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01. Aug. 2003

Irakische Fata Morgana

Projekt Demokratie in islamischen Ländern: zum Scheitern verurteilt?

Die im Westen verbreitete These, „der Islam“ und Demokratie seien inkompatibel, wird von Ländern wie der Türkei und Indonesien widerlegt; dennoch zeigt ein Überblick über den islamisch Raum, dass die Errichtung demokratischer Ordnungen „von innen“ international wenig Unterstützung findet. Mit Blick auf Irak schlägt der Autor vor, „zivilgesellschaftliche Kräfte“ zu unterstützen und „es ihnen selbst zu überlassen, ein System nach ihrer eigenen Wahl zu schaffen.“

Es hat sich nicht viel getan in Sachen Demokratie im Nahen Osten, seit der amerikanische Präsident, George W. Bush, am 1. Mai 2003 das Ende des Krieges in Irak verkündete. Im Land selbst ist der Widerstand gegen die Besatzungsmächte, insbesondere die USA, unter Teilen der arabischen Bevölkerung noch immer groß. Mit dem Einsetzen eines „Übergangsrats“ durch den amerikanischen Zivilverwalter Paul Bremer am 13. Juli hat die Besatzungsmacht zwar einen ersten Schritt in Richtung Rückführung von Verwaltung und Gesetzgebung in irakische Hände getan, doch hat mit seinem Einsetzen das Gerangel um die Kompetenzen des Rates bereits begonnen. Im Übrigen werden jedoch alle wichtigen Entscheidungen weiterhin von Bremer selbst getroffen.

Aber auch im nahöstlichen Raum zwischen Ägypten und dem Persischen Golf ist alles beim Alten geblieben: Die Wahlen in Jemen und das Referendum über die neue Verfassung in Katar im April 2003 sowie die Wahlen in Jordanien im Juni liegen weit unterhalb der Schwelle des beabsichtigten Demokratisierungsschubs aus Washington. Dieser Befund wird jene stärken, die sich gegenüber dem amerikanischen Anspruch der Demokratisierung der Region von Anfang an skeptisch gezeigt haben.

Die Argumente über die Perspektiven der Demokratisierung der Region sind struktureller sowie konjunktureller Natur. Strukturell, indem weithin die Ansicht vertreten wird, „der Islam“ und Demokratie seien inkompatibel. Die konjunkturelle Argumentation stellt dies in Frage und verweist vielmehr auf die noch ungenügenden gesellschaftlichen Voraussetzungen demokratischer Mitbestimmung, den niedrigen Entwicklungsstand zahlreicher islamischer Länder und das in der Vergangenheit fehlende Interesse, Demokratie in einer Region zu fördern, auf die sich starke politische, sicherheitspolitische und energiepolitische Interessen zahlreicher auswärtiger Mächte richten. Diese Argumente gehen von der Beobachtung aus, dass es im vom Islam geprägten Raum nur wenige Demokratien nach westlichem Verständnis gebe. Der Schub an Demokratisierung, der in den achtziger und neunziger Jahren Lateinamerika ein neues Gewicht gegeben, Teile Asiens sowie Afrikas erfasst und Osteuropa tief greifend verändert habe, sei nahezu wirkungslos am islamisch geprägten Raum vorübergegangen.

Diese Beobachtung ist nur eingeschränkt gültig. So hat die Demokratie in der Türkei eine in die fünfziger Jahre zurückreichende Tradition. Deren Unzulänglichkeiten sind zwar immer wieder kritisiert worden. Gleichwohl sind in den letzten Jahren signifikante Fortschritte gemacht worden, ein Prozess, der durch die Perspektive auf Mitgliedschaft in der EU eine weitere Dynamik erhalten hat. Die Wahlen vom 3. November 2002, mit denen der türkische Wähler nahezu die gesamte politische Klasse, die wesentlich für die Blockaden des Demokratisierungsprozesses verantwortlich war, abgestraft hat, haben dies eindrucksvoll dokumentiert.

Skepsis und Optimismus

In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten islamischen Land, hat mit dem 1997 erfolgten Sturz des autokratischen Regimes von General Suharto ein eindrucksvoller Übergang zur Demokratie stattgefunden, der sich seither konsolidiert hat. Bangladesch und mit Einschränkungen auch Malaysia können als funktionierende Demokratien bezeichnet werden. Grundlage der demokratischen Ordnung ist insbesondere mit Blick auf die Türkei, Bangladesch und Indonesien eine weitgehende bis vollständige Trennung von Politik und Religion.

