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01. Sep 2020

Vom Flickenteppich deutscher Sicherheitspolitik

Selbstblockaden, Sackgassen, Schützengräben – um sie zu verlassen, sind Vernetzung und Partizipation zwingend. Elemente einer neuen Agenda.

Die Sicherheitspolitik der nächsten Bundesregierung zu definieren und vor allem umzusetzen, wird kein Vergnügen. Deutschland schiebt eine immer größer werdende Bugwelle ungelöster Probleme vor sich her – vom Balkan über Syrien und Atomwaffen bis hin zum Umgang mit chinesischer Technologie in deutscher Infrastruktur. Vieles von dem, was in den vergangenen drei Jahrzehnten als künftige Herausforderung beschrieben wurde, ist heute ein akutes oder sogar schon chronisches Problem.



Und weil sich mit rasanter Geschwindigkeit Bedrohungsquellen und Akteure weiter verändern, steigt auch der Druck, auf die wachsenden Probleme zu reagieren. Für Berlins engste Partner steht Sicherheit schon länger im Zentrum der Aufmerksamkeit, zudem mit einer erweiterten Agenda, die nichtmilitärische Bedrohungen und Instrumente selbstverständlich einbezieht. Sie sind aber von Deutschland abhängig, um diese Agenden umzusetzen und um sicherer zu sein – sei es bei der Energieversorgung (Nord Stream 2) oder bei nuklearer Teilhabe.



Covid-19 ist dabei nicht nur ein Beispiel für verpasste Prävention und mangelnde Integration sicherheitspolitischer Felder. Es kann ein Entscheidungspunkt werden, um bewusst eine systematischere und aktivere Sicherheitspolitik zu beginnen. Die nächste Bundesregierung muss mit den ökonomischen und politischen Konsequenzen der Corona-Krise umgehen und deshalb auch die sicherheitspolitischen Prioritäten und Ressourcen bestimmen. Damit kann sie sicherheitspolitisch aufholen, zumindest aber muss sie den Schaden begrenzen.



Selbstblockaden

Die größte Hürde bei der Bewältigung ist Deutschland selbst. Deutsche Sicherheitspolitik pendelt zwischen Allmacht und Ohnmacht. Dieser Text lässt die politischen Partner in der Europäischen Union außen vor und konzentriert sich auf den deutschen Anteil sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit.



So unterschiedlich die Problemkomplexe bei Themen wie dem Syrien-Konflikt, Libyen, Atomwaffen, Rüstungskontrolle oder -exporten sind, ein Muster ist erkennbar: Zunächst verkündet Deutschland einen hohen Anspruch an das Ergebnis. Es geht damit ein Versprechen gegenüber der nationalen Öffentlichkeit ein und vermittelt gleichzeitig Partnern wie Gegenspielern, welche Optionen infrage kommen und welche nicht – etwa „kein Militär“, „keine Gespräche“. Später fallen ihm dann Anspruch und Vorfestlegungen auf die Füße: Entweder fehlen die Machtressourcen, um eine Situation überhaupt in seinem Sinne zu beeinflussen. Oder Gegenspieler warten, bis Deutschland an seine Grenzen gelangt. So konnte die Bundesrepublik bei der von ihr angestoßenen Libyen-Konferenz keine Mittel zur Umsetzung eines Waffenembargos vorweisen.



Deutschland steht regelmäßig ohnmächtig am Zaun und muss zusehen, wie Akteure mit weniger Skrupeln und Vorfestlegungen sowie deutlich mehr Risikobereitschaft den Ausgang der Geschichte beeinflussen. Sie bestimmen den neuen sicherheitspolitischen Status quo.



Dann sind da die sicherheitspolitischen Kleingärten. Deutsche Sicherheitspolitik will umfassend und vernetzt sein; in Wirklichkeit aber ähneln Themen und Instrumente einem Flickenteppich. Es gibt vereinzelt Einrichtungen mit Koordinierungsauftrag, wie das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, oder informelle Runden der Staatssekretäre. Formale Institutionen oder Strukturen, die eine gesamtstaatliche Sicherheitspolitik sichtbar gestalten und ausführen, aber fehlen.



Die Wahl der Themen resultiert oftmals aus sachfremden Prioritäten, die eher parteipolitischen Überzeugungen und Traditionen oder gefühlter Machbarkeit entspringen als einer unabhängigen Analyse der Bedrohungen und Reaktionen. Somit sind die politischen Konzepte und Visionen oft primär eine Abgrenzung zu anderen politischen Akteuren. Zudem müssen die Themen möglichst kohärent sein mit Selbstbild und historischen Narrativen: Westbindung, Ostpolitik, Friedensbewegung. Neue Lösungsansätze werden eher in diesem Koordinatensystem verortet. Um ein Zuhause zu finden, sollten sie am besten anschlussfähig sein an mindestens ein Narrativ oder positiv besetzte Instrumente – siehe etwa „Rüstungskontrolle im Cyberspace“.



