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01. Apr. 2002

Global denken!

Neue Themen für die deutsche Amerika-Politik

„Die wichtigste Initiative für die deutsche Amerika-Politik besteht darin, den breiten transatlantischen Dialog aus der vom Kalten Krieg geprägten Mentalität herauszuholen und auf die neuen Umstände auszurichten“, so der Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt. Neue globale Themen müssen auf der transatlantischen Tagesordnung stehen, um über eurozentristische Fragen hinaus auch gemeinsam mit Dritten zu verhandeln.

In den transatlantischen Beziehungen beherrschen nach wie vor die Konsequenzen der Anschläge vom 11. September 2001 auf New York und Washington die Tagesordnung. Diese richteten sich nicht allein gegen die USA als mächtigstes Symbol der transatlantischen Wertegemeinschaft, sondern auch gegen uns als Teil dieser Gemeinschaft.

Für die USA bedeutete der 11. September eine Zäsur, das Ende des Mythos, unverwundbar gegenüber Angriffen von außen zu sein. Die Anschläge forderten nicht nur mehr Opfer als der Angriff auf Pearl Harbor 1941, sondern ihre Schockwirkung ging auch tiefer: Die amerikanische Nation konnte am Bildschirm verfolgen, wie im Herzen Amerikas Symbole amerikanischer Macht zerstört bzw. beschädigt wurden.

Die in Europa vorher belächelte Sorge amerikanischer Politiker, Opfer eines asymmetrischen Angriffs zu werden, erwies sich als berechtigt. Weder die militärische Überlegenheit Amerikas noch die Abschreckungsfähigkeit haben diesen Angriff verhindert. Das Trauma des Terrorismus trübt den amerikanischen Traum.

Gleichzeitig haben die Angriffe das Land geeint. War das Bewusstsein der Amerikaner, für das Gute im Kampf gegen das Böse zu stehen, bereits vorher ausgeprägt, so haben die Angriffe diesen noch verstärkt. Die Amerikaner sind entschlossener denn je, sich für die „Idee Amerika“, also die Vision von den USA als unbesiegbarer Hort von Freiheit und Demokratie, einzusetzen und diese gegen den internationalen Terrorismus oder Bedrohungen mit Massenvernichtungswaffen zu verteidigen. Eine Konsequenz daraus ist das amerikanische Streben, eine Abschreckungsfähigkeit auch gegen asymmetrische Angriffe herzustellen. Unter dieses Streben fallen sowohl das Projekt der inneren Sicherheit sowie das der Raketenabwehr, als auch die Fähigkeit, Vergeltung gegen jeden Angreifer zu üben und die Absicht, Gefahrenherde gegebenenfalls auch präventiv mit offensiven – also auch militärischen – Mitteln zu beseitigen.

In Europa legte nach dem 11. September die spontane Solidarität der Menschen auf der Straße und die Entschlossenheit der Politiker, gemeinsam mit den USA den Kampf gegen den Terrorismus aufzunehmen, einerseits Zeugnis von der transatlantischen Solidarität ab. Andererseits war Europa nicht direkt angegriffen, es blickt auf eigene Erfahrungen mit Terrorismus zurück, und die Erinnerungen an die schrecklichen Zerstörungen durch zwei Weltkriege sind noch wach. Europa hat sich daran gewöhnen müssen, mit der eigenen Verwundbarkeit zu leben. Dem Risiko künftiger Zerstörungen versucht es – wie mit dem Projekt der europäischen Einigung – primär mit politischen und ökonomischen Mitteln und multilateralem Vorgehen im Rahmen der NATO und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu begegnen. Wegen dieser Unterschiede in Erfahrung und Konzeption war es für Europa schwer nachzuvollziehen, wie tief der 11. September die USA verletzt hat und wie die amerikanische Reaktion ausfallen würde.

Transatlantische Verstimmung

Keine sechs Monate später herrscht Verstimmung unter den transatlantischen Partnern, im Kern entzündet an der Frage, mit welchen Methoden der allgemeine Kampf gegen den Terrorismus fortgesetzt werden soll. Anstelle von Argumenten werfen manche Kommentatoren mit Stereotypen um sich: hier die amerikanischen Cowboys oder Rambos, wie auf dem Titelblatt von Der Spiegel, dort die europäischen naiven Bedenkenträger oder EU-nuchen, so provokativ The Economist im März. Weder ist das Ausleben antiamerikanischer Vorurteile in Europa oder antieuropäischer in den USA hilfreich, noch sind die verwendeten Stereotypen korrekt: Amerikanische Präsidenten mögen sich einer vereinfachenden und manichäischen Sprache bedienen. Jedoch ist dies die Sprache, die von amerikanischen Bürgern verstanden wird und die erforderlich ist, um in der stärker populistischen amerikanischen Demokratie eine Zustimmung für eine rationale und langfristige Politik zu gewinnen.