In zahlreichen anderen Staaten im islamisch geprägten Raum sind Elemente demokratischer Prozesse in gesellschaftliche und politische Ordnungen eingefügt, die durchweg autokratisch geprägt sind. In vielen von ihnen ist der Islam als Staatsreligion verankert; und das islamische Recht ist, in unterschiedlicher Formulierung in den Verfassungen, das Bezugssystem der Rechtsordnungen. Während in Saudi-Arabien der rigide orthodoxe sunnitische Islam wahhabitischer Prägung nicht einmal Ansatzpunkte für demokratische Elemente bietet, lässt die von Ajatollah Ruhollah Khomeiny errichtete Islamische Republik Iran, die auf Elementen des schiitischen Islams beruht, demokratische Prozesse auf nationaler wie kommunaler Ebene zu, die freilich für die Politik des Landes nicht richtunggebend sind. Der entscheidende Machtfaktor, der zugleich den islamischen Charakter des Staates manifestiert, ist der religiöse Führer Ayatollah Ali Khamenei, der von Khomeiny selbst eingesetzte Nachfolger. Der ebenfalls nicht gewählte „Wächterrat“ kontrolliert die Entscheidungen des Parlaments mit Blick auf ihre Vereinbarkeit mit dem islamischen Recht; er ist dem gewählten Parlament übergeordnet.

Ein Überblick über den islamisch geprägten Raum von Mauretanien und Marokko im Westen bis Indonesien im Osten lässt bei der Frage nach der Verwirklichung demokratischer Ordnungen Raum für Skepsis und Optimismus zugleich. Der optimistische Blick könnte auch durch empirische Beobachtungen gestützt werden: Insbesondere in der gebildeten Elite ist die Forderung nach Demokratisierung der Systeme durchaus populär. Der Fall der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa wurde auch in weiten Teilen der islamischen Welt mit Anteilnahme und Erwartungen verfolgt, bevor in den neunziger Jahren klar wurde, dass die Errichtung demokratischer Ordnungen nicht nur keine Unterstützung findet, sondern außerhalb der betroffenen Staaten selbst nicht gewollt ist. Die Niederschlagung der Volksaufstände in Irak, die – ungehindert durch die siegreiche Allianz zur Befreiung Kuwaits unter der Führung der USA – im März und April 1991 durch Kampfhubschrauber und Bodentruppen Saddam Husseins erfolgte; der Abbruch der Wahlen in Algerien im Januar 1992 (der eine Welle des Terrorismus ohne Vorbild in der islamischen Welt auslöste); die Hinwendung des tunesischen Präsidenten, Zine el Abidine Ben Ali, zu autokratischer Machtausübung; sowie ganz allgemein das völlige Desinteresse, die Welle der Demokratisierung von Osteuropa in den Nahen Osten hinüberschwappen zu lassen – alles dies waren Faktoren, die potenzielle Demokratisierungskräfte in Apathie verfallen ließen.

In Iran ist das Thema „Demokratie“ Gegenstand intensiver, ja zum Teil dramatischer innenpolitischer Auseinandersetzungen geworden. Lässt sich die „Islamische Republik“ in eine liberale Demokratie westlichen Verständnisses transformieren? Kann es eine „Perestroika“ geben, bei der das Gebäude umgestaltet wird, aber das Fundament erhalten bleibt? Oder ist die Trennung von Politik und Religion Voraussetzung der Verwirklichung jener Form von Demokratie, wie sie einem Teil der Erneuerer und insbesondere den protestierenden Studenten vorschwebt? Dies aber würde die Entmachtung des religiösen „Führers“ und die Verwestlichung des Systems bedeuten – Entwicklungen, die auf den entschiedenen Widerstand des traditionalistischen Establishments in Teheran stoßen würden.

Präsident Mohammed Khatami und der Reformflügel des Regimes sind in jüngster Zeit mit zwei Reformvorhaben gescheitert, die die Liberalisierung des Systems hätten vorantreiben sollen, ohne das System grundlegend in Frage zu stellen. Das erste Gesetz hätte dem Präsidenten mehr Macht gegenüber der von Traditionalisten beherrschten Justiz gegeben und somit die freie Meinungsäußerung gestärkt. Mit dem zweiten hätte dem Wächterrat das Recht entzogen werden sollen, zu Wahlen antretende Kandidaten auf ihre „Eignung“ hin zu überprüfen und gegebenenfalls zurückzuweisen. Die Ablehnung der beiden im Parlament verabschiedeten Gesetze durch den Wächterrat hat die Enge der Sackgasse erkennen lassen, in der sich das Regime befindet.

