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01. März 2017

Was genau heißt „neue Verantwortung“?

Zehn Empfehlungen für eine aktive Verteidigungspolitik

Vorbei die Zeiten, als der Einsatz militärischer Mittel als archaisch galt. Das bedeutet: Deutschland wird sehr genauer ausbuchstabieren müssen, wie es in der Verteidigungspolitik nicht nur reaktiv, sondern aktiv handeln kann, welcher Rahmenbedingungen es bedarf und welche Mittel die Bundesrepublik in Zukunft bereitstellen muss.

Lange vernachlässigt, erlebte die Verteidigungspolitik in den vergangenen Jahren eine Renaissance. Dass Europäer – und mit ihnen Deutschland – ihr wieder verstärkt Beachtung schenken, ist vor allem der Ukraine-Krise seit 2014 und dem Kampf gegen den IS geschuldet. In den Jahren zuvor schien sie geradezu antiquiert, angesichts der zivilen, normativen und postheroischen Ansätze in der europäischen Politik. Wachsender Bedeutung und gestiegenen Erwartungen an die Verteidigungspolitik zum Trotz bleibt sie ein Problemkind. Die Debatte, wie eine handlungsfähige und wirksame Verteidigungspolitik aussieht, verläuft zäh, sie ist in Teilen noch tabubehaftet, und die Zustimmung in der Bevölkerung bleibt zurückhaltend.

Für die kommende Regierung bedeutet das vor allem, zwei Spannungsverhältnisse zu bearbeiten, in denen sich die verteidigungspolitischen Aufgaben für die nächste Legislaturperiode verorten: Das erste besteht zwischen Rhetorik und Praxis. In der Verteidigungspolitik ist entscheidend, ob die Rhetorik tatsächlich mit den entsprechenden Fähigkeiten und dem Willen, sie zu nutzen, untermauert ist. Darauf werden Europa und die USA, aber auch Russland genau schauen. Das zweite Spannungsverhältnis besteht zwischen den internationalen sicherheitspolitischen Realitäten und der Reaktion Deutschlands.

Woran gemessen wird

In Deutschland überlappt die Wiederkehr der Verteidigungspolitik mit einer seit spätestens 2014 laufenden Debatte über eine neue Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Diese „neue Verantwortung“ wird aus der wachsenden Bedeutung Deutschlands abgeleitet: Als zentrale europäische und tief in globalen Netzwerken verankerte Macht sollte es bereit sein, mehr für die Sicherheit zu tun, die andere seit Jahrzehnten bereitstellen und sich stärker für die Stabilität der internationalen Ordnung einsetzen, von der es profitiert und von der Deutschlands Wohlstand abhängt. Dieser neue Anspruch manifestierte sich in den Reden von Präsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014. Aber auch die Veränderungen im internationalen Umfeld und nationale Herausforderungen haben die deutsche Politik seitdem geprägt.

Ob und wie sich diese „neue Verantwortung“ auf die deutsche Verteidigungspolitik auswirkt, ist von zentraler Bedeutung. Wohl herrscht ein breiter Konsens für den Einsatz ziviler Mittel der Sicherheitspolitik. Aber gesellschaftlich und politisch gibt es große Meinungsverschiedenheiten über die Rolle, die Militär darin spielen sollte. Wenn Deutschlands Partner mehr Verantwortung von Berlin fordern, dann erwarten sie aber genau das: mehr Engagement im Verteidigungsbereich. Wie groß die Veränderungen wirklich sind, das bemisst sich am deutlichsten in diesem für Deutschland so schwierigen Feld.

Mehr reaktiv als aktiv

Aktiv wird Deutschland seit 2014, wo Druck entsteht, sei es durch Partner oder Ereignisse. Vor allem in der Ukraine-Krise hat Berlin diplomatische und militärische Verantwortung und Führung übernommen. In der NATO ist Deutschland der wichtigste europäische Truppensteller bei den Anpassungs- und Abschreckungsmaßnahmen, die das Bündnis seit 2014 zum Schutz der östlichen Alliierten getroffen hat. Zudem bemüht sich die Bundesregierung, die militärischen Grundlagen bei der Bundeswehr wieder zu sanieren: Bei der Ausstattung der Streitkräfte und der bi- und multilateralen Verteidigungskooperation ist Besserung in Sicht. In anderen Fällen, wie in Nordafrika, Syrien und im Kampf gegen den IS wurde Deutschland erst aktiv, als diese Krisen zu einem innenpolitischen Thema wurden: durch die Flüchtlingsströme seit Sommer 2015 oder weil wesentliche Partner sie zu einem Kernthema machten, wie nach den Terroranschlägen in Paris vom November 2015. Noch also ist Verantwortungsübernahme krisengetrieben und oft reaktiv.

