Titelthema

28. Apr. 2025

Was bleibt vom Westen?

Trump richtet die Außenpolitik der USA radikal neu aus. Das alte transatlantische Bündnis scheint zu Ende. Trotzdem: Wo immer möglich, sollte Europa mit Amerika kooperieren.

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Bild: Selenskyi wird bei einem besuch im Weißen Haus verbal von Trump und Vance angegriffen
Historisch war die Szene, die sich am 28.2.2025 im Weißen Haus zugetragen hat. US-Präsident Trump und Vize J.D. Vance führten den ukrainischen Präsidenten Selenskyj regelrecht vor – eigentlich ein Verbündeter.
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Nach der spektakulären Konfronta­tion zwischen Selenskyj und Trump im Weißen Haus war sich Kaja Kallas, Außenbeauftragte der Europäischen Union, sehr sicher. „Die freie Welt braucht einen neuen Anführer“, sagte sie. Es sei an Europa, diese Rolle zu übernehmen. Ob dies allerdings für ein Europa gangbar ist, das selbst mit inneren Spannungen zu kämpfen hat, blieb offen. Wenn es stimmt, dass Europa gerade dann reagiert, wenn die Krise unmittelbar bevorsteht, dann ist die Gelegenheit jetzt so gut wie selten.

Die Spannungen in den transatlantischen Beziehungen scheinen einen neuen Höhepunkt zu erreichen. Hauptquelle ist Trumps Auftreten in Sachen Ukraine-
Krieg, angefangen mit seiner großspurigen Ankündigung, diesen Krieg in kürzester Zeit beenden zu können. Während er den ukrainischen Präsidenten massiv bedrängte, einem Waffenstillstand zuzustimmen, ging er mit Wladimir Putin viel freundlicher um. Die Europäer hielt er von den anfänglichen Verhandlungen fern. 

Allerdings wächst zwischen den USA und Europa ein noch grundsätzlicherer Konflikt. Donald Trump will die weltweiten Beziehungen seines Landes auf Basis seines transaktionalen Ansatzes neu gestalten. Mit gemeinsamen Werten hat dieser Ansatz wenig zu tun, und von internationalen Organisationen oder Verträgen will sich Trump nicht behindern lassen. Er bewertet Außenbeziehungen nach der Gewinn- und Verlustrechnung für die USA. Dabei lässt er sich von der Überzeugung leiten, dass die Welt von einer Gruppe von Regionalakteuren beherrscht wird, getrieben von nationalen Interessen und purer Machtpolitik. Er will sicherstellen, dass die USA auf dieser Bühne eine Supermacht sind und bleiben – auf dem Weg dahin, Amerika „wieder groß“ zu machen.

Zu dieser Sichtweise gehört es, die Vereinigten Staaten nicht mehr als europäische Macht zu betrachten. Diese Rolle, die die USA seit dem Zweiten Weltkrieg spielten, beruhte auf der Prämisse, dass sich Amerika aktiv in Europa engagieren müsse, um im eigenen Interesse das Gleichgewicht auf dem Kontinent zu sichern. Diese Rolle wurde durch die Gründung der NATO 1948, den Marshallplan und eine ständige  US-Militärpräsenz institutionalisiert. Das Bündnis funktionierte für die USA als Machtmultiplikator, wobei die Zusammenarbeit mit den Europäern nicht nur den regionalen Interessen der USA dort diente, sondern auch das amerikanische Engagement in der übrigen Welt erleichterte.

Aus Trumps Sicht bildet dieser institutionelle Rahmen keine tragfähige Grund-
­lage mehr für transatlantische Vereinbarungen, selbst wenn die NATO weiterbestehen sollte. Trump sieht in den Beziehungen keine Bereicherung, sondern versteht Europa als Gegenspieler. Diese Botschaft vermittelt er durch die Einführung hoher Zölle auf Importe aus Europa und durch Angriffe auf die Digitalpolitik der EU, zusätzlich zu den seit Langem vorgebrachten Beschwerden wegen unzureichender ­europäischer Verteidigungsausgaben. 


