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01. Sep 2006

Weltordnung durch Gerechtigkeit?

Eine ökonomische Theorie der Neufiguration von Staat und Raum

Um die riesige Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt zu mildern, wird oft globale Umverteilung gefordert. Doch wie die mangelnden Ergebnisse von fünf Jahrzehnten Entwicklungspolitik zeigen, lässt sich globale Gerechtigkeit schwer durchsetzen. Unter welchen Bedingungen wären die Erfolgschancen höher? Einige ketzerische Überlegungen münden hier in einer Theorieskizze, die mögliche neue Wege aufzeigt.

Die normativen Ideen globaler Gerechtigkeitslösungen, vor allem die menschenrechtsbasierten, sind längst Gemeingut oder Sozialkapital der Welt geworden – aber nicht, weil sich die Menschenrechte durchsetzen, sondern weil sie eine hervorragende Folie bieten für die Forderung nach globaler Umverteilung. Das geschieht nach folgendem Muster:

  • Das Land A behandelt seine Bürger nach Maßstäben, die in Europa als nicht menschenrechtskonform eingestuft werden. Es erfolgt international Kritik.
  • Die Führung des Landes A fordert dann Geld, weil die Kosten der Durchführung der Aufhebung von Menschenrechtsverletzungen vom Land A nicht aufzubringen seien.
  • Wenn die kritisierende internationale Gemeinschaft B nun auf diese Gerechtigkeitsherstellungsforderung eingeht und zahlt, ist unklar, ob das Geld zum Zweck der Aufhebung der Menschenrechtsverletzungen verwendet wird oder in die üblichen Konten läuft. Weil das unklar bleibt, ist es – und hier beginnt der neue Diskurs über globale Gerechtigkeit – zulässig, neue Verträge einzuführen. Wir können bei dieser Argumentation den Ländern A nicht verwehren, die Kosten der Änderung der Rechtssysteme finanziert bekommen zu wollen, aber wir können – anstelle von unspezifischen Finanzierungen – auf Vertragserfüllung bestehen und damit auf Zweckerfüllung. Das hätte zur Folge, Zahlungsabbruch (und Rückzahlungsforderungen) bei Nichteinhaltung der globalen Verträge einzuführen. Wir reden nicht mehr von Ausgleichszahlungen, sondern von Verträgen, die von Fall zu Fall zu schließen und von beiden Seiten zu erfüllen sind.

Nun ist es schwierig, die Leistung zu kontrollieren, aber schwieriger noch wird es, den Bevölkerungen der zahlenden Demokratien B eine globale Gerechtigkeit anzuempfehlen, welche eben jene Haushaltsmittel benötigt, die intern gerade durch Sozialreformen eingespart werden. Es geht hier um neuartige Nachhaltigkeits-Phänomene: Wie kommt ein Land A in die Lage, institutionelle Gewährleistungen zu bieten, die den Aufbau von Institutionen oder/und ihre Stabilität garantieren, damit B legitim (vor allem wegen seiner Reformlage innenpolitisch legitimierbar) investieren kann? Wir haben es hier mit mehreren Problemdimensionen zu tun:

  • Unvollständige Verträge. Zahlungen, aber kein Monitoring, keine Supervision – es herrscht eine systematische Unklarheit. Man weiß inzwischen: Globale Beziehungen sind mehrfach auf Rentseeking ausgelegt: innerhalb der Länder A, deren Eliten sich direkt oder indirekt aus dem Staatshaushalt bedienen, und in den Geberländern B, in denen Interessengruppen darauf achten, dass nur solche globalen Verträge geschlossen werden, die ihre Renten ermöglichen bzw. erhöhen.
  • Asymmetrische Marktlösungen. Was der Globalisierung negativ vorgehalten wird, nämlich dass sie alle Kulturen und Gesellschaften nach dem Marktmodell konfirmiere, ist insofern unvollständig, als sich die nord-atlantischen Märkte gegen die kostengünstigeren Agrarprodukte der Dritten Welt abschotten. Die Marktöffnung, die wir im Globalisierungstrend den Ländern A empfehlen, gewähren wir ihnen bei uns nicht. Wir hintertreiben ihren Marktzutritt (wieder wegen Rentseekingz.B. europäischer Bauern).

