Titelthema

29. Apr. 2024

Der Wendepunkt

Nervös blickt die Welt auf die Wahlen in den USA. Ob nun Trumps „America First“ oder Biden 2.0 obsiegt – auf Europa kommen rauere, härtere und kostspieligere Zeiten zu. Amerika steht vor einer Zeitenwende.

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Bild: Mann im Donald Trump-Fanshirt
„Grand Old Party“ war früher, heute herrschen MAGA-Kult und Trumpismus: Der Ex-Präsident hat die Republikaner nach seinem eigenen Bild geformt.
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Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich aber: Das alte Sprichwort Mark Twains könnte auch auf die am 5. November anstehenden Wahlen in den USA zutreffen. Denn sollte in den kommenden Wochen nichts Unerwartetes passieren, dann treten dort – zur Verzweiflung vieler Amerikaner – einmal mehr Joe Biden und Donald Trump gegeneinander an. Beide politische Lager verkaufen diese Wahl dem Volk als großen Scheideweg; schenkt man ihnen Glauben, geht es bei der Frage Biden oder Trump um nicht weniger als den Fortbestand der Nation, ihrer demokratischen Grundfesten und ihrer Kultur, um eine Zeitenwende. Auch die Kandidaten selbst werden im Wahlkampf erneut mit allerlei Übertreibungen auf sich aufmerksam machen. Wenn sie sagen, dass diese Wahl von überragender Bedeutung für das Land sei, kann man ihnen in diesem Punkt jedoch faktisch kaum widersprechen. Es geht um richtungs­weisende Entscheidungen mit langfristigen Auswirkungen. 

Hinter aller politischen Rhetorik spielen sich zweifelsohne große Veränderungen in den innen- und außenpolitischen Diskursen des Landes ab: Das gilt für politische Macht, Prioritäten der Regierung, Privilegien, wirtschaftliche Gerechtigkeit, Religion, Rassismus und gesellschaftliche Normen. Wohin dieser Wandel führen wird, bleibt nicht zuletzt deswegen ungewiss, weil in den USA gleichzeitig ein erbitterter Wettkampf zwischen radikal unterschiedlichen Weltanschauungen stattfindet. Es geht um die Verantwortung des Landes in der Welt. Die Intensität dieses Wettstreits kann entweder positive Energie erzeugen oder gewaltige Risiken.

Die Risiken wurden zuletzt am 6. Januar 2021 deutlich, als ein aufgeheizter Mob das Kapitol in Washington D.C. angriff – und sie zeigen sich auch in dem geringen Vertrauen der Menschen in staatliche Institutionen, in der Polarisierung der Sprache in Politik und Medien und in Umfragen, die zeigen, dass viele Amerikaner glauben, sogar Gewalt könne notwendig sein, um ihre Vision der USA zu retten.

Die Entscheidungen, vor denen das Land steht, haben unter anderem mit dem Niedergang des verarbeitenden Gewerbes und der Einkommensungleichheit zu tun – und mit der Gegenreaktion, die aus diesen Trends resultiert. Die USA werden von autokratischen Ländern wie China, Russland, dem Iran und Nordkorea herausgefordert. Sie versuchen, die wirtschaftliche Macht und den politischen Einfluss Washingtons in der Welt zu untergraben. Vor diesem Hintergrund geht es vor allem um die Frage, wie das US-Engagement in Übersee künftig aussehen wird, wie das Land gedenkt, seine eigene Sicherheit in einer zunehmend fragmentierten Welt zu gewährleisten und wie nachhaltig die lange von den USA angeführte internationale Ordnung wirklich ist. 
 

Trump 2.0

Wie würde eine zweite Trump-Regierung diese Fragen beantworten? Donald Trump hat seinen Wahlkampf fast ausschließlich um das apokalyptische Narrativ einer sich im Niedergang befindlichen Nation herum aufgebaut, erschöpft und desillusioniert nach den Kriegen im Irak und in Afghanistan. Seine Strategie ist fast deckungsgleich mit dem Wahljahr 2016. Sollte Trump im November erneut zum Präsidenten gewählt werden, dürfte er dementsprechend viele politische Kernelemente aus seiner ersten Amtszeit wieder aufgreifen; daneben wird es neue und ambitioniertere Maßnahmen geben und größeren Nachdruck. 