Der Schwenk zu Russland

All diese Konflikte werden überlagert von einer unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmung. Trump sieht Russland unter Putin nicht als dringende, chronische Bedrohung an. Vielmehr möchte er die Beziehungen zu Wladimir Putin, den er sehr zu bewundern scheint, auf eine neue Grundlage stellen. Im Gegensatz dazu betrachten die meisten europäischen Länder Putin seit dem Angriff auf die Ukraine als existenzielle Bedrohung – vor allem die Staaten, die an Russland angrenzen.

Diese Differenz reißt einen tiefen Graben auf, wenn es um strategische Reaktionen und Ziele geht. Sie schwächt das, was lange als Westen bezeichnet wurde. Unter diesem Gebilde ist eine auf Regeln basierende Ordnung zu verstehen, gestützt auf Allianzen und multilaterale Institutionen, die von den USA, die jahrzehntelang zum Aufbau dieser Ordnung beigetragen haben, geschützt und unterstützt wird. Über ein halbes Jahrhundert lang gehörte es zu den europäischen Interessen, Teil dieser Wertegemeinschaft zu sein. Sie bildete den Kern dessen, was als Westen angesehen wurde, basierend auf gemeinsamen Regeln, dem Bekenntnis zu konstitutioneller Demokratie, Menschenrechten und individueller Freiheit. Zwei Institutionen, die diese Werte repräsentierten, waren das westliche Bündnis NATO und die EU.

Um seinen Wohlstand zu sichern, wurde Deutschland zum wichtigsten Verfechter dieser EU; um seine Sicherheit zu gewährleisten, zum wichtigsten der NATO. Bei alldem war es von der Notwendigkeit, internationale Brücken zu bauen, fest überzeugt. Der zentrale Moment für die Sicherheit war für Europa jedoch stets der Schutz durch das Bündnis mit den USA und die amerikanische Präsenz in Europa.

In der US-Öffentlichkeit gibt es eine gewisse Unzufriedenheit mit diesem Arrangement, und darauf gründet Trump seine Prioritäten. Er sieht die Welt als eine der Einflusssphären, in der es kaum Einigkeit über einheitliche Regeln oder globale Regierungsführung gibt. In dieser Welt geht es Trump darum, Amerikas Position als Vormacht der westlichen Hemisphäre zu sichern. Haltung und Verhalten des Präsidenten gegenüber Europa lösen dort Ängste aus. Die Europäer, insbesondere die Deutschen, sind tief enttäuscht. Jahrzehntelang war Amerika ihr Hüter, Mentor und Beschützer, auch wenn es ein schwieriger Partner sein konnte. Jetzt aber scheint es zu einem ambivalenten, ja unfreundlichen Verbündeten geworden zu sein.

Was sind die Folgen dieses Szenarios für Europa? Wird es das letzte Überbleibsel dessen sein, was einst als Westen bekannt war? Welchen Einfluss hat Europa in einer multipolaren Welt, in der es nur begrenzt über organisierte militärische Macht verfügt? Was muss es tun, um auf dieser globalen Bühne im Wandel zu bestehen?

Viele europäische Staats- und Regierungschefs plädieren jetzt dafür, eine strategische Unabhängigkeit von den USA anzustreben. Wenige Wochen nach der Bundestagswahl sagte Wahlsieger Friedrich Merz, es sei von vitalem Interesse für Europa, unabhängiger von den USA zu werden. Wörtlich sagte er: „Der US-Regierung ist das Schicksal Europas weitgehend gleichgültig.“ Solche Ansichten waren auch anderswo in Europa zu hören. Aber strategische Unabhängigkeit war für Europa bisher nicht machbar, und es sieht auch nicht so aus, als ob sich das in absehbarer Zeit ändern würde. 

Langfristig mag sich Europa das Ziel setzen, eine europäische Verteidigung aufzubauen, die auf die militärische Unterstützung der USA verzichten kann. Bestenfalls handelt es sich dabei aber um einen unfertigen Prozess, der noch Jahre dauern wird. Der amerikanische Atomschild kann nur in sehr begrenztem Umfang durch französische oder britische nukleare Verteidigungskapazitäten ersetzt werden, wenn es darum geht, innerhalb von EU und NATO die Komponenten, die Struktur und die Strategie für eine glaubwürdige Abschreckungsmacht aufzubauen.

Der nukleare Schutzschirm der USA bleibt also von größter Bedeutung, auch wenn Donald Trump gewisse Zweifel in Bezug auf das Bündnis verstärkt hat, als er betonte, wie sehr Artikel 5 des NATO-­Vertrags von einer ausreichenden Bezahlung für den Schutz abhängt.