Argumentative Schützengräben

Auch heute noch legt die Vergangenheit fest, was gute und schlechte Sicherheitspolitik ist. Man könnte eher von einer Ideologisierung von Sicherheit sprechen als von ihrer Politisierung; und dies ebnet den Weg in mehrfache Frontenbildung. Die hinlänglich gepflegten Kategorien lauten so: Friedens- oder Sicherheitspolitik, EU oder NATO, Abrüstung oder Abschreckung. Und weil diese Fronten schon so lange unbeweglich sind, haben sich viele in Schützengräben eingerichtet. Aus diesen Gräben heraus werden routiniert die gleichen Debatten geführt (Zwei-Prozent-Ziel der NATO, Rüstungsexporte, Entwicklung). Im Ergebnis sind die Diskurse von heute weitgehend die der Vergangenheit.



Dabei dreht sich die Gretchenfrage der sicherheits- und friedenspolitischen Kleingartenkolonie Deutschland um das Militär: Bist du dafür oder dagegen? Damit ist seit Langem der Wunsch verbunden, ein für alle Mal zu klären, ob militärische Mittel einen oder eben keinen Platz in deutscher Sicherheitspolitik haben. Diese Auseinandersetzung über militärische und zivile Mittel nimmt einen unangemessen großen Platz ein und blockiert eine produktive Debatte. Sie kann weder politisch noch analytisch endgültig entschieden werden. Es wird sich keine politische Mehrheit finden, die das Ende deutscher Streitkräfte beschließt; und analytisch kann über Sinn und Unsinn von Militär erst befunden werden, wenn das sicherheitspolitische Ziel seiner Anwendung ebenso klar ist wie die Alternativen.

Diese Sicherheitspolitik ist strukturkonservativ. Sie will die bestehenden Verhältnisse wahren, national und in der Welt, nicht die bestehenden Werte. Doch es gelingt ihr nicht, den sicherheitspolitischen Wandel aufzuhalten. Weil sie nicht ausreichend anpassungsfähig ist, wird der sicherheitspolitische Flickenteppich größer. Die politischen Gräben erschweren es, Themen und Expertisen zu verbinden. So wird Deutschland unsicherer.



Die Herausforderungen



Jenseits der Liste wichtiger Einzelthemen (wie umgehen mit China, Mali oder Cyberangriffen) lassen sich Deutschlands sicherheitspolitische Probleme in folgenden Punkten zusammenfassen. Die Herausforderung liegt sowohl in der Akzeptanz dieser Kategorien als auch in der Weiterentwicklung von Antworten.

 

  • Von der Ordnungskonkurrenz zum Ord- nungskonflikt. Waren die vergangenen Jahre davon geprägt, dass eine parallele internationale Ordnungsstruktur neben der des Westens entstand, treffen diese Strukturen nun öfter aufeinander und geraten in Konflikt. Vermehrt stoßen deutsche Aktivitäten im Bereich Krisenmanagement und -prävention auf die geopolitischen Agenden Chinas, Russlands sowie der USA.
  • Das Ende inkompetenter und kooperativer Akteure. Die Akteurslandschaft besteht nicht nur aus Hilfsbedürftigen und Partnern, sondern auch aus teilweise aggressiven Gegenspielern. Diese verfolgen eigene Interessen, die deutschen Interessen und Werten entgegenstehen. Diese Akteure sind in der Lage, ihre Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Sie tun dies, indem sie alle verfügbaren Mittel geschickt einsetzen und deutsche Schwächen ausnutzen.
  • Der Versuch, ausländischen Einfluss abzuwehren, führt zur weiteren Verwässerung von innerer und äußerer Sicherheit. Grenzen sind immer seltener unumschränkt geltende Rechts-, geschweige denn unangefochtene politische Räume.
  • Probleme und Risiken verstärken sich gegenseitig. Beim Umgang mit Covid-19 geht es nicht nur um die Zahl derjenigen, die Corona überleben, sondern auch darum, wie die Wirtschaft des Landes im Wettbewerb um globalen Einfluss aufgestellt sein wird. Damit hat das Virus Einfluss auf einen ganz anderen Teil der Sicherheitspolitik.

 

Sicherheitspolitische Agenda 2021+

Vier Elemente könnten den Weg in eine systematischere und aktivere Sicherheitspolitik ebnen.