Tatsächlich fällt es Berlin schwer, systematisch eine Politik der „neuen Verantwortung“ zu entwickeln. Das liegt nicht zuletzt an der Scheu, sich die Konsequenzen der Rückkehr militärischer Macht als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik vor Augen zu führen. Wohl werden Krisen nicht durch das Militär gelöst. Aber nicht mit dem Einsatz von Gewalt drohen zu können oder zu wollen, um damit Europa gegen Gewalt und seine Auswirkungen zu schützen, hat zu mehr Unsicherheit in Europa geführt und Handlungsoptionen zunichte gemacht.

Dass Europa, allen voran Deutschland als zivile Macht und durch die Erfahrung zweier Weltkriege geprägt, wenig Interesse an militärischer Macht hat, beeindruckt Andere nicht so sehr, dass sie es Europa gleichtun und ebenfalls auf militärische Macht verzichten würden. Im Gegenteil: Russland und China sehen Militär als Machtressource, um Einfluss in wesentlichen Politikfeldern zu erlangen.

Die Besonderheit der militärischen Machtressource resultiert aus der schlichten Tatsache, dass es dabei um die ultimative Frage von Leben und Tod geht. Dies zwingt unweigerlich dazu, die Sicherung des Überlebens an erste Stelle zu setzen. Gerade uns Deutschen mag das archaisch vorkommen. Deutschland ist nicht unmittelbar bedroht – aber Andere in unmittelbarer Nähe sind es. Die Tatsache, dass andere Akteure immer häufiger Militär zur Durchsetzung von Interessen politischen Kompromissen vorziehen, zwingt dazu, Militär als Machtfaktor anzuerkennen. Es bedroht unsere Lebensweise, die auf der Stärke des Rechts und institutionellen Regeln beruht. Je öfter militärische Macht es erfolgreich ermöglicht, strategische Ziele zu erreichen, umso attraktiver wird diese Ressource.

Westeuropa war in weiten Teilen dazu übergegangen, viele andere Bedrohungsquellen als gefährlicher einzustufen – etwa Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeit. Das trifft zweifelsohne zu. Doch nun kommt eine überwunden geglaubte militärische Bedrohung hinzu. Weil es um Leben oder Tod geht, zwingt sie die Westeuropäer dazu, sich an erster Stelle mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen. Das erschwert die Bearbeitung anderer Risiken und Probleme auf politischer, diplomatischer und humanitärer Ebene.

Die militärische Schwäche Westeuropas hat Andere geradezu eingeladen, ihre Interessen militärisch durchzusetzen. Weder Russland noch der IS mussten ernsthaft damit rechnen, dass die EU- und NATO-Staaten ihre Regeln und Werte mit Waffengewalt verteidigen, solange der Regelbruch außerhalb des NATO- oder EU-Gebiets stattfindet.

Kaum jemand hätte erwartet, dass sich der Westen in der Ukraine oder in Syrien mit einer Intervention engagiert, deren Nutzen umstritten bleibt. Dennoch hätte das bloße Vorhandensein von militärischer Macht des Westens die politisch-strategische Kalkulation anderer Akteure verändert.

Noch verarbeiten die Europäer, wie sehr sich die sicherheitspolitische Konstellation in Europa verändert hat. Aber die verteidigungspolitische Debatte entwickelt sich schnell weiter und Deutschland treibt sie zuweilen aktiv voran: in der NATO über die Gipfelbeschlüsse in Wales 2014, die den grundlegenden Wandel der Allianz bedeuteten; über die neue Globalstrategie der Europäischen Union, die zum erheblichen Teil auf Sicherheit und Verteidigung Bezug nimmt. Für die Umsetzung haben Deutschland und Frankreich weitreichende Vorschläge vorgelegt, etwa in dem gemeinsamen Brief der Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault vom Sommer 2016. Auch damit steht Deutschland in der Pflicht, sich im Verteidigungsbereich weiter zu engagieren.