Das wirkt doppelt: Mangelnde Reziprozität macht eine Ethik unglaubwürdig, und dieser Zweifel an dem Sinn eines freien Marktzutritts ist Wasser auf die Mühlen aller Besitzstandswahrer zuhause. Die Empfehlungen liberaler Wirtschafts- und Wachstumspolitik wirken dann lediglich wie ein Verkaufsförderprogramm, das sich beiläufig der Sprache der Moral bedient und Ökonomik nur halb verstehen will.

Die harmlos klingende Formel der unvollständigen Verträge bezeichnet ein weitaus größeres Problem: die Heterogenität der Politikformen und ihrer Rechtszustände. Hier laufen Gerechtigkeitsdiskurse schwer und gehemmt, weil die Unterstellung, es gäbe weltweite Normen, fehlt. Wir haben es nicht mit einer Zunahme von Menschenrechtskonventionalität zu tun, sondern mit der Zunahme der Auszahlungen in deren Namen. Das Thema globale Gerechtigkeit ist rentseeking-sensibel, d.h. ausbeutbar. Da wir die Verträge nicht auf Erfüllung prüfen, wissen wir nicht, wofür tatsächlich gezahlt wird: für den Gerechtigkeitsausgleich oder an die in A herrschenden Eliten, die dem Zahler B nichts anderes verkaufen als eine formelle Ausgleichslegitimation ohne tatsächlichen Ausgleichseffekt. Vielfältig erweisen sich die politischen Zahlungen, die als Gerechtigkeitskompensationen gelten, als Transaktionskosten der Monopolisierung von Marktbeziehungen zwischen spezifischen Handelsgruppen.

Doch ist das Monitoring oder gar die Supervision ein Eingriff in die Staatssouveränität. Wenn man ausschließen will, dass die Gelder, die als soziale Investition gezahlt werden, für die Rentenauszahlungen an die herrschenden Clans dienen, dann ist die Direktauszahlung das Beste; dieses wird aber souveränitätstaktisch nicht erlaubt, da es die Zugriffschancen der Eliten auf ihre globalen Zusatzrenten mindert. Auch ist eine damit verbundene vollständige Übernahme der Verantwortung für andere Länder weder effizient gestaltbar (die Ausbeutungsspielräume vergrößern sich), noch ist dies als Dauerlösung sinnvoll. Es ist zu teuer, und ein entmündigtes Volk wandelt sich leicht zum entfesselten Mob.

Deshalb sind andere Ideen zu eruieren, wie sie in Konfliktbereichen bereits Anwendung finden: Sicherheitszonen. Solche Zonen schränken die Staatssouveränität ein. Wenn man die Gründe verschiebt – statt militärischer zivile nimmt, zum Beispiel effektive Hungerhilfe, effektive Agrarreform etc. – könnte es sinnvoll sein, quasi autonome Zonen einzurichten, zeitlich beschränkt auf das jeweilige soziale Investitionsprojekt, für das die Zahler B ihre Gelder direkt an die Bevölkerung auszahlen, ohne Zwischenschaltung von lokalen Clans. Das wäre ein Eingriff höherer Ordnung (der ja in Krisenfällen längst durch die UN praktiziert wird), weil er eine neue Sozialität ausbilden würde. Solche korruptionsfreien Zonen freier Hilfe wären temporäre Souveränitätsaufhebungen durch legitimierte Dritte, auf der Basis von globalen Verträgen, deren Nichteinhaltung jedoch nicht nachträglich sanktioniert, sondern während der Laufzeit des Vertrags effektiv umgesetzt würde. Wenn die Vertragshalter in Land A nicht fähig sein sollten, die globalen Gerechtigkeitsverträge zu erfüllen, übernähmen Stellvertreter diese Aufgabe, bis sie erledigt ist. Die Drohung – statt Sanktion Supererfüllung – macht nicht aus einer Vertragsverletzung eine weitere, sondern ist umgekehrt ein Fall von Erfüllungserzwingung: Supererfüllung. Das wird manches Mal nicht ohne militärischen Schutz gehen.

Damit soll nicht ein moralisches Mäntelchen genäht werden für eine als Hilfsmaßnahme verbrämte Hegemonialpolitik (so wie Quasi-Machtübernahmen durch CIA und KGB jahrzehntelang als „politische und militärische Beratung“ verharmlost worden sind). Auch das Zustandekommen und die Art der Durchführung der Supervision unterliegen einer Supervision – das Modell des UN-Mandats ist eine brauchbare Möglichkeit, besser als nichts, wenn auch nicht gut. Um Legitimation durch Verfahren herstellen zu können, dürfen diese nicht bloß ein Widerschein der politischen Situation Mitte des letzten Jahrhunderts sein. Die Hebammen der UN-Geburt sind nicht deren Vormund.