Entgegen mancher europäischen Wahrnehmung hat sich die amerikanische Politik auch nicht nur auf Kriegführung beschränkt, sondern umfasst z.B. in Afghanistan Elemente von humanitärer Hilfe bis hin zu dem zuvor insbesondere unter amerikanischen Konservativen verpönten Aufbau von Staaten. Umgekehrt tragen die Europäer wesentlich mehr bei, auch militärisch, als manche amerikanische Kommentatoren wahrnehmen wollen. Über die rhetorische Zuspitzung wird übersehen, dass selbst in den USA die kritische Auseinandersetzung mit Elementen der amerikanischen Antiterrorismuspolitik eingesetzt hat. Einmal mehr wünsche ich mir, beide Seiten würden mit ihren Meinungsverschiedenheiten gelassener und nüchterner umgehen.

Wie konnte es zu dieser Verstimmung kommen? In der Zeit des Kalten Krieges war die Partnerschaft ausgerichtet, sich der Herausforderung durch die Sowjetunion und der marxistisch-leninistischen Ideologie zu stellen. Zugleich wurde die Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt integriert. Im Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer hat die Gemeinschaft ihre Partnerschaft über die Trennlinie des Kalten Krieges ausgedehnt und die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa einbezogen. Sie hat Stabilität auf den Balkan projektiert und entwickelt eine enger werdende Zusammenarbeit mit Russland und der Ukraine.

Mit dem 11. September ist ins Bewusstsein der europäischen Partner eingetreten, dass es auch Gefahren jenseits von Europa gibt, die direkt oder indirekt unsere Sicherheit beeinträchtigen. Diese Gefahren beschränken sich nicht auf den internationalen Terrorismus, sondern gehen aus von der weltweiten Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen, von Drogen, internationaler Kriminalität, Seuchen oder von Angriffen auf Computersysteme. Vielfach stellen einige Risiken eine größere Herausforderung für die innere als für die äußere Sicherheit dar. Die asymmetrische Bedrohung wirkt sich mitunter direkt auf unser Alltagsleben aus – ich verweise hierzu nur auf die Milzbranderreger-Anschläge in den USA und die auf die Anschläge folgenden Gesetzesänderungen auf beiden Seiten des Atlantiks.

Denkmuster des Kalten Krieges

Die neuen Risiken verändern das transatlantische Innenleben erheblich. Während Amerika seit jeher in seiner Außenpolitik global dachte und handelte, haben die traditionellen transatlantischen Gremien und Netzwerke auch nach dem Ende des Kalten Krieges damit weitergemacht, sich vorzugsweise über eurozentristische Themen zu unterhalten: NATO-Erweiterung, Out-of-area-Einsätze innerhalb Europas, Balkan, europäische Sicherheitsarchitektur, etc. Europäische, insbesondere deutsche Anschauungen und Denkmuster blieben über den Fall der Mauer hinaus zu lange der Zeit des Kalten Krieges verhaftet. Nun müssen sich Europäer innerhalb der Gemeinschaft erstmals mehr mit Fragen der Stabilität außerhalb Europas als in Europa beschäftigen. Für die NATO bedeutet dies, dass der Unterschied zwischen „in“ und „out-of-area“ weiter an Bedeutung verliert. Als Europäer müssen wir definieren, in welchen Bereichen – und dabei geht es nicht nur, aber auch um Sicherheitspolitik – wir ein globaler Partner sein und welche Fähigkeiten wir entwickeln wollen, um als Partner relevant und damit auch einflussreich zu sein.