Das sich schnell und gewaltvoll verändernde Sicherheitsumfeld lässt Deutschland ebenfalls keine Atempause: Die Einsätze in Mali, Syrien und Irak verweisen auf eine weitere Auflösung der Trennung von inneren und äußeren Bedrohungen. Deutschland muss zugleich neue Antworten finden, in welchem politisch-rechtlichen Rahmen und mit welchem Ziel es Militär einsetzen will.

Die Herausforderung liegt nun darin, die Reaktionen auf den Handlungsdruck stärker aus einer „Verantwortungsperspektive“ zu gestalten, statt nur auf eine weitere Krise zu reagieren. Dafür sollten in der kommenden Legislaturperiode die folgenden zehn Punkte bearbeitet werden:

1. Verantwortung ausbuchstabieren statt selektieren

Deutschland trägt sicherheitspolitische Verantwortung für sich selbst und für die Gemeinschaft, in der es agiert, also NATO, EU und UN. Verantwortung besteht in dem Maße, in dem Deutschland die Möglichkeit besitzt, durch eigenes Handeln oder Nichthandeln die eigene Lage oder die seiner Partner zu verbessern (oder nicht zu verschlechtern), sowie seine sicherheitspolitischen Ziele und Interessen zu erreichen. Deutschland ist also nicht nur dort verantwortlich, wo es handelt, sondern auch dort, wo es nicht handelt.

Deutschland muss sich in der nächsten Legislaturperiode der Aufgabe stellen, eigene sicherheitspolitische Konzeptionen zu entwickeln. Das gilt in geografischer Hinsicht, etwa für den Nordosten Europas, wo Deutschland Sicherheit im Wesentlichen über die NATO und EU gestaltet. Das gilt aber auch für funktionale Themen wie Energie und kritische Infrastrukturen. Die in der Realität bereits weitgehend aufgehobene Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit müsste auch in der Regierungsarbeit nachvollzogen werden. Eine besondere Aufgabe sollte darin liegen, aktiv die europäischen Vorstellungen und Beiträge für die trans­atlantischen Beziehungen zu definieren, anstatt lediglich auf die Vorstellungen der neuen US-Administration zu reagieren.

Die neue amerikanische Regierung dürfte ihr sicherheitspolitisches Engagement im Nahen und Mittleren Osten neu definieren, der immer fragiler und instabiler zu werden droht. Wenn sich die USA dazu entschließen, in dieser Region wieder eine stärkere Rolle zu spielen, könnte dies die Risiken reduzieren, die von dort für Europa ausgehen. Gleich, ob der neue Präsident an der NATO festhält oder von ihr abrückt: Der seit Langem existierende Druck auf Europa, spürbar mehr für die eigene Sicherheit zu leisten, wird wachsen. Verschärfen sich die Spannungen im pazifischen Raum, könnten die USA Beiträge Europas zur Sicherheit im Pazifik als ein „Burden Sharing in Reverse“ einfordern.

2. Gesamtstaatliche Herausforderungen in der Sicherheitspolitik angehen

Die zentrale sicherheitspolitische Frage ist: Wie will Deutschland mit gesamtstaatlichen Herausforderungen in der Sicherheitspolitik umgehen? Zwar diagnostiziert und priorisiert das Weißbuch 2016 die Risiken und Herausforderungen an der Schnittstelle von innerer und äußerer Sicherheit: Terrorismus, Cyberraum, kritische Infrastrukturen, aber auch Migration. Doch aufgrund des mangelnden Konsenses unter Parteien und Ministerien hinsichtlich der konzeptionellen Antworten und institutionellen Zuständigkeiten konnte auch das Weißbuch keine konkreten Vorschläge entwickeln.

Hier vollzieht sich ganz praktisch der Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik, von dem Experten seit den neunziger Jahren sprechen. Sicherheit und Verteidigung gehen eine neue Verbindung ein. Die Bereiche und Räume innerer und äußerer Risiken verschmelzen. Das gilt insbesondere für Terrorismusbekämpfung: Doch die sicherheitspolitischen Mittel sind in Deutschland systematisch getrennt nach Instrumenten innerer und äußerer Sicherheit. Dies erhöht den Druck auf die Politik, wesentliche Grundpfeiler der politischen Ordnung zu überdenken.

