Was der Westen glaubt
USA und Europa: gemeinsame Wurzeln, unterschiedliche Wege
In den Vereinigten Staaten bestimmen evangelikale Christen zunehmend die Politik, Präsident Bush wird als „spiritual leader“ angesehen. Das säkularere Europa betrachtet diesen Trend mit Misstrauen. Doch werden die Unterschiede verdrängt, wird die transatlantische Kluft weiter wachsen. Deshalb sollten sich beide Seiten um Verständnis bemühen.
Kulturelle und religiöse Unterschiede zwischen beiden Seiten des Atlantiks sind gegenwärtig mit einer Gefahr der Entfremdung verbunden. Das Risiko des Auseinanderdriftens der Weltsichten zwischen einem von der religiösen Rechten beeinflussten Umfeld der gegenwärtigen US-Administration und den von der Säkularisierung geprägten Gesellschaften in Europa ist hoch. In Europa vermitteln die Kirchen eine zum Teil diametral andere gesellschaftspolitische Orientierung als die evangelikale Rechte in den USA.
Angesichts der fortschreitenden Säkularisierung der europäischen Gesellschaften neigen europäische Intellektuelle dazu, den gegenwärtigen Einfluss einer vom persönlichen Glaubenserlebnis geprägten evangelikalen Rechten in den USA zu verkennen. Diese Unterschätzung einer wichtigen Komponente der US-Gesellschaft wird dadurch begünstigt, dass in den Kontakten der europäischen Intellektuellen zu den USA die Beziehungen zu säkularisierten Kreisen an der Ost- und Westküste dominieren. Die Evangelikalen aber finden insbesondere im Süden der USA, im so genannten „bible belt“, Unterstützung.
Viele dieser christlichen Gruppen sind in den letzten Jahren politisch aktiv geworden, viele missionieren aktiv. Nicht alle würden für sich die Bezeichnung „evangelikal“ akzeptieren. Gemeinsam ist den Anhängern der verschiedenen Strömungen der Evangelikalen, dass sie die Schriften der Bibel nicht wie die in Deutschland vorherrschende Theologie in Erkenntnisse der historisch-kritischen Wissenschaften einbetten. Eine in den historischen Kontext eingebettete und textkritische Exegese empfinden sie als Relativierung des „Wortes Gottes“. Viele glauben an ein nahes Ende der Welt, an die baldige Wiederkehr des Messias und ein Jüngstes Gericht, in dem die Menschheit in Gut und Böse eingeteilt und dementsprechend verdammt oder errettet wird. Bücher, die Geschichten aus dem Leben nach dem Jüngsten Gericht berichten, sind – wie die Serie „left behind“ – auf den US-Bestsellerlisten zu finden. Die Zahlen werden erstaunen: Immerhin fast jeder zweite Amerikaner zählt sich zu den „wiedergeborenen Christen“, mehr als jeder Dritte denkt laut Time-Umfrage regelmäßig über das Ende der Welt nach und fast 60% der US-Bürger glauben an den in der Offenbarung des Johannes beschriebenen Zusammenhang zwischen Apokalypse und Apotheose.
Viele Intellektuelle in Europa neigen dazu, die Überzeugungen der christlichen Konservativen herablassend in einem Atemzug mit Glauben an Außerirdische und anderen Kuriositäten zu nennen und als Überreste vorwissenschaftlichen Denkens abzutun. Es wäre jedoch eine Fehleinschätzung anzunehmen, dass die Evangelikalen auf arme und schlecht ausgebildete Amerikaner beschränkt wären. Ihr Stimmenanteil ist laut einer Pew-Studie von rund 19% im Jahr 1987 auf 23% an den Gesamtstimmen im Jahr 2004 gestiegen. Während Jimmy Carters Präsidentschaft gab es noch viele Evangelikale, die die Demokraten wählten. Heute tendiert die überwiegende Mehrheit klar zum republikanischen Lager: 2004 wählten 78% der weißen Evangelikalen, 52% der Katholiken und immerhin 64% der wöchentlichen Kirchenbesucher republikanisch. Im Gegensatz hierzu wählten 62% der Nichtkirchengänger John Kerry. Das politische Engagement der Evangelikalen zugunsten der Republikaner ist seit dem Ende der sechziger Jahre mit Unterbrechungen kontinuierlich gestiegen: Im Jahr 1964 gaben lediglich 42% der engagierten Evangelikalen und 48% der sonstigen Protestanten an, republikanisch zu wählen. Diese christlichen Konservativen haben heutzutage in 36% aller Staaten die Mehrheit in den Gremien der republikanischen Partei, in 81% der restlichen Staaten stellen sie starke Minderheiten. Das bedeutet eine Verdoppelung ihrer Stärke im letzten Jahrzehnt.
