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01. Aug. 2006

Braucht die Politik ethische Leitbilder?

Wo Parlamentarier sich nicht an ungeschriebene Anstandsregeln halten, da braucht es eben Vorschriften und Sanktionen

Moral verlangt Regeln, vor allem in Deutschland. Momentan bewegt uns das Thema Korruption in diversen Schattierungen. Schon werden Regeln zur Prävention aufgestellt: ethische Kodices im Namen einer Angelegenheit, die wir erst dadurch überhaupt kennenlernen: Public Corporate Responsibility.

Das Gemeinwesen soll wohl geordnet sein, lautet die europäische Hintergrundfigur. Anscheinend ordnet die Politik sich nicht selber. Wenn die Bürger erleben, dass das Verhalten von Politikern, die betrogen haben oder korrupt waren, von ihren Artgenossen in der Politik beschönigt und nicht geahndet wird, dann braucht man anscheinend tatsächlich formelle Regeln, da die informellen Regeln des Anstands und der Ehrbarkeit nicht wirken.

Man hätte zum Beispiel informell erwarten dürfen, dass das Parlament von selbst Personen auslädt, welche die Integrität des Parlaments beschädigen. Aber da gibt es keinen selbstverständlichen Ehrbarkeitsmechanismus, der ja lange vor rechtlichen Regelungen greifen müsste. Die so geschaffene Intransparenz ist für eine Demokratie schwierig: Wie wissen die Bürger, wen sie wählen, welche Interessen er neben den ihren noch vertritt, wer ihn sozusagen „gekauft“ hat? Deshalb gehört es zu den formellen Regeln der Demokratie, hier Klarheit zu schaffen, was nichts anderes heißt als: Wählbarkeit. Jeder Parlamentarier (im Bund, im Land, in den Kommunen) legt seine Interessen offen, seine Beisitze, Aufsichtsratsmandate, Beraterverträge, honorierten Gutachten und Vorträge.

Wenn der Bürger als Wähler das lesen kann – warum nicht auf einer obligatorischen Homepage des jeweiligen Parlaments oder Stadtrats? –, kann er es allerdings immer noch nicht gewichten. Es bleibt die Frage offen: Wer zahlt in welcher Höhe für welches Engagement des Parlamentariers? Wenn der Hühnerzüchterverein einen Beiratssitz mit 300 Euro vergütet, ist das unbedeutend im Gegensatz zu einer Aufsichtsratsprämie von zweimal 30 000 Euro pro Jahr. Wer so viel bekommt, ist für die Interessengruppe von höherem politischem Wert. Das ist ein Signal für den Bürger, hier Interessen zu vermuten, die er mit seinen eigenen vergleichen muss, um entscheiden zu können, ob er diesen Parlamentarier tatsächlich wählen möchte.

Folglich muss der ethische Kodex lauten: 1. alle Interessenverflechtungen nennen, 2. auch die Höhe der Zahlungen, und zwar einzeln, nicht in summa., 3. muss festgelegt werden – weil das anscheinend die Schwachstelle der jetzigen Handhabung ist –, welche Sanktionen erfolgen, wenn gegen den Kodex verstoßen wird.

Sanktionsunbewehrte Regeln sind lediglich Kommunikationsergebnisse, ohne institutionellen Effekt. Momentan lohnt es sich, die Angelegenheit jeweils auszusitzen. Das kollektive Gedächtnis vergisst schnell. So entsteht aber der Eindruck, die Politik fördere solches Verhalten. Sanktionen sind das A und O von ethischen Kodices, denn anscheinend gibt es keine Verantwortlichkeit mehr, aus der heraus die betroffenen Politiker von selber zurücktreten (wie das in anderen Demokratien durchaus selbstverständlich ist). Bei uns herrscht die Methode des „Herausredens“ vor. Verantwortung als moralisches Eingeständnis eines Fehlverhaltens ist anständig, um ältere tugendnahe Ausdrücke zu verwenden. Wo Verantwortung aber nicht selbstverständlich ist, wie in der jetzigen politischen Arena, greifen formelle Kodices lediglich, wenn sie dem, der dabei ertappt wird, sich des Parlaments nicht als würdig zu erweisen, seine Entlassung aus dem Parlament anzeigen.