Dem ist nicht einfach mit der Forderung nach dem Einsatz der Streitkräfte im Inneren zu begegnen – oder deren prinzipieller Ablehnung. Nur konsequent wäre eine Debatte, die die Risiken und Bedrohungen nicht mehr nach innen und außen unterscheidet, sondern vor allem nach dem Risiko für die Gesellschaft und das politische System. Staaten wie Großbritannien machen dies vor. Erst danach, und somit an zweiter Stelle, stellt sich die Frage, welches Mittel das effektivste und das angemessenste ist.

Auch die notwendige Ausbuchstabierung des derzeit vielbenutzen Resilienz-Begriffs wird zu intensiven politischen Debatten führen, weil damit auch die historisch gewachsene, scharfe und politisch-gesellschaftlich weithin akzeptierte Trennung zwischen Akteuren und Institutionen innerer und äußerer Sicherheit infrage gestellt wird. Hier stellt sich auch die Frage wie eine notwendige Zusammenarbeit der Exekutive mit privaten Akteuren (Wirtschaft) und Zivilgesellschaft gestaltet werden sollte.

Der Weg hin zu einer resilienten Gesellschaft erfordert, den vernetzten Ansatz auch und vor allem in der nationalen Dimension umzusetzen. Und es erfordert ein Staatsverständnis, das über die Exekutive hinausgeht und die Ertüchtigung der eigenen Bevölkerung zum Ziel hat.

3. (Nukleare) Abschreckung und Dialog: effektiv drohen für den Frieden

Abschreckung bedeutet, den Gegenüber von einem Angriff abzuhalten, indem man droht, selbst Gewalt zur Abwehr von Bedrohungen einzusetzen. Deutschland kann der Debatte über die Rolle von Abschreckung nicht entgehen. Russlands Aggressionen und allgemein die Rückkehr militärischer Mittel als Instrument internationaler Politik haben diesem Konzept aus dem Kalten Krieg eine Wiederkehr beschert. Berlin sollte sich frühzeitig eine selbstbewusste Position erarbeiten und die Debatte gestalten, anstatt unvorbereitet mit den Forderungen Anderer konfrontiert zu werden.

Natürlich stellt sich die Frage, ob und wie Abschreckung in einer Welt funktionieren kann, in der Sicherheit von mehr als nur militärischen Mitteln abhängt. Moderne Abschreckung muss die nukleare und konventionelle Dimension anpassen und eine zivile Komponente entwickeln, um feindliche staatliche und nichtstaatliche Akteure davon abzuhalten, Europa mit militärischen und nichtmilitärischen Mitteln zu destabilisieren. Es gilt, sowohl die territoriale Integrität als auch das Funktionieren der Gesellschaft in ihren sozialen, politischen und technischen Grundlagen zu schützen. Militärische Abschreckung sollte nicht ersetzt, sondern erweitert werden: Für bestimmte Aktivitäten ist die Androhung einer militärischen Vergeltung nicht glaubwürdig. Benötigt wird ein breiteres Rahmenwerk, das hilft, andere Abschreckungsoptionen zu identifizieren. Dabei gilt es, einen Rückfall in die Pfadabhängigkeiten alter Debatten zu vermeiden und unvoreingenommen Stärken und Schwächen zu analysieren und zu diskutieren.

Weitaus schwieriger ist das Thema nukleare Abschreckung. Deutschlands Position ist hier ambivalent: Es ist Teilhaber an Nuklearwaffen, fordert aber gleichzeitig traditionell die Abschaffung aller Atomwaffen. Diese Ambivalenz blieb lange ohne direkte sicherheitspolitische Bedeutung. Doch die laufende Debatte um die Rolle von Nuklearwaffen auf Seiten Russlands und der NATO erlaubt es nicht mehr, sich einer Debatte über das Für und Wider nuklearer Abschreckung zu verschließen. Dafür sind die mit diesen Waffen verbundenen Risiken schlicht zu hoch. Im Sinne des deutschen Doppelansatzes von Abschreckung und Dialog sollte Berlin eine angemessene Abschreckung mit einer realistischen Rüstungskontrolle flankieren.