Die zweite Hälfte der sechziger Jahre war die Zeit des großen politischen Aufbruchs der Evangelikalen, die Zeit des „Battle for America“. Damals wurde der Grundstein für den Aufbau der so genannten „elektronischen Kirche“ und die Integration der einzelnen Zweige ihres christlichen Netzwerks gelegt. Nach dem Abebben der Kommunistenjagd in der McCarthy-Zeit kristallisierten sich die Schlüsselthemen von Abtreibung, von Schwulen und Lesben, der Rolle der Frau, die Bürgerrechtsbewegung, Umweltschutz- und Abrüstungsbewegung als Projektionsfläche für ein neues Feindbild heraus. Diese Themen trieben die Evangelikalen im Sinne einer „moral majority“ zur Verteidigung ihrer traditionell christlichen Werte auf die Barrikaden. Entlang dieser Themen verläuft bis heute die kulturelle Demarkationslinie zwischen Liberalen und Konservativen.
Der amerikanische Präsident bemüht sich in Politik und Rhetorik, die Erwartungen der Evangelikalen nicht zu enttäuschen. Als wiedergeborener Christ scheut er sich nicht, das Land durch eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Staat und religiösen Gemeinschaften zu polarisieren. In seinen Reden sind Gut und Böse in klaren Alternativen gegeneinander gestellt, wobei er und seine Politik für das „Gute“ stehen.
Präsident Bush befremdet zudem, wenn er sich durch die Berufung seiner Politik auf Gott zu einer Art säkularisierter politischer Predigerfigur zu stilisieren scheint. Auch bei Anlässen wie dem international besuchten „Prayer Breakfast“ des US-Kongresses wird er – ohne dass die Anwesenden Befremden zeigten – als „spiritual leader“ vorgestellt. Diese Symbolik wird von vielen Europäern und nicht wenigen Amerikanern als problematische Sakralisierung der öffentlichen Sphäre angesehen. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass diese spezifisch amerikanische Ausprägung einer zur Zivilreligion überhöhten Politik auch positiv zum Zusammenhalt einer sich aus unterschiedlichster Herkunft ständig neu konstituierenden Nation beigetragen hat.
Der 11. September 2001 bot dem Präsidenten die Chance, sich als starke Führungspersönlichkeit zu bewähren und die Nation hinter sich zu vereinigen. Der Kampf gegen den Terrorismus wurde von vielen Amerikanern als die neue große Herausforderung des Guten durch das Böse gesehen. Richard Perle und David Frum, der Redenschreiber, der den biblisch inspirierten Begriff „Axis of Evil“ geprägt hat, pointierten dies so: „Der Krieg gegen den extremistischen Islam ist ein ideologischerer Krieg, als es der Kalte Krieg je sein konnte.“ Gleichzeitig wurden in der Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus die USA – wiederum nicht völlig zu Unrecht – als „last resort of freedom“ begriffen. Diese Selbstdefinition der USA hat seit ihrer Gründung zur Identitätsstiftung unter Amerikanern beigetragen. Gerade vor diesem Selbstverständnis waren viele Amerikaner wegen der Folterbilder aus dem Irak noch mehr als manche Europäer geschockt. Angesichts des hohen Anspruchs an die eigene Nation schlug die Zuversicht, für das Gute zu stehen, in Selbstkritik und Beschämung um. Damit verband sich die Hoffnung, dass sich in der Bereitschaft zur Selbstkritik und juristischen Korrektur das für die amerikanische Demokratie grundlegende System der „checks and balances“ erneut bestätigen würde.