Wir stehen vor einer neuen Lage, mit ihr gehen neue Probleme einher, die neue Lösungen suchen. Kurzum: Wir haben eine veränderte transatlantische Agenda. Die wichtigste Initiative für die deutsche Amerika-Politik besteht darin, den breiten transatlantischen Dialog aus der vom Kalten Krieg geprägten Mentalität herauszuholen und auf die neuen Umstände auszurichten. Wir werden weiter über Konflikte im transatlantischen Handel, Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union oder über die Stabilisierung des Balkans sprechen. Darüber hinaus müssen wir uns – zum Teil vorrangig – mit Out-of-area-Friedensmissionen à la Afghanistan auseinander setzen, oder über die Konsequenzen der HIV/AIDS-Epidemie, der Ressourcenverknappung, der nuklearen Konfrontation in Südasien und vieles mehr diskutieren. Wir müssen bei einer Vielzahl von globalen Themen auf transatlantische Einigkeit, zumindest auf das gegenseitige Verständnis hinarbeiten. Auch im transatlantischen Binnenverhältnis hat der 11. September der EU und den USA mit der Zusammenarbeit im Bereich Innere Sicherheit/Justiz eine Erweiterung des Betätigungsfelds gegeben.

Neue Themen

Die Beschäftigung mit neuen Themen ist nicht nur inhaltlich geboten, sondern sie wird auch generell die transatlantischen Beziehungen stärken. Neue Themen bedingen neue Teilnehmer, diese wiederum lassen neue transatlantische Netzwerke entstehen.

Ein weiteres Beispiel: Wie wir uns friedlich mit der Welt des Islams auseinander setzen wollen, ist zuerst eine nationale Aufgabe, sei es für die deutsche auswärtige Kulturpolitik, sei es für die deutsche Gesellschaft mit Blick auf die Integration muslimischer Bürger. Darüber hinaus ist der Islam jedoch auch eine Herausforderung für den transatlantischen Dialog. Im Rahmen dieses Dialogs könnte z.B. ein Gespräch unter muslimischen Glaubensvertretern deutscher und amerikanischer Nationalität über ihr Verständnis von Islam und dem Verhältnis des Islams zur parlamentarischen Demokratie stattfinden. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat zu diesem Verständnis am 20. Februar 2002 eine Islamische Charta zur Beziehung der Muslime zu Staat und Gesellschaft verabschiedet, die es lohnt, auch transatlantisch zu diskutieren.

Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wir sollten den transatlantischen Dialog häufiger zu einem „Trialog“ ausbauen. Wir können nicht dabei stehen bleiben, zusammen über andere zu reden, sondern wir sollten gemeinsam mit anderen sprechen. Diese Anregung gilt sowohl für Dialogforen als auch für die traditionellen Austauschprogramme, die in der Vergangenheit wesentlich zum Bewusstsein der transatlantischen Wertegemeinschaft beigetragen haben.

Beim transatlantischen Dialog geht es jedoch nicht nur um die Form. Wir stehen auf dem Markt der Ideen untereinander in einem harten Wettbewerb, z.B. über Fragen, welche Methoden wir anwenden sollen, um unsere gemeinsamen Ziele zu erreichen. In diesem Wettbewerb der Ideen genügt es nicht, allein Kritik an amerikanischer Stärke zu üben. Wir brauchen nicht weniger Amerika, sondern mehr Europa. Amerikas Probleme in und mit Europa lagen und liegen auch immer in Europas Schwäche begründet. Wer als schwach erscheint, wird in den USA nicht als handlungsrelevant angesehen. Je stärker und besser Europa ist, desto mehr werden in den USA die Anhänger des Multilateralismus an Boden gewinnen.

Folglich brauchen wir praktikable europäische Konzepte für die Spannungen in Zentralasien, für den Nahen und Mittleren Osten, über die globale Finanzarchitektur bis hin zum knappen Gut Wasser. Unsere Lösungsmodelle müssen wir in den transatlantischen Dialog einführen und ihnen auf dem amerikanischen Meinungsmarkt Gehör verschaffen. Wo ist beispielsweise die europäische Diskussion zu der Erklärung von 60 amerikanischen Philosophen und Sozialwissenschaftlern – überwiegend der amerikanischen politischen Mitte –, die das militärische Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus nicht nur für moralisch gerechtfertigt, sondern sogar als moralisch notwendig bezeichnen? Welche Vorstellungen haben wir von der NATO der Zukunft, was sind unsere Antworten auf die verschiedenen Washingtoner Denkschulen zur zukünftigen Bedeutung der NATO?