Die Auseinandersetzung im politischen Raum wird von philosophischen und theologischen Debatten begleitet. In ihnen zeigt sich, wie sehr sich die Paradigmen der Erörterung des Verhältnisses von Islam und Demokratie mit den Jahren verschoben haben. Es waren die Traditionalisten, die zunächst das Thema besetzt und die Debatte dominiert hatten. Der Islam war danach eine „demokratische“ Religion und die Institutionen in Staat und Gesellschaft waren in islamischen Koordinaten festzumachen. So wurde etwa das Parlament mit dem koranischen Gebot der „Beratung“ (shura) gleichgesetzt. Die gegenwärtige Reformdebatte in Iran stellt demgegenüber einen westlichen Demokratiebegriff in den Mittelpunkt. Jetzt gilt es, die islamische Religion mit diesem vereinbar zu machen. Nach Abdolkarim Sorush, einem der Vordenker des neuen Demokratieverständnisses, geschehe dies über den Intellekt, also über einen religiösen Erneuerungsprozess. Der Intellekt koordiniere das religiöse Verständnis „mit anderen Grundsätzen und Geboten“. Doch einzuräumen, dass es sich bei diesen „anderen Grundsätzen und Geboten“ um den säkularen Raum handelt, kann noch immer zu hohen Gefängnisstrafen führen.

Aussichten für Irak

Die Botschaft mit Blick auf die Verwirklichung der amerikanischen Pläne für Irak und den Mittleren Osten insgesamt lautet: Eine Betrachtungsweise, die die Demokratisierung des Landes mit dem Hinweis auf die „islamischen Traditionen“ der überwältigenden Mehrheit der Iraker – ob Araber oder Kurden – in Frage stellt, ist unangemessen. Das Erscheinungsbild der islamischen Welt mag einen Beobachter in Sachen Demokratie skeptisch stimmen; die genannten Staaten zeigen, dass Muslime unter gegebenen Bedingungen zum Aufbau demokratischer Strukturen in der Lage sind. Die am Beispiel Iran festgemachten Entwicklungen in politischer Praxis und theoretischer Konzeptualisierung lassen sogar erkennen, dass viele Muslime in demokratischer Verfasstheit (in Verbindung mit dem Respekt vor den Menschenrechten) eine Herausforderung an den Islam in universaler Dimension sehen.

Die Skepsis gegenüber den amerikanischen Plänen ist vielmehr konjunktureller Natur. Es sind konkret nachvollziehbare Argumente und Rahmenbedingungen, die das Vorhaben, in Irak eine auf Elementen westlichen Demokratieverständnisses beruhende Demokratie aufzubauen, mit der Aura des Scheiterns umgeben. Dabei sollen die amerikanischen Intentionen gar nicht von vornherein mit dem Argument in ein schräges Licht gestellt werden, dass die „Demokratisierung“ erst spät und zu einem Zeitpunkt nachgeschoben wurde, als eine Verwicklung des Diktators in den internationalen Terrorismus als Rechtfertigung eines Regimewechsels nicht mehr aufrechtzuerhalten war.

Andererseits weist dieser Tatbestand auf ein Grundproblem hin, dem sich die USA gegenüber sehen: den Mangel an Glaubwürdigkeit. Die USA stehen im Nahen und Mittleren Osten nicht im Ruf, Wegbereiter der Demokratie in der Region zu sein. Das Jahr des Sündenfalls war 1953. Damals wurde in Teheran der beliebte, aus einer nationalistischen Bewegung hervorgegangene Ministerpräsident Mohammed Mossadegh durch einen vom CIA inszenierten Coup gestürzt. Die Wiedereinsetzung des Schahs beendete ein Jahrzehnt relativ demokratischer Herrschaft in Iran und eröffnete die autokratische Epoche von Mohammed Reza Pahlevi, der sich außenpolitisch auf enge Beziehungen mit den USA stützte. Im Zeitalter des einsetzenden Ost-West-Konflikts wollte man in Washington an einem der Sowjetunion benachbarten geostrategisch und – was das Öl betrifft – so wichtigen Punkt des Mittleren Ostens keinen nationalen Führer hinnehmen, der sich angeschickt hatte, die Ölindustrie zu verstaatlichen. Die Wahrnehmung der USA in den Augen der meisten Menschen in der Region ist die einer Macht, die jahrzehntelang die Herrschenden unterstützt und gehalten hat. Die amerikanische Aufforderung zu einer „Neuen Weltordnung“ im Gefolge der Vertreibung Saddam Husseins aus Kuwait (1990/91) verklang, als der Emir von Kuwait in sein ausgeplündertes Land zurückkehrte. Entgegen vorangegangener Ankündigungen machte dieser keine Anstalten, Kuwait stärker zu demokratisieren.