Die Einwanderungs- und Asylpolitik, die in den USA weiterhin ein sehr brisantes Thema ist, wird ganz oben auf seiner ­Liste stehen. Trump wird einen Großteil der innenpolitischen Agenda von Präsident Biden zurücknehmen oder streichen und auch die außenpolitischen Prioritäten neu setzen. Sollten die Republikaner sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus die Mehrheit erlangen, wird Trump dabei kaum auf Widerstand stoßen. Er kann neue Gesetze und Richtlinien in Windes­eile durchsetzen und womöglich auch ungehindert die Grenzen der Exekutive ausloten, indem er jenen „tiefen Staat“ angreift, der ihm in der ersten Amtszeit seiner Meinung nach in Form von Regierungsbehörden zu viele Steine in den Weg gelegt hat. Dazu wird Trump ein Team rekrutieren, das seine Befehle getreu umsetzen wird.


Drohendes Sicherheitsvakuum

Trumps außenpolitische Agenda wird sich an den bekannten Slogans „America First“ und „Make America Great Again“ orientieren. Nicht umsonst ist er aus seiner ersten Amtszeit und aus Auftritten als Geschäftsmann dafür bekannt, im Umgang mit dem Rest der Welt einen nationalistischen und transaktionalen Ansatz zu befürworten. Egal ob Freund, Feind, internationale Organisation, WTO, UN oder Weltklimarat: Trump ist Dritten gegenüber grundsätzlich skeptisch und hält Interaktionen mit der Außenwelt für lästig. So gerieten ihm EU und NATO bereits während seiner ersten Amtszeit in die Schusslinie. Ein Schicksal, das sie auch im Falle seiner Wiederwahl ereilen könnte. Beziehungen zu anderen Großmächten werden sich unter Trump einmal mehr rein bilateral abspielen – und sein persönliches Interesse bestimmt die Relevanz der jeweiligen Partnerschaft. Gerade auf Russland dürfte Trump aufgrund seiner Sympathie für Präsident Putin aktiv zugehen, auch um über Themen wie die Ukraine zu sprechen.

Angesichts seiner verbrieft kritischen Haltung gegenüber der NATO würde das US-Engagement für die Allianz unter Trump mit Sicherheit merklich nachlassen. Das daraus resultierende Vakuum hätte gerade für die Sicherheit Europas schwerwiegende Folgen und könnte nur durch eine erhebliche Aufstockung der europäischen Verteidigungsausgaben und eine entschiedenere europäische Sicherheitsstrategie gefüllt werden. Das dauert allerdings Jahre.

Zu den abzusehenden Reibereien zwischen Europa und einer Trump-Regierung würden wohl auch Auseinandersetzungen darüber gehören, inwieweit sich die USA an Artikel 5 des NATO-Vertrags halten müssen oder ob US-Truppen in Europa stationiert bleiben sollen. Selbst wenn Trump sich schlussendlich für einen Verbleib im Bündnis entscheiden würde, wäre damit jedoch nicht alles gut. Im Gegenteil: Allein die Tatsache, dass Washington offen mit einem NATO-Austritt liebäugelt, würde das Bündnis bereits nachhaltig destabilisieren. Dazu trägt natürlich auch bei, dass Trump Putin zuletzt offen dazu eingeladen hat, mit Ländern, die ihren Bündnisverpflichtungen nicht nachkommen, „alles zu tun, was er will“.

Trumps Außenpolitik wird sich an den Slogans „Make America Great Again“ und „America First“ orientieren

Gleichzeitig wurde die EU von Trump mehrfach als Widersacher der USA und als „Trittbrettfahrer“ bezeichnet, sowohl in Bezug auf die Wirtschaftsbeziehungen als auch in sicherheitspolitischen Belangen. Unwahrscheinlich, dass sich das in einer zweiten Präsidentschaft ändern würde. 

Konflikte dieser Art könnten zu erheblichen Brüchen innerhalb der Europäischen Union und mit einzelnen Mitgliedstaaten beitragen, gibt es doch unter Letzteren nicht wenige, die womöglich an einer engen Beziehung mit einer Trump-Regierung interessiert wären. So etwa britische Brexit-Befürworter, deren Sache Trump während seiner ersten Amtszeit unterstützt hat, oder der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, zu dem Trump seit jeher einen engen Draht hat, weil er viele seiner Überzeugungen teilt. Darunter insbesondere die Idee, dass nationale Interessen die Haupttriebfeder der internationalen Beziehungen sind. 