Welches Fazit ziehen wir aus diesen Überlegungen? Europa und die USA bleiben durch gemeinsame Werte miteinander verbunden. Aber die Differenzen in religiösen Fragen sind groß. Das Pew Center analysierte im Juni 2003: „Amerikaner und Europäer haben Differenzen in der Außenpolitik und bei anderen Themen, aber diese Meinungsunterschiede verblassen im Vergleich zur transatlantischen Kluft in religiösen und moralischen Fragen“.
Hüben wie drüben ist bei breiten Bevölkerungsschichten bisher weder das Grundwissen noch die Bereitschaft da, sich in die Denkschemata des anderen einzufühlen. Doch wo Menschen nicht mehr miteinander kommunizieren, leidet über kurz oder lang das Verhältnis insgesamt.
Aus meiner Sicht gibt es vor allem drei Gründe dafür, dass in der Diskussion zwischen den transatlantischen Partnern die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Religion und Politik wichtiger geworden ist:
1. Alle europäischen Staaten und insbesondere Deutschland haben heute eine quasi innenpolitische Beziehung zu den USA.
2. Die religiösen Landschaften in den USA und Europa verändern sich.
3. Die außenpolitische Relevanz religiöser Fragen nimmt zu.
Staat und Kirche
Innenpolitische Entscheidungen in den USA beeinflussen die Innenpolitik Europas. Doch die zu uns gelangenden Nachrichten werden vor dem Hintergrund unserer unterschiedlichen Traditionen wahrgenommen und bewertet. Das gilt auch für religiöse Themen. Anders als in den USA ist in Deutschland nicht erst das Handeln, sondern bereits das Propagieren von Hass gegen andere Religionen und andere Weltanschauungen strafbar. Die Religionsfreiheit schützt auch dann nicht vor einer Bestrafung, wenn derartige Hassreden in einer Kirche, einer Synagoge oder einer Moschee gehalten werden. Die USA und Deutschland bekennen sich gleichermaßen zu den Grundwerten der Meinungsfreiheit und der Religionsfreiheit. Vor dem Hintergrund unserer historischen Erfahrungen aber praktizieren wir im Konflikt zwischen unterschiedlichen demokratischen Grundwerten eine andere Hierachie als die USA.
In der amerikanischen Presse wird das Verbot des Tragens von Kopftüchern an Schulen in einigen europäischen Staaten (darunter auch der Türkei) häufig als Ausdruck mangelnder Toleranz gegenüber den Traditionen islamischer Einwanderer interpretiert. In Europa gilt dieses Verbot vielen als logische Konsequenz aus der Trennung von Staat und Religion.
In Deutschland ist anders als in den USA das Angebot des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen weit verbreitet. Wir sehen hierin keine Verletzung der durch unsere Verfassung gebotenen Neutralität des Staates gegenüber den unterschiedlichen Religionen. Logischerweise wird deshalb auch zunehmend islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen angeboten. In den USA wird ein Religionsunterricht an staatlichen Schulen nur von einer Minderheit, insbesondere der religiösen Rechten gefordert. Die Mehrheit der Amerikaner sieht hierin anders als die deutsche Politik einen Verstoß gegen die Trennung von Staat und Kirche.
Andererseits ist die Verbindung von Religion und Politik, die in den USA zur Entwicklung einer Art „Zivilreligion“ geführt hat, für Europa befremdlich. Viele Europäer empfinden die weit verbreitete religiöse Rhetorik amerikanischer Politiker als einen Missbrauch der Religion für politische Zwecke. In einem weiteren Punkt werden Unterschiede Deutschlands zu den USA sichtbar: Der Bund und die Länder unterstützen christliche und jüdische Einrichtungen finanziell. Die Zahl dieser konfessionell geprägten Schulen nimmt zurzeit zu. Wenn ich diese Tatsache in den USA berichte, stoße ich bei vielen Liberalen auf Erstaunen und bei religiösen Rechten auf Interesse.
In der Präambel des Grundgesetzes wird auf Gott Bezug genommen. Es gibt ein verfassungsmäßig verankertes Recht der Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind – und das sind zurzeit die evangelische und die katholische Kirche und die jüdischen Gemeinden, können in Zukunft aber auch islamische Gemeinschaften sein – Steuern zu erheben. Der Staat finanziert die Militärseelsorge. Es gibt einen Rechtsanspruch der Religionsgemeinschaften auf Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen. Die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften werden in zahlreichen Verträgen geregelt. All dies wäre in den USA mit ihrer strikten Trennung von Staat und Kirche undenkbar.