Wichtiger aber noch als mangelndes Vertrauen in die USA ist die Ausgangslage im Land selbst. Mit dem von außen herbeigeführten Sturz des Regimes ist die Illusion zerstört, „die Iraker“ seien ein Volk mit einer „irakischen“ Nationalität, das sich nur noch eine neue demokratische Verfasstheit zu geben brauche. Dies ist vor allem mit Blick auf die Kurden eine Fehleinschätzung. Nach dem Einsturz der staatlichen Fassade, die Anfang der zwanziger Jahre von Großbritannien errichtet wurde, stehen die Volks- und Religionsgruppen wieder vor der Möglichkeit, sich gegebenenfalls auch staatlich neu zu organisieren. Das trifft vor allem auf die Kurden zu. Das Verhältnis zwischen der kurdischen Minderheit und der arabischen Mehrheit ist durch die Geschichte Iraks hindurch gespannt gewesen. Insbesondere seit dem Sturz der haschemitischen Dynastie (1958) und der Hinwendung der diversen Regime in Bagdad zu einem ausgeprägten arabischen Nationalismus haben sich die Kurden in nahezu unablässigen Kämpfen gegen Zentralisierungs- und Arabisierungsbestrebungen der Regierungen in Bagdad zur Wehr gesetzt. Das gilt insbesondere bis 1991 auch für das baathistische Regime unter Saddam Hussein, dessen Unterdrückung und Kriegsführung auch systematische Vertreibung und Ausrottung durch den Einsatz von Giftgas einschlossen.

Es läge keineswegs fern, wenn sich die Kurden in der veränderten Situation auf das Prinzip der Selbstbestimmung beriefen. Dabei könnten sie auf die Entwicklungen auf dem Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens und auf das Entstehen neuer Staaten dort verweisen. Bereits in den neunziger Jahren hatten sie unter amerikanischem Schutz ein hohes Maß an Selbständigkeit; was sich seit dem Sturz der Regierung in Bagdad weiter ausprägt. Weil die Kurden die Arabisierungspolitik des baathistischen Regimes in ihrer Region rückgängig machen, vertieft sich der Graben zwischen Arabern und Kurden. Mit jedem Tag des anhaltenden politischen Vakuums in Bagdad dürften in der kurdischen Region im Norden des Landes faits accomplis entstehen, die es erschweren werden, eine staatliche Struktur innerhalb der Grenzen Iraks zu finden, die dem Streben der Kurden nach Eigenständigkeit entgegenkommen würde.

Dass diese Entwicklungen die Türkei nicht unberührt lassen, hat Ankara wiederholt zu verstehen gegeben. Nicht nur fürchtet der türkische Staat das Entstehen einer kurdischen Entität mit Blick auf das Kurdenproblem im eigenen Land. Auch hat Ankara ein hohes Interesse, in Zukunft an der Ausbeutung der Ölvorkommen im nördlichen Irak stärker teilzuhaben. Die kurzzeitige Festsetzung türkischer Soldaten in Kirkuk im Juli 2003 durch die amerikanische Militärverwaltung hat das Ausmaß an Verwicklungen erkennen lassen, die entstehen können, wenn das staatliche Fortbestehen Iraks zur Disposition stünde. Für ein künftiges Regime in Bagdad würde das bedeuten, dass wahrscheinlich nur mit erheblicher militärischer Stärke und weit reichender Machtvollkommenheit die Integrität des Landes zu gewährleisten wäre.

Für die arabische Mehrheit hat der Zusammenbruch der staatlichen Zentralgewalt die Frage nach der Machtverteilung in Bagdad neu gestellt. Seit der Eingliederung Mesopotamiens in das sunnitisch-islamische Reich der Osmanen (1534) stellten die sunnitischen Araber das dominierende Element in der Verwaltung. Daran änderte sich auch unter den Briten nichts, obwohl sich in der Vergangenheit das Verhältnis von Sunniten und Schiiten zunehmend zugunsten letzterer entwickelt hatte. Auch unter der Herrschaft der laizistischen Baath-Partei seit 1968 blieben die Machtverhältnisse im Verhältnis von Sunniten und Schiiten im Wesentlichen bestehen.