Transatlantische Konflikte wegen Handelsfragen und wirtschaftlichen Interessen hat es immer schon gegeben. Aber Trumps Zollpolitik konfrontiert Europa mit der Notwendigkeit, für seine Interessen einzutreten. Es gilt, die USA daran zu erinnern, dass es seinen Preis hat, die EU herauszufordern, wenn es um Amerikas Wohlstand in der Technologie-Infrastruktur, der Finanzpolitik und der Einflussnahme auf US-Interessengruppen geht.

Angesichts der Breite und Tiefe der gegenseitigen Abhängigkeiten in den transatlantischen Beziehungen – sowohl geopolitisch als auch geoökonomisch – ist Europa am besten beraten, einen Weg einzuschlagen, der die weitere Zusammen­arbeit mit den USA ermöglicht, wo immer dies einzurichten ist. Dies gilt trotz der zu erwartenden Reibereien und Verluste, denn das zentrale Moment der Sicherheit Europas bleibt der Schutz durch das Bündnis mit den Vereinigten Staaten.

Angesichts der unterschiedlichen Signale, die derzeit aus Washington kommen, müssen die Europäer eine ganze Reihe von Antworten finden, um ihre eigenen Interessen zu definieren und ein nüchterneres, weniger romantisiertes Verhältnis zu den USA aufzubauen. Das muss nicht das Ende des seit fast acht Jahrzehnten bestehenden Bündnisses bedeuten. Aber es erfordert eine deutlich klarere Definition der Ziele, Politiken, Verantwortlichkeiten, Partnerschaften und Erwartungen, durch die bei der Bewältigung neuer Herausforderungen gemeinschaftliche Stärke demonstriert werden kann.

Die EU muss diese Chance nutzen, steht aber angesichts ihrer 27 Mitglieder, von denen sich einige selbst von diesen Werten entfernen, vor zahlreichen Herausforderungen. Die anhaltende Bedrohung durch ein aggressives Russland, die Zentrifugalkräfte, die auf die Weltwirtschaft drücken, das schleppende Wirtschaftswachstum im Inneren und die politische Polarisierung stellen Europa vor erhebliche Probleme. Der zusätzliche Druck der USA in der Handelspolitik sowie die Präferenz der Trump-Administration für bilaterale Beziehungen erfordern von der EU, dass sie ihre eigenen Interessen vertritt und schützt und zugleich ihre globalen Handelsbeziehungen diversifiziert.

Trotz aller Spannungen mit den USA muss Europa ­weiter eigene Ziele auf der globalen Bühne verfolgen

Trotz all dieser Herausforderungen bleibt es für Europa eine Notwendigkeit, die eigenen Ziele auf der globalen Bühne zu verfolgen, mithilfe einer klaren, objektiven und realistischen Beziehung zu den USA, trotz der aktuellen Spannungen. Noch immer bestimmen vielfältige Ebenen von Integration und Interdependenz über den Atlantik hinweg die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verbindungen. Das stärkt deren Stabilität und Synergie, macht sie aber auch komplizierter. Die Beziehungen können auch asymmetrisch sein oder in gegensätzliche Richtungen laufen. Europa steht vor ähn­lichen Herausforderungen bei dem Versuch, seine Politiken und Prioritäten innerhalb der vielen Ebenen seiner konzentrischen politischen und wirtschaftlichen Kreise zu konsolidieren.

Eine unmittelbare Aufgabe für Europa besteht nun darin, die Sicherheit und Unabhängigkeit der Ukraine zu gewährleisten. Die russische Aggression stellt gegenwärtig und auch künftig eine Bedrohung nicht nur für ein einzelnes Land, sondern für ganz Europa dar.

Wie groß das Bewusstsein für diese Bedrohung ist, zeigte sich daran, wie sehr und wie schnell sich die politische Entscheidungsfindung in Europa verändert hat, mit dem Ergebnis eines EU-Vorschlags zur deutlichen Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Unter Führung von Merz ist Deutschland dieser Linie gefolgt und hat eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben durch die Lockerung der staatlichen Schuldengrenze sowie die Einrichtung eines Sonderfonds zur Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen beschlossen. Beide Initiativen zeigen, dass die Bundesrepublik sich für den Aufbau eines stärkeren Fundaments für das verteidigungsindustrielle System Europas einsetzen will. 

