältnis von Veränderungsdruck und Beharrung in Ägypten dar. Seit Herbst 2004 demonstrierte eine breite Bewegung, deren gesellschaftliche Spannweite von Liberalen bis zu den Muslimbrüdern reichte, für mehr Demokratie und bürgerliche Freiheiten. „Genug“ hatten die Demonstranten inbesondere von Präsident Mubarak – „kifaya“ (genug) war ihr Motto. Dass die Polizei nicht einschritt, wurde internationalem Druck auf das Regime zugeschrieben. Ende Februar 2005 kündigte Mubarak eine Verfassungsänderung an, nach der der Präsident künftig in direkter Volkswahl gewählt werden solle. Damit schien eine Perspektive für breitere demokratische Partizipation eröffnet. Die Demonstrationen hielten auch in den folgenden Wochen an. Das Regime begann mit Polizeiaufgeboten und Schikanen zu reagieren; eine der führenden Persönlichkeiten der Proteste, Ayman Nur, der 2004 die liberale Partei „al-Ghad“ (morgen) gegründet hatte, wurde zeitweise verhaftet. Eine Reihe von Terrorakten gab der Regierung Argumente, den Forderungen der Demonstranten, das seit 1981 geltende Notstandsrecht zu beenden, nicht nachzukommen. Gleichwohl traten bei den Präsidentschaftswahlen am 7. September neun Gegenkandidaten auf. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass Mubarak mit 88 Prozent ein „klassisches“ Ergebnis erzielte; auf Ayman Nur entfielen lediglich 7,3 Prozent.

Ein ähnliches Bild staatlich kontrollierter Freiräume für den Wähler vermittelten die Parlamentswahlen im November 2005. Insbesondere die Muslimbrüder versuchten, als „Unabhängige“ ihren Anteil an Parlamentssitzen zu steigern. Nachdem sie in der ersten Wahlrunde immerhin 34 Sitze gewinnen konnten, wurden ihre Kandidaten in der zweiten und dritten Runde massiv behindert. Am Ende zogen sie mit 88 Abgeordneten in das neue Parlament ein (im alten hatten sie 17). Die liberale Opposition blieb abgeschlagen. Ayman Nur wurde Ende Dezember wegen „Urkundenfälschung“ zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Proteste gegen das Vorgehen der ägyptischen Machthaber hielten sich in Grenzen. Zu mehr als der Verschiebung des Termins einer Reise von Außenministerin Condoleezza Rice nach Kairo wollte sich auch Washington nicht entschließen.

Im Überblick über die Gesamtregion Nordafrika/Naher und Mittlerer Osten ergibt sich das Bild eines politischen und gesellschaftlichen Wandels in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Insbesondere am Golf lassen sich Wandlungsprozesse erkennen (siehe auch den Beitrag von Katja Niethammer, S. 45–51). Die traditionellen Eliten tragen einem politischen und gesellschaftlichen Druck Rechnung; zugleich werden die Grundlagen der überlieferten Ordnungen, die ihre Legitimität im Prinzip nicht verloren haben, nicht angetastet. In anderen Teilen der Großregion herrschen Stagnation und Frus-tration. Das gilt auch für den Libanon, wo der 2005 durch inneren und äußeren Druck erfolgte Rückzug der syrischen Truppen zwar demokratische Freiräume eröffnete, die innere Situation aber nicht stabilisierte. In Syrien ist das Überleben der Herrschaft der Baath-Partei das alleinige Ziel des Regimes.