Wir werden solche Modelle der Supererfüllung vielfältig durchspielen müssen, wie zum Beispiel auch die Frage nach freiwilligem Anschluss von Ländern des Typus A an Leading Partners. Wieso sollten sich afrikanische Staaten nicht ihren ehemaligen Kolonialherren anschließen, wenn sie sich davon Ordnungs-, Politik- und Entwicklungsvorteile versprechen – unter Aussetzung gewisser Selbständigkeiten? Oder neuen Staaten: indem zum Beispiel die Bundesrepublik das Patronat für Gambia übernimmt, oder Namibia, Kasachstan, Palästina?

Die politische Ordnung, die man in Ländern A aus eigener Kraft nicht stabilisieren kann, jedenfalls nicht so, dass die Weltbank das Ergebnis akzeptiert oder andere B-Länder Zahlungen für sinnvoll halten, leiht man sich von Patronatsländern. Diese übernehmen für einen gewissen Zeitraum Ordnungs- und Politikfunktion: „Policyleasing“ beziehungsweise „Institutionleasing“. Damit werden andere Investitionsgewährleistungen geboten: Mehr Investoren als je zuvor aus den Ländern B investieren in A etc. Solche temporären Politik- und Ordnungsleasings hätten den Vorteil, eine kurzfristig nicht reduzierbare kulturelle Komplexität und eth(n)ische Diversität im Fluss halten zu können: solange, bis diese Pluralität in geeigneten Institutionen sozial und wirtschaftlich produktiv wirken kann, statt als Auslöser für Bürgerkriege zu dienen.

Weitaus brisanter sind andere Fragen: Warum gehen wir, globalisierungs-positivistisch, davon aus, dass die vorhandenen Länder die angemessenen Akteure und Vertragspartner sind? Warum beginnen wir beziehungsweise die UN nicht, politische Entwürfe neu auszuschreiben für Länderreformen im strengeren Sinne? Muss Belgien ein Land sein? Besteht Afrika nicht aus hunderten von Ethnien, die alle ihre – dann zu dezentralisierenden – Gebiete bekommen sollten, um eigene Länder zu werden, um auf dieser Basis dann neue Allianzen einzugehen? Sind Argentinien, Brasilien, Uruguay, Kolumbien, Venezuela stabile Länder? Sind ihre Grenzen sinnvoll? Wir Deutschen dürfen das – um die Legitimationsfrage zu klären – thematisieren, da wir zwei staatliche Gebilde zu einem neuen agglomeriert haben, ohne an die Vergangenheit falsch anzuschließen. Wir sind political-merger-erfahren, wenn auch nicht allzu glücklich über den Lösungsverlauf. Auch andere können Kompetenzen einbringen: Tschechen und Slowaken zeigen, wie man sich ohne Blutvergießen trennt, um später vielleicht wieder in einer größeren Einheit wie der Europäischen Union aufzugehen; Großbritannien hatte, zunächst getrieben, dann mehr und mehr freiwillig, seine Kolonien entlassen.

Hier stellt sich die Frage der globalen Gerechtigkeit schärfer: Es geht nicht um die Bestreitung von eventuellen Ansprüchen, sondern um die Bestreitung von Selbständigkeitskompetenz. Viele der ethnisch hoch diversifizierten Länder sind Agglomerate von Spannungen, deren Politik wesentlich darin besteht, hohe Transaktionskosten für die Reibungsminderung aufbringen zu müssen. Diesen Ländern fehlen natürlich Energien für ihre Entwicklung. Sie starren auf ihren ethnischen Binnenzirkus und versuchen, Balancen zu halten, die entfielen, wenn die Ethnien eigene Länder wären.

Natürlich ist es überzogen, daraus zu schließen, man könne ein gleichsam einheitliches Staatsdesign entwerfen für „optimale Länder“. Aber Political Mergers erleben wir ja bereits allenthalben: Die EU ist ein solcher Zusammenschluss, ebenso russische, asiatische und pazifische wie inneramerikanische Pakte und Koalitionen beziehungsweise strategische Allianzen. Warum sollte es nicht möglich sein, über die laufenden Koalitionierungen hinaus konkrete State Mergers zu planen, die die Frage nach der globalen Gerechtigkeit zu einer intranationalen machen, insbesondere dann, wenn reiche und arme Teile in einem demokratischen politisch-institutionellen Rahmen zusammengeführt werden? Wenn Staaten ihre Geldpolitik durch Kopplung an den Dollar oder an den Euro delegieren, warum nicht auch andere Staatsfunktionen – wenn sie im Gegenzug Souveränität anders gelagert zurückerhalten, also nun als Teil ernstzunehmender Einheiten gleiche Augenhöhe erfolgversprechend einklagen können? Es wäre das alte Leviathanspiel von Machthergabe, um legitime Herrschaft zu gewinnen – aber vielfältiger, temporärer, freier.