4. Europäische Verteidigung statt GSVP und NATO

Deutschland tendiert dazu, die Lösung seiner Sicherheitsprobleme immer noch reflexartig mit Institutionen zu verbinden, vor allem der NATO und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP). Tatsächlich sind beide als Vehikel zur Herstellung von Sicherheit nur begrenzt wirksam. Die NATO bleibt eine militärische Verteidigungsgemeinschaft. ­Wesentliche Instrumente, um nichtmilitärischen Mitteln zu begegnen, liegen in der EU oder bei den Mitgliedstaaten. Auch die GSVP leistet nur einen sehr beschränkten Beitrag zur Sicherheit, der den heutigen Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird. Schlüsselinstrumente finden sich bei der EU-Kommission und erneut bei den Staaten. Die Bedeutung für die Institutionen liegt darin, Kräfte zu bündeln und, wenn möglich, den dafür notwendigen Konsens herzustellen. Deshalb ist die Frage „NATO oder EU“ irreführend.

Die richtigen Fragen lauten: Wie können die Europäer sich effektiv verteidigen? Was wird für den Schutz von Bürgern, Gesellschaften und Staaten benötigt? Und wer kann die entsprechenden Beiträge leisten? Die Idee der Autonomie ist dabei fehl am Platz. Niemand will ernsthaft unabhängig von den USA sein, denn dann wären die USA autonom von Europa. Europa sollte Wert darauf legen, eng mit den USA verbunden zu bleiben und gleichmäßige, gegenseitige Abhängigkeiten anstreben.

5. Streitkräfte systematisch europäisch reformieren

Deutschland ist bei der Förderung der europäischen Verteidigungskooperation mit dem Rahmennationenkonzept in der NATO und mit der Wiederbelebung der Idee einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit in der EU große Verpflichtungen eingegangen. Politisch muss Berlin selbst bereit sein, die Folgen engerer Kooperation zu tragen und gleich­zeitig die Interessen aller Partner zu berücksichtigen.

Fähigkeiten der Bundeswehr können nur noch im europäischen Rahmen sinnvoll definiert werden. So bestimmen die jetzigen und zukünftigen militärischen Fähigkeiten der Partner die Umsetzung des Rahmennationenkonzepts. Die Planung der eigenen Fähigkeiten und die Kooperationsangebote an Partner sollte die Bundeswehr deshalb auf eine „Europäische Fähigkeitslage 2030“ abstützen: eine umfassende, kontinuierliche und weitblickende Analyse der Verteidigungskomplexe seiner Partner in Europa.

6. Mehr investieren und mehr riskieren

Militärisch bedeuten die deutschen Verpflichtungen gegenüber unseren NATO-Partnern einen langfristigen Mehrbedarf an Personal, Ausrüstung und Übungstätigkeit. Die derzeitigen Budgeterhöhungen werden nicht ausreichen, um das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und damit das Rückgrat der beginnenden europäischen Kooperation über das nächste Jahrzehnt stabil zu halten oder sogar zu steigern. Dazu wären etwa drei bis fünf Milliarden mehr pro Jahr im Verteidigungshaushalt erforderlich.

Dabei geht es weniger darum, das 2-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen, als darum, die Lücken zu füllen, die in der Vergangenheit gerissen worden sind. Diese Erhöhung ist aber nur dann sinnvoll, wenn zusätzliche Bedingungen erfüllt werden. Nur mittelfristig gesicherte Erhöhungen aufgrund konkreter Projekte bringen mehr Verteidigungsleistung.

Gleichzeitig muss sich die Effizienz steigern. Hier gilt: gemeinsam investieren statt allein. 60 bis 80 Prozent der Lebenszeitkosten für Waffensysteme entstehen während der Nutzung. Diese kann man aber nur senken, wenn man durch den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen gemeinsam mit den Partnern in EU und NATO nicht nur größere Produktionsmengen schafft, sondern auch die Möglichkeit zur gemeinsamen Wartung und Nutzung der Systeme.

Deutschland kann sich aber von Verantwortung nicht freikaufen. Als glaubwürdiger und ebenbürtiger Partner muss es das Risiko von Einsätzen mit den Partnern teilen. In der Praxis tut es dies schon – von Afghanistan bis Mali stehen deutsche Soldaten mit in der ersten Reihe. Mit der Vermittlung aber hapert es. Reflexartig neigt die Politik dazu, die Risiken solcher Missionen kleiner zu reden.