Islam und Gesellschaft

Die Neuordnung des politischen Systems bedarf der Klärung zweier grundlegender Gestaltungslinien. Wie wird das Machtverhältnis zwischen Schiiten und Sunniten neu bestimmt? Und was wird die Rolle des Islams in Gesellschaft und Staat in einem neuen Irak sein? Seit dem Fall des Baath-Regimes, das Religion im öffentlichen Raum brutal unterdrückte, haben die Schiiten ihr neues Selbstbewusstsein manifestiert. Auch in Irak sind diese nicht länger eine religiöse Gruppe, die quietistisch im Schatten der großen Heiligtümer lebt. Auch sie sind von der Politisierung berührt, die Khomeiny mit der Revolution in Teheran bewirkt hat. Unübersehbar machtbewusst geworden, fordern die Führer der Schiiten in Irak eine mitbestimmende Rolle bei der Gestaltung des künftigen Systems. Kompliziert wird die Ausgangslage durch die Tatsache, dass die Schiiten nicht mit einer Stimme sprechen. Seit der Rückkehr einiger ihrer Führer aus dem Ausland sind Macht- und Richtungskämpfe unter ihnen ausgebrochen.

Fraglich ist auch, welche Rolle Teheran bei der Gestaltung des neuen Iraks spielen wird. Dem Land, das sich als Führungsmacht der Schiiten versteht, kann nicht gleichgültig sein, wie sich die Machtverhältnisse im Nachbarland entwickeln. Die Neigung Teherans, sich beim Aufbau des neuen Iraks einzumischen, könnte in dem Maße zunehmen, in dem die Spannungen zwischen Washington und Teheran wachsen und hinter dem Vorwurf, Iran strebe den Besitz von Atomwaffen an, ein Regimewechsel in Iran betrieben wird. Teheran verfügt über Kanäle und Instrumente, den Alliierten in Irak erhebliche Sicherheitsprobleme zu schaffen.

Angesichts der neuen Rolle der Schiiten stellt sich auch die Frage nach dem Stellenwert des Islams in Gesellschaft und Staat neu. Die schmale sunnitisch-arabische Staatselite war weltanschaulich arabisch-nationalistisch und säkularistisch. Beides ist von der Baath-Herrschaft missbraucht und zynisch ad absurdum geführt worden. Der arabische Nationalismus führte nicht nur zur Dauerkrise mit den Baathisten in Damaskus und anderen arabischen Nationalisten, sondern gipfelte auch in der Besetzung und Annektierung Kuwaits 1990. Der Widerstand gegen das Regime kam im Wesentlichen aus den Reihen der Schiiten und einiger ihrer religiösen Führer. Diese haben dafür dem säkularistischen Regime einen hohen Blutzoll gezahlt.

Den an die Macht drängenden Schiiten dürfte es deswegen auch nicht in erster Linie um die Errichtung einer Demokratie westlichen Musters als vielmehr um eine Ordnung gehen, in der sich islamische Elemente von legitimer Herrschaft wiederfinden – auch wenn dies nicht notwendigerweise eine Islamische Republik khomeinistischen Zuschnitts sein wird. Dafür spricht, dass insbesondere im letzten Jahrzehnt der Baath-Herrschaft – auch als Folge von politischer Repression und wirtschaftlichen Sanktionen – der Mittelstand, der eine säkular-demokratische Verfassung tragen könnte, ausgezehrt wurde. Eine Gesellschaftsschicht, die eine Demokratie westlichen Zuschnitts für erstrebenswert hält, existiert nur noch rudimentär.