Es geht hierbei nicht nur um Rechtsformen, in denen Fehler durch Strafen oder Bußen ausgeglichen werden, sondern es geht um das Ansehen des Parlaments als zentralem politischen Organ der Demokratie, das von seinen Mitgliedern gewisse Verhaltensstandards selbstverständlich erwarten darf. Parlamentarier sind keine moralisch ausgezeichneten Exemplare ihrer Spezies, aber Integrität und Verantwortlichkeit bei Fehlverhalten sollten zum Repertoire ihrer Kompetenz gehören. Parlamentarier sind politisches Führungspersonal und haben Obligationen. Ihr Verhalten liefert das Modell für das Funktionieren der Demokratie – ein gerade in einer Mediendemokratie nicht zu unterschätzender Tatbestand. Natürlich moralisieren die Medien gerne, erfinden ad hoc Kriterien für Verhalten, was wiederum nur darauf hinweist, dass es zwar einen moralischen Sensus gibt, aber keine artikulierte Form und keine geltenden informellen Regeln. In dieses Vakuum hinein regiert die moralisierende Öffentlichkeit, mit zum Teil hanebüchenen Anforderungen. Diese kann man aber so lange nicht unangemessen nennen, wie man nicht in der Politik selbst die angemessenen Regeln deklariert – und durchsetzt.

Die Moralisierung der Öffentlichkeit in politischen Dingen ist nur das Spiegelbild der nicht mehr sichtbaren ethischen Kodices in der Politik. Dass diese Moralisierung übertreibt, ist nicht mit Schweigen oder Widerrede zu zähmen, sondern nur durch ethische Standards, die gelten und realisiert werden. So übernähme die Politik als Instanz die Verantwortung, die die Politiker selber nicht mehr aufzubringen in der Lage oder gewillt sind.

Doch ist mit solchen Standards vorsichtig umzugehen, etwa mit der Forderung, Minister sollten nach Beendigung ihrer Amtszeit eine Karenzzeit von ein bis drei Jahren einhalten, bevor sie Tätigkeiten in der Wirtschaft übernehmen dürften, damit sie ihre politischen Kontakte nicht zu Geld machten. Wenn man bedenkt, dass Politiker lange Zeit nur Politik gemacht haben, ist es unfair, ihnen zu verbieten, aus dem Einzigen, was sie haben und können, Erwerb zu schlagen.

Politik ist nämlich eine riskante Karriere, von der aus man nicht ohne weiteres wieder in die Wirtschaft, in seinen alten Beruf zurückkehrt. Nur die Beamten sind abgesichert; sie steigen nach der Politik wieder in ihre ehemaligen Ämter ein. Für alle anderen bleibt die Politik ein Lebensrisiko, das durch die schmalen Diäten nicht kompensiert wird. Wenn man diese Karenzzeit einführt, signalisiert man lediglich allen, die nicht Beamte sind, dass es sich noch weniger lohnt, in der Politik Karriere zu machen. Niemand will ja, bei voller Kompetenz, zu einem Frührentner werden oder in Aufsichtsräten überwintern.

Wenn der Wechsel in die Wirtschaft nicht gewährleistet ist, bleiben die Politiker hartnäckiger in ihren politischen Ämtern: Wo sollen sie auch hin? Um die Politik mobil zu halten, müssen die Ausgänge aufgewertet werden: Wer geht, bekommt die Chance, sein Wissen zu verwerten. Das hebt die Qualität der Politik, weil niemand mehr in ihr bleiben muss, nur weil er keine Alternativen hat.

Prof. Dr. BIRGER P. PRIDDAT, geb. 1950, ist Head of Department for Public Management & Governance an der Zeppelin University Friedrichshafen; er lehrt dort politische Ökonomie. Veröffentlichungen u.a.: „Moral und Ökonomie“ (2004), „Irritierte Ordnung, moderne Politik“(2006).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2006, S. 84‑85

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