Die Ethnien sind dabei nicht ausschlaggebend. Es geht nicht um Rassen-politik, sondern um optimale Staaten. Was optimal ist, kann nur historisch-situativ entschieden werden, nicht abstrakt. Welche Ethnien kooperieren können, ist nicht vorgegeben. Sprache, Ethnien, Ressourcen, Geographie, Kultur- und Wirtschaftsinteressen, Religionen, gemeinsame Weltbilder sind alles Komponenten eines je speziellen Mixes. Wie brisant solche Gemische sein können, zeigt das virtuelle Gebilde „Irak“.

Globale und heimische Gerechtigkeit

Wieso – und damit kommen wir wieder zurück auf die Frage im engeren Sinne – erörtern wir die Frage einer globalen Gerechtigkeit als Verteilungsfrage? Und warum in spezifischer Sortierung? Arme arabische oder muslimische Länder zum Beispiel wenden sich an den Westen, um ausgleichende Gerechtigkeit zu suchen; warum geben wir die Arm/Reich-Verteilungsfrage nicht an einen arabisch-muslimischen Kontext ab, also warum sollten nicht reiche arabische Staaten für diese Länder die vornehmlichen Ansprechpartner sein?

Umgekehrt gibt es Gründe, Zahlungen an Staaten, die keine Trennung von Religion und Politik kennen, nur dann zu finanzieren, wenn sie diese Trennung einführen. Wir dürfen eigene Standards anlegen, weil wir sonst interne Legitimationsprobleme bekämen. Natürlich wäre das ein Eingriff in deren Kultur; aber es geht nicht um positivistische Heiligung jeder institutionell-kulturellen Form, die es auf der Welt gibt, sondern um deren Anpassungsfähigkeit: Welche Formen fördern wir, welche nicht? Welche Varianz/Invarianz bietet die andere Kultur an? Kriterium sind auch die eigenen Steuerbürger, denen eine solche Finanzierung erklärt werden muss, mit Gründen, die verständlich sind. Eine Hilfe für Kinder, Frauen etc. muss nach unseren Standards vertretbar sein. Ein Krankenhausprojekt zu finanzieren, in dem Männer besser als Frauen behandelt werden, ist nicht legitimierbar – zumindest nicht für abendländisch-aufgeklärte Demokratien.

Eine solche Lösung ist moralisch aber vertretbar, wenn es um zwischenstaatliche Beziehungen geht. Als Entwurf einer umfassenden globalen Utopie wäre sie ethisch unterbestimmt, müsste weitreichende Annahmen über die Natur des Menschen verallgemeinern, die im euroamerikanischen bzw. nordatlantischen Kontext gewachsen sind. Wo aber eine Pluralität von Alternativen existiert, da dürfen die einzelnen Länder fundamentalistisch sein, also auf ihren Fundamenten Brückenpfeiler bauen und andere Akteure zu reziprokem Verhalten anregen. Sie müssen sogar fundamentalistisch sein, wollen sie nicht unglaubwürdig werden und langfristig damit Legitimität – daheim und im Ausland – verspielen. Kann ein armes Land unter mehreren Sozialkontrakt-Angeboten auswählen, entfallen viele Begründungsleistungen.

Verträge sind freiwillig erzielte Übereinkünfte. Schaffen wir es, unter den Bedingungen realer Zwänge und Unfreiheiten die notwendigen Freiheiten zu verankern? Das ist eine eminente Gerechtigkeitsfrage, in der viele aktuell diskutierte Umverteilungsforderungen – im Hegelschen Sinne – aufgehoben werden.