Trump plant, Zölle in Höhe von 10 Prozent auf alle Importe zu erheben und speziell für Produkte aus China noch weitaus härtere Maßnahmen zu ergreifen. Beschränkungen für ausländische Investitionen und Exportkontrollen in strategisch wichtigen Sektoren sollen in einer möglichen zweiten Amtszeit ebenfalls auf der Tagesordnung stehen. All das würde langfristig dazu beitragen, dass die Spannungen zwischen Peking und Washington weiter steigen und die daraus resultierende Instabilität und Unberechenbarkeit auch die globale Sicherheit gefährden. 

Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas wird in den Monaten vor und nach den US-Wahlen wahrscheinlich weiterhin ungelöst bleiben, und es ist unklar, wie sich Trump hier einbringen wird. Versucht er einige der durch die Abraham-Abkommen angestoßenen Initiativen wieder aufzugreifen? Oder arbeitet er direkt an einer Friedensvereinbarung zwischen Israel und der Hamas? Sein spezielles ­Faible für Saudi-Arabien lässt vermuten, dass er Riad in einer zweiten Amtszeit einmal mehr die Hand reichen und so den Konflikt mit dem Iran eskalieren würde. 

Trumps Slogan „Make America Great Again“ enthält im Kern die Vision einer Zeitenwende. Er suggeriert sowohl eine Gegenbewegung gegen soziale und kulturelle Trends als auch den Wunsch nach der Wiederherstellung alter gesellschaftlicher und politischer Strukturen, sei es mit Blick auf die Gesundheitspolitik, die Bildungspolitik, religiöse Organisationen oder ethnische Beziehungen. Trump ist längst selbst ein wichtiger Teil dieser Debatte geworden: Das Drama um die zahlreichen Prozesse und Anklagen gegen ihn zeigt, wie polarisiert das Land ist, speziell in Bezug auf das Vertrauen in Institutionen wie Gerichte und Strafverfolgungsbehörden.

Das „America First“-Mantra vermittelt die Priorität, die Innenpolitik enger mit außenpolitischen Entscheidungen zu verknüpfen. Trump sieht den Vorteil der USA darin, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgen können und in einer Hobbes’schen Welt der Rivalen agieren. Das Ziel, eine eher Locke’sche, also eine regelbasierte ­internationale Ordnung aufrechtzuerhalten, hält Trump für unrealistisch. Für ihn besteht die Welt aus einem losen Haufen von Staaten mit konkurrierenden Interessen. Werte zu vertreten, ist für ihn zweitrangig. Es scheint klar, dass Trump diese Haltung auch in einer zweiten Amtszeit an den Tag legen wird. 


Biden 2.0

Joe Bidens Amtsantritt als Präsident im Januar 2021 war geprägt von einer weltweiten Pandemie und der Polarisierung einer Nation, die mit ernsten wirtschaftlichen und politischen Problemen sowie mit ­zahlreichen außenpolitischen Bedrohungen zu kämpfen hatte.

In seiner ersten Amtszeit hat Biden gezeigt, wie wichtig ihm die Stärkung der innenpolitischen Basis der Außenpolitik ist, damit diese auch bei der Mittelschicht Anklang findet. Im Gegensatz zu Trump betont Biden die Bedeutung der Zusammenarbeit mit internationalen Verbündeten und Partnern und die Notwendigkeit, demokratische Allianzen zu schmieden, um den Autokraten dieser Welt etwas entgegenzusetzen. Diese beiden Säulen seiner Politik erforderten innenpolitische Reformen und die außenpolitische Stärkung wertebasierter Partnerschaften, Bündnisse und internationaler Institutionen. 

Nach seinem Amtsantritt konnte Biden dank der demokratischen Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses gleich mehrere Gesetze verabschieden, die enorme Investitionen in die Wirtschaft und in die Infrastruktur ermöglichten. Daraus resultierten eine boomende Wirtschaft, niedrigere Arbeitslosenzahlen und historische Börsenkurse. In einer zweiten Amtszeit würde eine solche Strategie angesichts eines gespaltenen Kongresses wohl kaum mehr funktionieren. In diesem Fall würde vor allem die Verhandlungsbereitschaft der Republikaner über Bidens Erfolg oder Misserfolg entscheiden. 

