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01. Mai 2006

Demokratie als Experiment

Wenn sie die Interessen der Bürger nicht mehr bedient, verlieren sie das Interesse: zu Richard Rortys Thesen

Die Demokratie, sagt Richard Rorty, der große pragmatistische Philosoph Amerikas, ist ein Experiment, von dem wir nicht wissen, ob es auf Dauer gestellt sein wird. Das sind wir nicht gewohnt zu denken, sondern eher wie Francis Fukuyama in seinem „Ende der Geschichte“: Rien ne va plus, nichts geht mehr; das Ende der Geschichte ist erreicht, nach der Demokratie könne es keine höheren Formen der Zivilität und Politik geben.

Das denken wir umso mehr, je mehr wir davon überzeugt sind, dass der Sozialismus sein utopisches Potenzial verspielt habe. Denn Demokratie ist, methodisch gesprochen, nichts anderes als ein Konsens der Bürger, der, weil er Konsens der Bürger (über ihre Abstimmungen und Verfahren) ist, kontingent bleibt: nicht von Dauer, temporär. Darin ist ein mögliches Scheitern immer möglich: Der Konsens muss nicht zustande kommen. Er sei äußerst pessimistisch, erklärt Rorty weiter, was die zukünftige Entwicklung angeht, weil er glaube, dass die Demokratie nur funktionieren könne, wenn man den Wohlstand verteilt, wenn die Kluft zwischen den Reichen und den Armen überbrückt werde.

Wenn Demokratie eine Methode ist, die nur dadurch stabil bleibt, dass wir in unseren Diskursen und Entscheidungen den Konsensus erhalten, dann reicht keine einfache Übereinstimmung, sondern nötig wird ein Mitentscheiden über die Bedingung der Möglichkeit, immer und fortan mitentscheiden zu können. Alle anderen Formen des Gemeinschaftlichen, in denen nicht gewährleistet ist, dass alle Bürger mit erörtern und mit entscheiden, trennen zwischen denen, die herrschen, und denen, die sich beherrschen lassen. Dass eine Zustimmung, sich beherrschen zu lassen, zugleich auch die Freiheit nimmt, ist die eine Seite des Verzichts auf Demokratie; die andere lautet: sich aus der Verantwortung zu ziehen (verantwortlungslos zu werden). Rorty spricht an anderer Stelle von der europäischen mission civilisatrice. Zwar sei dieser Begriff durch die Kolonialmächte diskreditiert, aber vielleicht ließe er sich ja rehabilitieren. Es war schließlich Europa, das die Demokratie und die bürgerliche Verantwortung erfand. Das klingt nach moralischer Politik, aber Rorty verweist nur darauf, dass wir selber die Bedingungen der Demokratie sind: Sie bleibt ein Prozess, der von uns abhängt, von unseren Entscheidungen und unserer Verantwortung. Da nützt auch keine Vernunft, wie die Aufklärung glaubte, um die Theologie säkularisieren zu müssen.

Demokratie und Verantwortung sind andere Vokabeln als zum Beispiel Freiheit und Bindung (oder Ordnung). Die Freiheit, gerade in ihrer liberalistischen Variante, kann leicht als Verantwortungslosigkeit gelesen werden; die Bindung als staatliche Macht, das einzudämmen, was durch die Freiheit als Verantwortungslosigkeit entsteht. Rorty entfernt sich mit seiner Lesart nicht aus dem liberalen Nexus, definiert ihn aber zweifach gebundener: die, die Eigentum haben, sind verantwortlich für ihren Umgang damit, um das Potenzial der Demokratie zu erhalten durch Umverteilung des Wohlstands. Die Demokratie hingegen ist die Gemeinschaft der Abstimmung nach Regeln für alle Bürger. Nicht die Freiheit, abzustimmen, wie einem beliebt, sondern die Freiheit der Abstimmung im Bewusstsein der Einhaltung des Konsenses, dass immer Abstimmungen nach Regeln möglich seien, ist der Attraktor, der die Zivilität der Demokratie beibehalten lässt.