Im neu gebauten deutschen Parlament in Berlin gibt es selbstverständlich einen Gebetsraum. Über 100 Mitglieder des Bundestags rechnen sich der Prayer Breakfast-Vereinigung zu. Rund 15 Bundestagsabgeordnete sind vollakademisch ausgebildete Theologen. Hinzu kommen einige Religionslehrer. Zwei der vier Vizepräsidenten des Bundestags haben im Nebenfach Theologie studiert. Der Präsident des Bundestags ist zugleich Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken. Da die Sozialdemokratische Partei in der ehemaligen DDR insbesondere von Pfarrern und Aktiven der evangelischen Kirche gegründet wurde, gibt es im Bundestag zurzeit mehr Theologen auf der linken als auf der konservativen Seite des Parlaments.
Strömungen, die mit denen der religiösen Rechten in den USA verglichen werden können, sind mir aus dem Bundestag nicht bekannt. Sie spielen in der deutschen Gesellschaft auch faktisch keine Rolle. Trotzdem geht die bundesdeutsche Wirklichkeit zum Teil weit über das hinaus, was Teile der religiösen Rechten in den USA als politische und finanzielle Unterstützung durch den Staat für religiöse Gruppen fordern.
Politisch und kulturell kann man sich kaum größere Unterschiede vorstellen als zwischen der religiösen Rechten der USA und der säkularisierten oder der christlichen Linken in Deutschland. Bei der ethischen Bewertung des Klonens und der Nutzung von Stammzellen gibt es aber erstaunliche Übereinstimmungen von Teilen der deutschen Linken mit Teilen der deutschen Konservativen und der amerikanischen religiösen Rechten: Dies ist auf ein gleichermaßen ethisch motiviertes, aber entweder religiös oder säkular begründetes Bedürfnis nach dem Schutz der „Schöpfung“ zurückzuführen.
Ein wesentlicher Anlass für die politische Mobilisierung der religiösen Rechten bilden die Urteile des Supreme Court zur Abtreibung. Das Bundesverfassungsgericht ging demgegenüber einen – aus Sicht eines Amerikaners – konservativeren Weg: Die deutsche Verfassung bekennt sich zum Recht auf Leben und seinem Schutz. Als eine Mehrheit des Parlaments mit meiner Stimme die Abtreibung in den ersten drei Monaten generell für straffrei erklärte, schränkte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1993 diese Regelung unter Hinweis auf den in der Verfassung gebotenen Schutz des Lebens ein.
Einen ähnlich pragmatischen Kompromiss zwischen prinzipiellen Normen und der Lebenswirklichkeit praktiziert Deutschland in der Frage der Homosexualität. Homosexuelle Paare sind zwar faktisch und rechtlich weitgehend heterosexuellen Lebensgemeinschaften gleichgestellt. Im normativen Sinne handelt es sich dabei aber nicht um Ehen. Die im Grundgesetz geschützte Ehe ist verfassungsrechtlich auf die Gründung einer Familie angelegt und steht damit gleichgeschlechtlichen Paaren nicht offen. In den USA gingen die Einzelstaaten sehr unterschiedliche Wege. Im Wahlkampf 2004 wurde von Konservativen immer wieder hervorgehoben, dass im Heimatstaat des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Kerry, Massachusetts, die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare zulässig sei. Doch aufgrund der jahrelangen kontroversen Diskussionen in den USA glauben die meisten Europäer, dass sie in der Frage der Homosexualität viel liberaler als die Amerikaner sind. Dieser Eindruck ist in einigen Regionen der USA berechtigt, gilt aber für San Francisco sicher nicht.
Philosophie und Wettbewerb
In den meisten europäischen Ländern nimmt die Bindung an christliche Kirchen ab. Dieser Prozess der Entkirchlichung ist in den verschiedenen Regionen Europas unterschiedlich stark ausgeprägt. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind nur noch ca. 20% der Bevölkerung Mitglieder von Kirchen. Aus meiner persönlichen Sicht ist keineswegs gesagt, dass diese Entkirchlichung unaufhaltsam ist. Auf Dauer halte ich eine Trendumkehr nicht für ausgeschlossen.