  1. Eine integrative Sicherheitsagenda. Mit den oben genannten Dynamiken haben Frieden und Sicherheit andere Bedingungen als bislang in der Debatte reflektiert. Diese zu beschreiben, sollte das Ziel einer gemeinsamen Anstrengung sein, der sich Politiker, Experten und Zivilgesellschaft stellen. Dazu sollte ein großangelegtes Projekt die Frage nach der Zukunft von Konflikten und einem deutschen Engagement stellen. Die richtigen Antworten leiten sich nicht aus Parteiprogrammen oder Aktivistenbroschüren ab; sie müssen in Analyse und politischer Bewertung erarbeitet werden.



    Mit der Zukunftsgewandtheit des Themas soll der zu starke Vergangenheitsbezug der sicherheitspolitischen Debatte schwerer werden. Es dürfte Experten und Praktikern leichter fallen, Unsicherheit und Unwissen zuzugeben und Lösungen zu finden, die den Herausforderungen von Politik angemessen sind. Es gilt zu akzeptieren, dass Entscheidungen unter anhaltender Unsicherheit getroffen werden müssen. Gleichzeitig erfordert dieses umfassende Thema, dass Expertise aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammenkommt und kooperiert.



     
  2. Prävention nach der Corona- Erfahrung. Die Covid-19-Krise hat gezeigt, welche gravierenden Folgen die mangelnde Umsetzung von Präventionsmaßnahmen haben kann. Gleichzeitig hat sie gezeigt, wie negativ das Präventionsparadox wirken kann: Der Erfolg einer Maßnahme wird nicht greif- und präsentierbar, weil Erfolg bedeutet, dass ein negatives Ereignis ausbleibt. Bislang gab es wenig Widerstand gegen Prävention in der klassischen äußeren Sicherheit. Doch gerade, wenn Prävention im Rahmen eines umfassenderen Ansatzes insbesondere innerhalb Deutschlands stattfindet und damit dauerhaft Einschränkungen oder Kosten für die Bevölkerung einhergehen, könnten erhebliche Widerstände wachwerden. Gelingt es nicht, die Akzeptanz von Prävention zu erhöhen, droht eine Fragmentierung in präventive sowie reaktive Ansätze und Instrumente.



     
  3. Ein neuer vernetzter Ansatz. Deutschland sollte sein Konzept vom vernetzten Ansatz modernisieren und insbesondere die Verbindung von innerer Sicherheit und Einfluss durch externe Akteure offensiver schützen. Westliche Partner wie unter anderem Großbritannien und nordische Staaten gehen diesen Weg bereits, um gesellschaftliche Resilienz und politische Unabhängigkeit sicherzustellen.



    Für Deutschland bedeutet das nicht weniger als die Reorganisation der Zuständigkeiten unter Bundesministerien, im Geflecht von Bund, Ländern und Kommunen, zwischen nationaler und internationaler Ebene sowie zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Diese Reorganisation müsste am besten über eine Institution der Exekutive erfolgen, die imstande ist, gleichzeitig auf Ministerien auf Bundes- und Länderebene einzuwirken. Das Auswärtige Amt könnte diese Rolle übernehmen. Hier liegt die klassische Zuständigkeit für internationale Sicherheit. Aber auch das Bundesinnenministerium käme infrage, denn es ist bereits federführend bei hybriden Bedrohungen. Die beschriebenen Dynamiken dürften zu einer wachsenden Bedeutung dieses Akteurs führen. Eine weitere Möglichkeit wäre der Ausbau des Bundessicherheitsrats in ein Querschnittsministerium, also mit stärkerem bürokratischem Unterbau und einem eigenen Minister.



     
  4. Partizipation. Denn ohne sie wird alles Vorgeschlagene nicht gelingen: Bürgerinnen und Bürger werden Präventionsmaßnahmen oder weitreichende Veränderungen der staatlichen institutionellen Ordnung nicht einfach akzeptieren, wenn sie nicht wissen, warum das erforderlich ist und was sie davon haben.

 

Beteiligung ist essenziell

Eine breite Beteiligung bei der Umsetzung dieser Politik ist daher sinnvoll und erforderlich. Deutsche Expertise findet sich weit über die Berliner Bubble hinaus: sei es in lokalen Präventionsprojekten zur Radikalisierung oder in internationalen Maßnahmen zur Krisenprävention. Die Zivilgesellschaft sollte eingebunden werden, insbesondere bei der Entwicklung von politischen Optionen und Alternativen, aber auch bei der Entwicklung von Zukunftsvisionen.



Dies könnte Akzeptanz dafür schaffen, dass Sicherheitspolitik sich nicht auf einige wenige Risiken konzentrieren kann – zumal dann nicht, wenn deren Auswahl darauf beruht, dass Reaktionen kurzfristig keine moralischen Dilemmata erzeugen.

 

Dr. Christian Mölling ist Forschungsdirektor der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 79-83

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