Dies ist um so gravierender, als die Herrschaft Saddam Husseins nur scheinbar auf einem national-irakischen Konsens beruhte. In Wirklichkeit hat sie die Gesellschaft mit Blick auf das oberste Ziel, den Machterhalt, retribalisiert. Dass sie dadurch insbesondere die Kurden polarisierte, ist bereits gesagt worden. Brutale Gewalt sowie die Vergabe politischer Privilegien und wirtschaftlicher Vorteile an Stämme und Familienclans und deren Führer haben dem Regime seine jahrzehntelange scheinbare Stabilität verliehen. Wie angesichts dieser Zerklüftung der Gesellschaft politische Parteien, die mehr sind als nur Instrumente zur Durchsetzung persönlicher Interessen, als Träger eines demokratischen Systems entstehen und funktionieren sollen, ist schwer zu sehen. Verschärft wird die Lage durch die jahrzehntelang verübten Verbrechen, die den Wunsch nach politischer Abrechnung auslösen dürften.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Besatzungsmächte ihren verkündeten Zielen in Irak noch nicht näher gekommen sind. Tatsächlich sind Gesellschaft und Staat von Verwerfungen gekennzeichnet. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis von Arabern und Kurden (und Turkmenen); dies gilt auch für die Machtausübung und Verwaltung in einzelnen Regionen und Städten. Dabei spielen schiitische religiöse Führer keine geringe Rolle. Die keineswegs insignifikanten Reste des alten Regimes setzen sich in einem „Guerillakampf“ der Errichtung eines neuen Systems zur Wehr. Und es ist zu befürchten, dass auch andere Segmente der irakischen Gesellschaft dazu übergehen werden, je länger es den Besatzungsmächten nicht gelingt, den Menschen vor Augen zu führen, dass der unter enormen Zerstörungen und Opfern vorgenommene Machtwechsel von außen ihnen zu materiellem und politischem Vorteil gereicht.

Da diese Probleme die Entwicklung Iraks auf absehbare Zeit konfliktreich gestalten dürften, werden die USA vollauf damit beschäftigt sein, einen Ausweg aus der Verwicklung in dem Land zu suchen. Den Rest ihrer politischen Energien im Nahen Osten werden sie auf Palästina verwenden müssen, wo sich ebenfalls keine leichten Lösungen abzeichnen. Das ursprünglich verkündete Ziel einer Demokratisierung des ganzen Mittleren Ostens dürfte dabei aus dem Blick geraten.

Daran, dass dies notwendig ist, kann jedoch kein Zweifel bestehen. Die immense Kluft zwischen Regierenden und Regierten ist während des Irak-Krieges einmal mehr zutage getreten. Die Demonstrationen in Ägypten, den Maghreb-Ländern, Jordanien, ja sogar auf der Arabischen Halbinsel richteten sich gegen die Militäraktionen der Alliierten; sie meinten aber zugleich Regime, die nach innen bei einem großen Teil der Bevölkerung kaum noch über Respekt und Legitimität verfügen, und deren Erhalt nach außen derart von den USA abhängt, dass ihre Handlungsspielräume gering sind und sie am Ende Washington Gefolgschaft leisten – ob sie es wollen oder nicht.

Der wirkungsvollste Weg, die Demokratisierung zu fördern, wäre, zivilgesellschaftliche Kräfte zu unterstützen und es ihnen selbst in ihren Auseinandersetzungen mit ihren Regierungen zu überlassen, ein System nach ihrer eigenen Wahl zu schaffen. Am Ende wäre dies eine Synthese aus den wesentlichen Elementen einer modernen Demokratie sowie Elementen der Religion und Kultur, der geschichtlichen Erfahrung und der gesellschaftlichen Strukturen. Von außen importierte oder gar oktroyierte Systeme werden nicht zu stabilen Lösungen führen.

Das größte Fragezeichen steht über der Demokratisierbarkeit der traditionalistischen Regime auf der Arabischen Halbinsel. Während die Gesellschaften außerhalb derselben mit Elementen von Demokratie und demokratischen Mechanismen in den zurückliegenden Jahrzehnten immerhin selektive Erfahrungen hatten, trifft dies auf die konservativen Systeme nicht zu. In Saudi-Arabien – und dies gilt mutatis mutandis auch für andere Gesellschaften und Staaten der Halbinsel – beruhen Politik und Machtausübung so sehr auf herkömmlichen Strukturen der Autorität, dass nicht abzusehen ist, wie hier demokratische Wandlungen nach modernem Verständnis eintreten können, ohne dass es zu tiefen Brüchen kommt. Politische Parteien als Organisationen der politischen Willensbildung sind unbekannt. Entscheidungsfindung vollzieht sich gemäß persönlichen, familiären und stammesmäßigen Loyalitäten vormoderner Tradition. Dass aber auch die traditionellen Systeme unter Wandlungsdruck geraten sind, hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt; zuletzt in dem Terrorakt in Riad im Mai 2003.

Bibliografische Angaben

Internationale Poltik 8, August 2003, S. 11 - 18

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