Die USA sind im Vergleich dazu ein Land der Gläubigen und der Gottesdienstbesucher. 43% aller Amerikaner behaupten, wöchentlich die Kirche, Synagoge oder Moschee zu besuchen, 75% mindestens einmal im halben Jahr. In Deutschland besuchen weniger als 15% wöchentlich den Gottesdienst. Eine Mehrheit der Amerikaner betet täglich. Auch die Formen, in denen sich religiöser Glaube ausdrückt, und die dabei vertretenen Inhalte entwickeln sich auseinander. Die in Europa dominierende Theologie verortet ihren Glauben nicht im Widerspruch zur Aufklärung und zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Evolution. In einem Satz zusammengefasst: In Europa dominiert eine Theologie, die sich als Schwester der Philosophie versteht. Dies gilt auch für zahlreiche christliche Gemeinden in den USA. Diese sind die traditionellen Partner der europäischen Kirchen. Die Kontakte zu den amerikanischen Evangelikalen sind demgegenüber vergleichsweise spärlich.
Auf dem amerikanischen Markt der Religionen vollzieht sich der Wettbewerb in Formen, die uns Europäer an den Wettbewerb zwischen verschiedenen Markenprodukten in der Marktwirtschaft erinnern. Gerade diejenigen Gemeinden, die wir als Ausdruck eines christlichen Fundamentalismus wahrnehmen oder die sogar als religiöse „wellness“-Bewegung diskreditiert werden, haben den größten Zulauf zulasten traditioneller Kirchen. Dieser Trend geht einher mit einer wachsenden Bereitschaft, seine religiöse Zugehörigkeit zu wechseln. Dabei ist ein Übertritt von Hispanics zu evangelikalen Gruppen überproportional häufig.
Die auf beiden Seiten des Atlantiks zu den demokratischen Grundprinzipien gehörende Unterscheidung zwischen Staat und Religion und das Verfassungsgebot einer säkularen Rechtsordnung wurzelt in einer 2000 Jahre langen Geschichte. Sie wurde sehr früh und sehr präzise in der Lehre Augustinus’ von den beiden Reichen, der „civitas dei“ und der „civitas terrena“, dargelegt. Sowohl die amerikanische als auch die französische Revolution fußen auf diesen Traditionen. Beide ziehen daraus aber unterschiedliche Konsequenzen für die Regelung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche. Das deutsche Verfassungsrecht und die deutsche Praxis unterscheiden sich wiederum sowohl von der amerikanischen wie von der französischen.
Für die Begründer des Islams bildeten Religion, Politik und Recht eine Einheit. Dies erklärt, warum nicht nur islamische Extremisten, sondern auch islamische Traditionalisten einer Übertragung unserer Verfassungs- und Rechtstraditionen auf islamische Staaten widersprechen. Innerhalb der transatlantischen Gemeinschaft stellt die Einwanderung aus islamischen Staaten uns vor neue Herausforderungen. Sie werden aber auch die Einwanderer verändern. Welche Richtung diese unvermeidlichen Veränderungen nehmen sollen und wo die Grenzen liegen, ist umstritten. Aufgrund unserer unterschiedlichen Traditionen unterscheiden sich vielfach die Antworten auf beiden Seiten des Atlantiks.
Außenpolitische Relevanz
Konflikte und Krisen in zahlreichen Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung haben negative außenpolitische Auswirkungen. Die weite Verbreitung antiwestlicher und insbesondere antiamerikanischer Stimmungen beunruhigt Europäer und Amerikaner gleichermaßen. Die weitaus überwiegende Mehrheit der Muslime lehnt den Terrorismus als dem Wesen des Islams widersprechend ab. Aber Tatsache bleibt auch, dass zahlreiche terroristische Gruppen sich selber auf den Islam zur ideologischen Legitimation ihrer Gewalt berufen. Dies hat negative Auswirkungen auf das Ansehen des Islams auf beiden Seiten des Atlantiks.
Amerikaner und Europäer treten gemeinsam für mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit und einen besseren Schutz der Menschenrechte weltweit und damit auch in der islamischen Welt ein. Bei entsprechenden Initiativen im Nahen und Mittleren Osten arbeiten wir zusammen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten in den Zielen gibt es Unterschiede in unserer Sichtweise und unseren Methoden.