Konzepte einbringen

Alle gesellschaftlichen Institutionen sind aufgefordert, sich stärker als zuvor auf diesem Markt der Meinungen und Konzepte einzubringen. Außenpolitische Expertise ist vielfach vorhanden, sie wird hier nur noch nicht wie in der Think-Tank-Szene Washingtons eingesetzt und gebündelt angeboten. Wo die Expertise noch fehlt, muss sie nun geschaffen werden.

Deutschland und Europa haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie in dem Ideenwettbewerb bestehen können, man nehme nur als Beispiel den Stabilitätspakt für Südosteuropa oder auch den Internationalen Strafgerichtshof, wenngleich letzterer auf heftige amerikanische Kritik stieß. Je überzeugender wir hier auftreten und handeln, desto mehr werden wir zum gleichwertigen Partner der Vereinigten Staaten.

Um in diesem Ideenwettbewerb bestehen zu können, müssen die Teilnehmer am öffentlichen Diskurs in Deutschland noch mehr lernen, in der Außenpolitik global zu denken, vielleicht nicht wie die Weltmacht USA, aber zumindest wie Großbritannien und Frankreich. Global denken zu können, wirkt unmittelbar auf das transatlantische Verhältnis. Es hilft uns, zahlreiche amerikanische Diskurse und Entscheidungen besser zu verstehen.

Deutschlands Interessen sind weltweit verflochten. Unwidersprochen gilt dies beim Thema des internationalen Klimaschutzes. Grundsätzlich ist Deutschland sowohl an einer Umwelt demokratisch organisierter und friedlich zusammenlebender Völker als auch an einem Umfeld möglichst liberalen Handelsaustauschs zwischen freien Marktwirtschaften interessiert.

Global denken

Global denken heißt nicht, immer global handeln zu wollen oder zu können. Wir müssen möglichst präzise bestimmen, wann wir global handeln wollen, ob wir hierzu bereits die erforderlichen Mittel und Instrumente besitzen, bzw. ob wir bereit sind, zusätzliche Mittel aufzubringen. Spätestens jetzt zeigt sich, dass die Mittel, die die Bundesregierung in der Außenpolitik im weiteren Sinne (Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik) aufwendet, im Bundeshaushalt künftig nicht abnehmen dürfen, sondern zunehmen müssen. Es dient auch nicht der Effizienz der Entscheidung, Koordinierung und Planung deutscher Außenpolitik, wenn Teile des hierfür erforderlichen Instrumentariums auf Bonn und Berlin verteilt sind. Es führt in die Irre, hinter diesen Überlegungen eine vermeintliche deutsche Großmannssucht zu vermuten. Heutzutage besteht nicht mehr die Gefahr des deutschen Imperialismus sondern des deutschen Provinzialismus.

Trotz der Dissonanzen, die wir zurzeit erleben, sollten wir jedoch das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren: Amerikaner und Europäer verbinden gemeinsame Werte, Interessen und letztlich Visionen, wie die Welt im 21. Jahrhundert aussehen sollte: gegründet auf Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Selbst bei dem Ziel der intakten Umwelt liegen Grundüberzeugungen weniger auseinander, als der Streit über Kyoto vermuten lässt.

Transatlantische Debatten drehen sich weniger um Ziele. Unsere Meinungsverschiedenheiten betreffen vor allem die Methoden, mit denen wir die gemeinsamen Ziele zu erreichen versuchen. Trotz des Gleichklangs unserer Werte und Interessen auch im 21. Jahrhundert sollten wir diese nicht in allen Bereichen mit einer Werte- und Interessenidentität in allen Bereichen verwechseln. Das Management der neuen Agenda der Gemeinsamkeiten und unserer Unterschiede sind daher in der Zukunft wie schon in der Vergangenheit zwei Seiten derselben Medaille in den euroatlantischen Beziehungen.

Europa und Nordamerika können nur gemeinsam ihre Überzeugungen weltweit schützen und verteidigen. Wenn dagegen die Europäische Union und die Vereinigten Staaten gegeneinander agieren, wird keines der globalen Probleme wirklich gelöst werden können. Solange Europa und Nordamerika bereit sind, die transatlantische Gemeinschaft als faire Partnerschaft nicht nur untereinander, sondern im Zusammenwirken mit anderen Kulturen und Religionen zu betrachten, werden uns viele Staaten und Völker weit über die euroatlantische Gemeinschaft hinaus unterstützen. Insofern ist die transatlantische Partnerschaft eine der wichtigsten Voraussetzungen für die globale Stabilität und Sicherheit.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2002, S.19 - 24.

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