Natürlich sind wir frei, die Demokratie aufzugeben. In Deutschland sind wir seit 1933 schließlich Kenner dieser Möglichkeit. Aber es ist eine Freiheit, die nur einmal, und zwar ein letztes Mal, ausgeübt werden kann. Die Freiheit, die die Freiheit beendet, indem die Demokratie sich abwählt, ist das Gegenteil von Freiheit. Freiheit ist folglich immer die Freiheit, ihre Kontinuierung mitzuwählen. Damit wird moderne Politik systematisch überfordert, aber sie muss sich dieser Anforderung stellen, d.h. Visionen über die angemessene Form gesellschaftlichen Zusammenlebens darbieten und zu realisieren versuchen. Aber wie soll man Geschichten, Visionen erzählen, wenn die Demokratie die höchste Form der Zivilität ist? Welche Geschichte soll man erzählen, welche Hoffnung wecken, wenn alles erreicht ist, was zivil möglich scheint?

Läuft Demokratie leer, weil sie nichts mehr bietet als sich selbst? Ihr haftet wenig Sensationelles an. Sie hat kein utopisches Potenzial, da sie selbst schon die Realisation der Utopie ist, wenigstens des Fortschritts – den es dann, wenn er erreicht ist, auch nicht mehr gibt. Wenn aber für die Demokratie die Demokratie kein Ziel mehr sein kann (sondern nur ihre reflektierte Erhaltung und perpetuierliche Wiederholung), was wird die Demokratie dann für die anderen nichtdemokratischen Gesellschaften? Die frühere Hoffnung, Demokratie sei die zivilisatorisch höchste Form der Gemeinschaftlichkeit, wird nicht mehr allgemein geteilt, weil es der Demokratie nicht mehr gelingt, was ihr im 19. und 20. Jahrhundert gelang: den Kapitalismus, wie Rorty sagt, in den Industrienationen überhaupt erträglich zu machen, weil staatliche Intervention den Wohlfahrtsstaat schuf und dadurch den Kapitalismus in einem gewissen Grade unter demokratische Kontrolle brachte.

Weil aber die Demokratie als versagte Hoffnung betrachtet wird, ist der Sozialismus noch nicht, auch wenn es so erscheint, aus dem Spiel. Beide – Demokratie wie Sozialismus – sind lädiert, aber beide sind an einer Erwartung lädiert, die nicht verschwinden wird: Regelung des Kapitalismus. Das muss man nüchtern betrachten: die neoliberale Idee, einen Markt zu bekommen, der politisch minimalistisch reguliert wird, um seine Wohlfahrtspotenziale voll zur Entfaltung zu bringen, bricht sich an der anderen Idee: der der Demokratie, die die Hoffnung dieser „Bändigung“ war.

Die Fähigkeit, den Kapitalismus innerhalb der eigenen Grenzen zu regulieren, ist im Globalisierungskontext abhanden gekommen. Wir hätten die ökonomische Globalisierung nicht zulassen dürfen, sieht Rorty, bevor wir die bürokratischen Strukturen geschaffen haben, um den globalen Kapitalismus zu regulieren. Ihm geht es um den Regulierungsverlust als Demokratieverlust: Was die Demokratie am Markt nicht „bändigen“ kann, weil sie die Wohlfahrtsregulierung nicht gestaltet, verliert sie an Demokratievertrauen. Man mag es als Paradox empfinden, aber Rorty zeigt, dass die Demokratie nicht als Demokratie stabil sein kann, sondern nur über eine Leistung am Markt: als Umverteilungswohlfahrtssystem. Demokratie hat, gegen diskursnormative Platonismen, ihre materiale Seite. Die Demokratie ist somit als Politische Ökonomie stabil, nicht aber als Demokratie sui generis. Wenn sie die Interessen der Bürger nicht bedient, beginnen sie, das Interesse an ihr zu verlieren.

Prof. Dr. BIRGER P. PRIDDAT, geb. 1950, ist Head of Department for Public Management & Governance an der Zeppelin University Friedrichshafen; er lehrt dort Politische Ökonomie. Veröffentlichungen u.a.: „Moral und Ökonomie“ (2004), „Unvollendete Akteure. Komplexität der Ökonomie“ (2004).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 94 - 95

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