Gerechtigkeit herzustellen ist, um es noch einmal für den globalen Kontext aufzuspannen, möglich im Rahmen einer gemeinsamen Verfassung, die de facto als Menschenrechtskonvention existiert, als UN-Satzung etc., aber letztlich nicht außerhalb der tatsächlichen Machtgefüge, Politiken und institutionellen Funktionen realisierbar ist. Globale Verfassungen, welcher Dimension auch immer, sind formelle Voraussetzungen für Interventionen, die allerdings genügend Droh- und Sanktionspotenziale haben müssen, um Wirkung zu erzeugen. Deshalb ist es wahrscheinlich zweckmäßiger, die Fragen der globalen Gerechtigkeit als Fragen einer evolutionären Weltpolitik anzugehen, denn in einer evolutorischen Betrachtung haben wir es mit ökonomischen and sozialen Dynamiken zu tun, die die Kompensationsgrundlagen mit evolvieren lassen, und damit auch die ehemaligen Gerechtigkeitsanforderungen. Wenn zudem eigene Bewältigungskompetenzen ausgefaltet werden, entfallen Ansprüche etc. So lohnt es sich, evolutive Pfade herauszufinden, die Gerechtigkeitskompensationsminderungen aufweisen: wegen des Gelingens eigenständiger Entwicklungen.

Unter diesem Blickwinkel sind Global-Justice-Maßnahmen als evolutive dann zu vertreten, wenn sie den Gesellschaften, welche die Maßnahmen fordern und Zahlungen erhalten, Lernpfade angeben, deren Fortgang beobachtbar ist und deren Resultate als positive Rendite auf die damalige Investition betrachtet werden können. Nicht die Zahlung und das Versprechen der Leistung, sondern die Leistung selbst als sichtbare Entwicklung ist das Ziel einer modernen globalen Gerechtigkeit, die deshalb notorisch auf sozialen und gesellschaftlichen Wandel zielt.

Dieser Wandel betrifft aber alle Parteien. Der Diskurs über globale Gerechtigkeit hat bereits dazu geführt, die Fragen grenzüberschreitender Verantwortung und Solidarität als Teil westlicher gemeinsamer Ideenmodelle zu verankern. Die Antworten bewegen sich aber nicht entlang der entsprechenden philosophischen Debatte – der Diskurs trifft auf bereits entwickelte, aber dynamische Gerechtigkeitsvorstellungen.

Die kulturelle Unberührtheit, gleichsam die Jungfräulichkeit des kulturübergreifenden Aktes, ist die große Illusion des globalen Gerechtigkeitsdiskurses. Die Wiederherstellung von Gerechtigkeit ist immer ein Hybrid: Gerechtigkeit A wird mit Gerechtigkeit B entgolten. Das, was die Gerechtigkeit wieder herstellen wollte, erweist sich als Differenz von Gerechtigkeit A und B. Die Verträge, die man einführt, sind hypothetische Gerechtigkeitsgemeinsamkeiten. Gerechtigkeitsausgleiche sind nicht transaktionskostenfrei für die Empfänger: Sie müssen sich modulieren und anpassen.

Deshalb ist der Hintergrunddiskurs der globalen Gerechtigkeitsdiskussionen ein anderer: Welche Pfade der Zivilisationsentwicklung gibt es, welche tolerieren wir? Und auf welche Zivilisation bewegen wir uns zu – wir, die schon und doch nicht „zivilisierten“ Länder?

Literaturhinweise
Norbert Bolz, Friedrich Kittler und Rainer Zons: Weltbürgertum und Globalisierung, München 2000.

Hernando De Soto: The Mystery of Capital, New York 2000.

David Dollar und Aart Kraay: Spreading the Wealth, Foreign Affairs, Januar/Februar 2002., S. 120–133.

Bruno S. Frey: Lilliput oder Leviathan? Der Staat in der globalisierten Gesellschaft, Arbeitspapier Nr. 85, Institut für empirische Wirtschaftsforschung, Universität Zürich 2001.

Francis Fukuyama: Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin 2004.

Olaf Karitzki: Globale Gerechtigkeit und Pluralismus: Eine Weiterentwicklung von John Rawls’ Das Recht der Völker, München 2005.

Martha C. Nussbaum: Capabilities and Human Rights, in Patrick Hayden (Hrsg.): The Philosophy of Human Rights, St. Paul 2001, S. 212–240.

Thomas W. Pogge: Eradicating Systemic Poverty: brief for a global resources dividend, Journal of Human Development, Nr. 1/2001, S. 59–77.

John Rawls: The Law of Peoples, with “The Idea of Public Reason Revisited”, Cambridge/London 1999.

Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 1999.

Prof. Dr. BIRGER P. PRIDDAT, geb. 1950, ist Head of Department for Public Management & Governance an der Zeppelin University Friedrichshafen; er lehrt dort Politische Ökonomie.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 24-29

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