Die USA haben in ihrer Geschichte nie die Erfahrung gemacht, dass religiöse Überzeugungen und Gruppierungen eine Gefahr für ihre Demokratie darstellten. Im Gegenteil! Sie neigen deshalb dazu, ihre positiven Erfahrungen auf die islamische Welt zu übertragen und Risiken für demokratische Traditionen nicht in religiösen Traditionen, sondern in Tyrannen und undemokratischen Institutionen zu sehen. Diese lassen sich relativ schnell, im Notfall auch unter Einsatz von militärischer Gewalt beseitigen. Der Vergleich zwischen dem Krieg gegen das Deutschland Adolf Hitlers und den Irak Saddam Husseins war in Bezug auf den militärischen Aspekt der Befreiung zwar legitim, führt jedoch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen geistigen und religiösen Voraussetzungen der Befreiung in beiden Ländern in die Irre. Zwar wurden in beiden Staaten religiöse Gruppen von totalitären Regimen unterdrückt. Aber die Schiiten im Irak und die Bekennende Kirche in Deutschland vertraten unterschiedliche Konzepte. Ali al-Sistani und Dietrich Bonhoeffer haben außer dem Schicksal der Unterdrückung nicht viel gemeinsam.
Die europäische Erfahrung unterscheidet sich von der amerikanischen. Auch in Europa gab es zahlreiche Christen und Juden, die sich aktiv gegen Diktaturen und für Demokratie und Menschenrechte einsetzten. In zahlreichen europäischen Ländern aber stellten lange Zeit die dominierenden religiösen Traditionen und Institutionen ein Hindernis bei der Demokratisierung dar. Es bedurfte einer Neudefinition der politischen Kultur in den Kirchen selber, bevor sie verlässliche und aktive Stützen einer demokratischen Entwicklung wurden. In einigen europäischen Staaten dauerte dieser Prozess bis ins 20. Jahrhundert hinein an. Eine solche positive Neudefinition der religiösen Traditionen hat sich noch lange nicht in allen islamischen Gesellschaften durchgesetzt. Sie braucht Zeit. Der Vorstellung, dieser Prozess der geistigen und religiösen Reform in der islamischen Welt ließe sich durch Anwendung militärischer Gewalt beschleunigen, stehen die meisten Europäer skeptisch gegenüber.
In der europäischen Geschichte wurden zahlreiche Kriege im Namen der Religion geführt. Im dreißigjährigen Krieg, in dem die Kriegsgegner sich auf beiden Seiten auf die Werte des Christentums beriefen, starb in vielen Regionen die Hälfte aller Deutschen. Im Ersten Weltkrieg stand auf den Koppeln der deutschen Soldaten „Gott mit uns“. Vor diesem historischen Hintergrund erinnert die in den USA weit verbreitete Verbindung von Patriotismus und Religion uns Europäer an frühere Zeiten unserer Geschichte, die wir glücklicherweise hinter uns gelassen haben. In Deutschland wird man – anders als in den USA – in kaum einer Kirche heute noch eine Nationalflagge sehen.
Das positive Verhältnis der Evangelikalen zu Israel trägt zur proisraelischen Haltung der US-Bevölkerung bei. Für sie hat sich mit Gründung des Staates Israel eine Prophezeiung der Bibel erfüllt: die Rückkehr der Juden ins Gelobte Land. Viele amerikanische Juden sehen den Eifer der Evangelikalen mit gemischten Gefühlen. In Israel betrachten viele Politiker aus realpolitischen Gründen die Evangelikalen als Bündnispartner. Es gibt sogar eine Koordinationsstelle in der Knesset, den „Christian Allies Caucus“, die den Kontakt zu den evangelikalen Partnern pflegt.
Auf beiden Seiten des Atlantiks dominieren gemeinsame Interessen, Werte, politische und religiöse Traditionen. Es gibt auch Unterschiede – wir sollten sie nicht in den Vordergrund stellen, aber auch nicht leugnen. Wir sollten versuchen, uns in unseren Unterschieden zu verstehen und zu respektieren. Manchmal könnte die Erkenntnis von Unterschieden sogar den Anstoß zu gemeinsamen Lernprozessen bilden.
Internationale Politik 4, April 2005, S. 29 - 35.