Bereits ganz zu Beginn seiner Präsidentschaft hat Biden sich dafür eingesetzt, die USA wieder in die internationale Gemeinschaft zu integrieren und die Bedeutung internationaler Foren und Institutionen zu würdigen. Er bemühte sich auch umgehend darum, das Vertrauen der NATO-Partner wiederherzustellen und die Wichtigkeit des Bündnisses zu unterstreichen. In Europa sorgte seine Wahl nicht zuletzt deshalb – und wegen der Erfahrungen aus vier Jahren Trump – für große Erleichterung. 

Der Wettstreit zwischen Trump und Biden ist am Ende vor allem ein Kampf zwischen zwei sehr unterschiedlichen Visionen ­
einer US-amerikanischen Zeitenwende

Auf dem G7-Gipfel 2021 kündigte Joe Biden ein gemeinsames Engagement für die Initiative „Build Back Better ­Wor­­ld“ an. Zudem traf er sich mit Putin, um das Potenzial von Verhandlungen über strategische Waffenarsenale auszuloten. Diese Gespräche wurden jedoch alsbald von dem russischen Großangriff auf die Ukraine überholt. Biden reagierte mit sofortiger Unterstützung der Ukraine und einem Kiew-Besuch im Jahr 2023. Er warb außerdem um internationale Unterstützung für das Land und arbeitete mit Europa und anderen an Sanktionen gegen Moskau. Er traf sich sogar mit Präsident Xi Jinping, um die Beziehungen zu China auszuloten, was Peking jedoch nicht davon abgehalten hat, Putin weiterhin zu unterstützen, auch in seinem Krieg gegen die Ukraine.

Bidens Entscheidung, die US-Streitkräfte aus Afghanistan abzuziehen, trübte die Bilanz seines ersten Amtsjahres, auch wenn er damit seiner Überzeugung folgte, dass ein Ende mit Schrecken besser sei als ein Schrecken ohne Ende. Der Rückzug beschädigte die Beziehungen zu Verbündeten. Und er bestärkte all jene Rivalen Washingtons, die seit jeher auf ein Ende US-amerikanischer Einmischung in das Weltgeschehen hoffen.

Heute sieht sich Biden mit gleich zwei Kriegen (in der Ukraine und in Gaza) konfrontiert, die sich negativ auf seine Chancen zur Wiederwahl auswirken können. Denn sowohl für seine Unterstützung der Ukraine als auch für seine Unterstützung für Israel wird der amtierende Präsident im In- und Ausland kritisiert. Während Joe Biden um eine zweite Amtszeit kämpft, macht sich in den Vereinigten Staaten eine isolationistische Stimmung breit, sowohl im Kongress als auch in der breiten Öffentlichkeit. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Bidens Version einer US-amerikanischen Zeitenwende auch in einer zweiten Amtszeit von den beiden Säulen geprägt sein würde, für die er sich seit seiner Wahl im Jahr 2020 eingesetzt hat.


Entscheidender Faktor Kongress

Der Wettstreit zwischen Biden und Trump ist am Ende vor allem ein Kampf zwischen zwei sehr unterschiedlichen Visionen einer amerikanischen Zeitenwende. Welche Vision die Wähler bevorzugen, wird sich langfristig auf die Zukunft der USA auswirken. Sollte Biden die Wahl gewinnen, könnte das für Trump den Anfang vom Ende bedeuten. Der Trumpismus wäre ­allerdings noch lange nicht tot, sollten die Republikaner die Mehrheit in einer oder beiden Kammern des Kongresses ­halten. Sollte wiederum Trump gewinnen und mit einem gespaltenen Kongress regieren müssen, würde diese Pattsituation seine Agenda ebenfalls stark beeinträchtigen. Nur in dem Fall, dass die Republikaner die Mehrheit in beiden Kammern gewinnen, wären Trumps Zeitenwende Tür und Tor geöffnet.

Eine Zeitenwende ist jedoch kein singuläres Ereignis, keine greifbare Maßnahme, die von einem Staatsoberhaupt verkündet wird. Es handelt sich um eine langsame Entwicklung, die nach und nach in der Gesellschaft Fuß fasst und deren Auswirkungen sich erst allmählich zeigen. Ob die Wahl nun zum Guten oder zum Schlechten ausgeht: Der November wird ein Wendepunkt in der US-amerikanischen Geschichte sein.

Aus dem Englischen von Kai Schnier              

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 18-23

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Jack Janes ist Senior Fellow beim German Marshall Fund und emeritierter Präsident des American Institute for Contemporary German Studies an der Johns 
Hopkins University in Wa­shington, DC.

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