Äußere Barrieren des Wandels

Mit den skizzierten Entwicklungen in Ägypten wird der Blick auch auf den Westen gelenkt. Er ist seinerseits Teil des Demokratisierungsdilemmas im Nahen Osten. Dabei ist die Intervention der von den USA geführten Militärallianz im Irak ein Teil des Problems. Der militärische Charakter der Intervention als solcher sowie das Fehlen eines Konzepts, in welcher Weise den unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft im Irak Hilfestellung beim Übergang in die neue Ordnung geleistet werden kann, die mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen kompatibel ist, haben den am Status quo interessierten Eliten Rechtfertigungsgründe geboten, sich an der Macht zu halten.Auch hat die Politik der westlichen Regierungen auf andere Weise dazu beigetragen, das Ziel des Regime Change im Nahen Osten zu diskreditieren. Der Vorwurf „doppelter Standards“ vis-à-vis Israel und seiner Fortführung der Besatzung ist ein Gemeinplatz der Kritik an westlicher Politik im Nahen Osten. Die Angriffsfläche aber hat sich angesichts völliger Konzeptlosigkeit, mit dem Wahlsieg der Hamas vom Januar 2006 umzugehen, vergrößert. Dass der Westen Wahlen wolle, am Ende aber nur Sieger nach seinen Vorstellungen akzeptiere, macht seither die Runde und bringt das Demokratiekonzept in Misskredit. Die Forderungen westlicher Politiker gegenüber Hamas (Verzicht auf Gewalt, Niederlegung der Waffen, Anerkennung Israels) werden konterkariert mit der Besatzung und Abschnürung Palästinas, der fortgesetzten Landnahme sowie der anhaltenden Weigerung Israels, kritische Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zu befolgen. Das Schweigen westlicher Politik hierzu diskreditiert ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig.

Hinter der Ablehnung von Hamas als demokratisch legitimiertem Akteur steht die fehlende Bereitschaft, gemäßigte islamistische Bewegungen als Teilnehmer an den demokratischen Prozessen zu akzeptieren. Doch nicht nur in Palästina, weithin in der arabischen Welt haben sie breite Teile der Wählerschaft hinter sich gebracht. In einer strategischen Wende haben sie von der Forderung nach – auch gewalttätiger – Errichtung einer „islamischen Ordnung“ als Voraussetzung politischer Legitimität von Staat und Gesellschaft Abstand genommen und die Gründung politischer Parteien akzeptiert, die im Rahmen der jeweiligen Systeme durch demokratische Teilhabe Wandel anstoßen.6 Während in der arabischen Welt zivilgesellschaftliche Netzwerke zu schwach sind, um einen demokratisierenden Veränderungsdruck zu erzeugen, haben islamistische Organisationen eine tiefere Verwurzelung in ihren Gesellschaften erreicht und können eine breite Wählerschaft mobilisieren. In der Ablehnung dieser Kräfte vereinigt sich westliche Islamophobie mit der Angst der arabischen Regime, ihre Macht an der Wahlurne einzubüßen. Das Ausbleiben von Protesten über die Wahlfälschung in Ägypten ist ein Beispiel für das stille Einvernehmen zwischen westlichen Regierungen und nahöstlichen Machthabern in diesem Punkt. Dass diese ihrerseits durch eine schleichende Islamisierung als Antwort auf die Herausforderung durch den Islamismus liberale Kräfte in ihren Gesellschaften schwächen, wird dabei im Westen entweder nicht bemerkt oder hingenommen.

Politischer Wandel im Nahen und Mittleren Osten ist jedoch nicht zum Nulltarif zu haben. Die EU steht vor dem Dilemma, ob sie Wandel in Richtung auf demokratisch legitimierte Herrschaft in der Nachbarschaft will, der auf politischer Wertegemeinschaft gründet – und ob dabei sie auch innere Turbulenzen und politische Kräfte zu akzeptieren bereit ist, mit denen der Umgang schwierig ist. Die Alternative zu einer risikofreudigeren Politik ist die Halbherzigkeit, die auch den Barcelona-Prozess gekennzeichnet hat. Im wirtschaftlichen Teil der Abmachungen war die EU nur bedingt bereit, sich auf die Interessen ihrer Partner einzulassen und auf diese Weise breite Akzeptanz für eine wirkliche Partnerschaft zu finden. Politisch konnte die EU weder eine wirkliche Friedensdynamik im Nahen Osten erzeugen, die ihr in arabischen Augen Glaubwürdigkeit verschafft hätte, noch gelang es ihr, eine Agenda zu formulieren, die durch Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft (einschließlich islamischer Gruppen) den Druck auf politischen Wandel erhöht hätte. Die Jubiläumsveranstaltung nach zehn Jahren Barcelona-Prozess am 27./28. November 2005 war denn auch entsprechend müde: An ihr konnte man ermessen, dass weder die EU noch die mediterranen Partner übermäßiges Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Unternehmens hatten.