7. Partnerschaft mit Paris mit Leben erfüllen

Es gibt nach dem Brexit-Votum keinen wichtigeren Partner als Frankreich in der EU. Gerade im Bereich Sicherheit und Verteidigung ist Deutschland eine Verpflichtung eingegangen, etwa durch die gemeinsamen Projekte der deutschen und französischen Außenminister. Die im Sommer 2016 veröffentlichten Vorhaben haben die Diskussion in Europa angefacht und Hoffnung auf wirkliche Fortschritte bei der Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitskooperation geweckt. In Berlin stottert nun der Motor. Für Paris ist die deutsche Reaktion ein Test, wie ernst Berlin seine „neue Verantwortung“ und die gemeinsamen Erklärungen nimmt. Sollten die Wahlergebnisse in Frankreich und Deutschland es zulassen, so haben beide Länder Ende 2017 eine historische Chance, die EU über ein großes gemeinsames Projekt wiederzubeleben und vielleicht sogar auf eine neue Stufe zu heben.

8. Rüstung ist Verantwortung

Wer Streitkräfte haben will, der braucht Zugang zu einer Rüstungsindustrie, um sie konstant mit Material zu versorgen. Was passiert, wenn man die Rolle der Industrie in der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte ausblendet, hat Deutschland anhand der dramatisch abgesunkenen Zahlen bei einsatzbereitem Gerät gezeigt. Ein Konsens, was ein verantwortungsvoller sicherheitspolitischer Umgang mit Rüstung ist und welche Rolle die deutsche und die europäische Industrie dabei spielen, besteht in Deutschland höchstens theoretisch. Stattdessen bleibt Rüstung Gegenstand tagespolitischer Skandalisierung und erheblicher Berührungsängste von nahezu allen Seiten. Dies schränkt nicht nur die Möglichkeiten ein, Rüstungsexporte und -kooperation als sicherheitspolitische Gestaltungsmittel zu nutzen. Es schadet sogar: Deutschlands Partner sehen darin auch die mangelnde Bereitschaft, verlässliche Zusagen und Beiträge für ihre Sicherheit zu leisten.

Eine Konkretisierung mittels einer Rüstungsstrategie und die Schaffung klarer Zuständigkeiten innerhalb der Regierung für die sicherheitspolitische Gesamtbewertung sind mögliche Schritte, um diese Lücke zu schließen.

9. Die Bevölkerung mitnehmen

Die sicherheitspolitischen Ambitionen der Regierung haben nur geringen Rückhalt in der Bevölkerung. Doch gerade in Deutschland, wo Sicherheitspolitik nicht auf einem etablierten Konsens aufbaut, sondern für jede Frage oder Krise neu definiert werden muss, ist die Unterstützung durch die Bevölkerung wichtig.

Wenn Deutschland glaubhaft seine Verlässlichkeit beweisen möchte, wird es seine Entscheidungen für oder gegen Einsätze sicherheitspolitisch begründen müssen – vor allem zuhause. Regierung und Bundestag werden aktiv die „neue Verantwortung“ erklären und dafür werben müssen. Dazu gehört, der Öffentlichkeit besser zu vermitteln, wie tiefgreifend sich die NATO gerade verändert, wie substanziell der deutsche Beitrag dafür ist und warum beides notwendig ist. Startpunkt sicherheitspolitische Diskussionen könnte das Weißbuch 2016 sein.

10. Bundestag: über den nationalen Tellerrand schauen

Die „neue Verantwortung“ sollte das Parlament einbinden: Parlamentarier tragen Debatten in die Öffentlichkeit, und spielen eine immer größere Rolle in der Verteidigungskooperation. Sie entscheiden nicht nur über Einsätze, sondern können auch gemeinsame Beschaffungen und Betrieb von Material ermöglichen und so die Kooperation mit Partnern erleichtern oder erschweren. Der Bundestag könnte seine Kontakte zu Parlamenten in Partnerstaaten intensivieren und eruieren, wie Kooperationsbedingungen verbessert werden können.

Dr. Claudia Major arbeitet in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Dr. Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2017, S. 89-97

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