Doch neben der Abschreckung Russlands muss sich die transatlantische Allianz kurz- wie langfristig auch anderen Herausforderungen stellen. Dazu gehören die Bedrohung durch die Instabilität im Nahen Osten und Afrika ebenso wie die Herausforderung durch China, das immer mächtiger und aggressiver wird. 

Der Erfolg von Europas Reaktion hängt maßgeblich von einer starken verteidigungsindustriellen Basis ab. Letztlich muss die NATO (Europa und die USA gemeinsam) entscheiden, welche Fähigkeiten sie entwickelt, um langfristige Sicherheit zu gewährleisten. Die Europäer müssen den Wert dieser Partnerschaft nachweisen können, sollten dabei jedoch gemäß ihren eigenen Interessen handeln.

Das gegenwärtige Umfeld hat keine Ähnlichkeiten mehr mit der Welt, in der der Westen einmal entstand. Das Zusammenspiel der Weltmächte ist anders; manche stecken im Chaos, andere sind unberechenbar, wieder andere weigern sich, gemeinsame Werte oder gar eine gemeinsame Politik mitzutragen. Die Suche nach einer Basis zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen ist weitaus komplexer geworden. Doch wer die Grundlagen dessen bewahren will, was der Westen einst verkörperte – Rechtsstaatlichkeit, individuelle Rechte, freie Wahlen, globale öffentliche Güter, Friedenssicherung, politische und finanzielle Stabilität, fairer Handel –, für den besteht die Chance, Macht und Werte zu verbinden, um globale Partnerschaften einzugehen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks hat die gemeinsame Nutzung der Ressourcen für kollektive Stärke weiterhin große Vorteile. Die Europäer können so bekräftigen, dass auch sie sich dafür einsetzen, Europa zu dem zu machen, was die Amerikaner ­fordern und brauchen. Das bedeutet, einen führungsstarken Partner zu haben, mit dem man globale Verantwortung teilt.


Ein Neustart des Westens

Die Herausforderung für die transatlantischen Beziehungen wird darin bestehen, die Relevanz des anderen neu zu bestimmen. Worauf legt die Trump-Administration in den Beziehungen zu Europa Wert? Was braucht Europa von Washington, und was benötigt Washington zusätzlich, um weiterhin Interesse an Europa und am globalen Zusammenspiel zu haben? 

Die beste Antwort scheint zu sein, dass Europa die überfälligen und notwendigen Schritte unternehmen sollte, um seine Stärke und Fähigkeiten in der Sicherheit, der Wirtschaft und der Politik wiederherzustellen. Das stärkte nicht nur die immer noch großen Gemeinsamkeiten mit Blick auf angestrebte Ergebnisse, sondern wirkte auch auf beiden Seiten des Atlantiks Beschwerden über eine unfaire Behandlung entgegen. Eine gleichberechtigtere Partnerschaft mag nicht ganz im Sinne von „America First“ sein, würde aber Respekt einfordern und die Attraktivität der trans­atlantischen Zusammenarbeit erhöhen.

Die USA sollten den bleibenden Wert dieser Beziehungen anerkennen. Eine größere kollektive Stärke wird ihren eigenen Einfluss auf der Weltbühne kräftigen, so wie es in der Vergangenheit der Fall war. Einer der größten Vorteile, den die USA gegenüber ihren Rivalen und Feinden haben, ist ihr riesiges Netzwerk von Bündnissen und Partnerschaften, die eine gemeinsame Agenda entwickeln. Eine solche Agenda anzuerkennen, die auf kollektiver Sicherheit und Eigeninteressen basiert, macht einen Reset für einen größeren Westen möglich, der aus mehr besteht als aus Europa und den USA. 


Aus dem Englischen von Bettina Vestring

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 41-45

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Jackson Janes

Der Wendepunkt

Nervös blickt die Welt auf die Wahlen in den USA. Ob nun Trumps „America First“ oder Biden 2.0 obsiegt – auf Europa kommen rauere, härtere und kostspieligere Zeiten zu.

Jackson Janes ist Senior Fellow beim German Marshall Fund und emeritierter Präsident des American Institute for Contemporary German Studies an der Johns Hopkins University in Wa­shington, DC.
 

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