Mit dem Auftreten der Volksrepublik China und Indiens als Akteuren im Nahen Osten hat die Gesamtsituation mit Blick auf die Zukunft der Region an Komplexität zugenommen. Der dramatisch wachsende Energiebedarf dieser Länder hat sie nicht nur zu Kunden auf dem Erdöl- und Erdgasmarkt der Region gemacht. Vermehrt suchen Petrodollars den Weg nach Süd-, Südost- und Ostasien. Die sich damit vermindernde wirtschaftliche Abhängigkeit der ölreichen Staaten im Nahen Osten von den USA und Europa macht diese zugleich unempfindlicher gegenüber politischem Druck aus dem Westen. Von den asiatischen Partnern werden die traditionell verfassten Systeme der Ölproduzenten nicht nach dem Stand der Demokratisierung und der Menschenrechte gefragt. Wollen die westlichen Industriestaaten im Geschäft bleiben, werden sie sich mit den bestehenden Systemen arrangieren müssen; das engt ihre Handlungspielräume weiter ein.

An zwei Punkten zeigen sich die Auswirkungen dieser Veränderungen des internationalen Systems bereits nachdrücklich. Das Interesse Chinas an den Ressourcen des Sudans ist ein wesentlicher Grund für die Blockade der internationalen Gemeinschaft gewesen, Druck auf Khartum auszuüben, ein stärkeres internationales Engagement zur Beilegung der Konflikte in Darfur zu akzeptieren. Und im Konflikt um die Nuklearentwicklung Irans zeigt sich gleich ein zweifaches Dilemma: Zum einen erschwert das Interesse Pekings an einem weiteren Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit Teheran (Russland ist in diesem Falle aus anderen Gründen im Boot) die Bemühungen, Iran von der Urananreicherung abzubringen. Zum anderen verfügt die internationale Gemeinschaft angesichts der Entlastung durch Peking (und Moskau) kaum über Instrumente, auf das Regime einzuwirken, den unter Präsident Khatami begonnenen Prozess der demokratischen Pluralisierung fortzusetzen.

Ein abschließender Blick auf die Gesamtregion lässt in einem Zeithorizont bis 20107 Differenzierungen der Perspektive auf Wandel erkennen. Während sich in einigen Staaten behutsame Veränderungen in der Gesellschaft und in den politischen Institutionen vollziehen, beschränken sich andere Regime – so etwa Ägypten und Syrien – auf Überlebensstrategien. Solange aber die Gewalt im Irak anhält und perspektivisch auch Gewaltausübung ein Weg bleibt, die mit Iran verbundene Atomkrise zu „lösen“, wird das Dilemma von Wandel und Machterhalt nicht überwunden werden. Wie in der Vergangenheit ist westliche Nahost-Politik auch in der Gegenwart ein Teil der Probleme des Nahen Ostens.

Prof. Dr. UDO STEINBACH, geb. 1943, ist Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg.
 

  • 1 Als Internetdokument erhältlich über http://www.internationalepolitik.de/Inhaltsverzeichnis/2004/Dokumente_0….
  • 2 Zum Fundort s. Anm. 1.
  • 3 UNDP: Arab Human Development Report 2004: Towards Freedom in the Arab World, Stanford 2005.
  • 4 Fundort des Textes s. Anm. 1.
  • 5 Vgl. die umfassenden Übersichten in Sigrid Faath: Politische und gesellschaftliche Debatten in Nord- afrika, Nah- und Mittelost. Inhalte, Träger, Perspektiven, Deutsches Orient-Institut, Hamburg, 2004.
  • 6Vgl. Udo Steinbach: Der islamische Fundamentalismus heute – Strategiewechsel oder Kopernikanische Wende?, Welt Trends 30, 2001, S. 75–91.
  • 7Vgl. Sigrid Faath: Politik und Gesellschaft in Nordafrika, Nah- und Mittelost zwischen Reform und Konflikt. Entwicklungstendenzen bis 2010, Deutsches Orient-Institut, Hamburg, 2006.