Kommentar

01. Jan. 2021

Warum deutsche Millennials strategisches Denken lernen müssen

Ein Kommentar von Dr. Ulrike E. Franke

Ende der Neunziger, ein Kinderzimmer in der westdeutschen Kleinstadt. Auf der Kompaktstereoanlage läuft Freundeskreis. „A-N-N-A“ und „Mit dir“, das waren die größten Erfolge der deutsch-internationalen Hip-Hop-Gruppe.

Es war aber eine Liedzeile aus einem anderen Song, die mich besonders ansprach: „Geschichte ist das, was lange her ist oder immer ohne einen passiert“, rappte da der junge Max Here in „Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte“.

Ich erinnere mich, wie richtig sich dieser Satz anfühlte. Die Welt, in der meine Freunde und ich lebten, war im Vergleich zu dem, was ich in Geschichte lernte, wenig aufregend. Geschichte war weit weg, ideologische Schlachten waren Querelen aus einer Zeit, als man das richtige politische System noch nicht gefunden hatte. Die aktuelle Situation war gemütlich, aber auch ziemlich langweilig.



Am Ende eines hochbewegten Jahres 2020 erscheint meine Teenager-Angst, etwas zu verpassen, absurd. Die Welt drehte sich weiter, die Geschichte endete nicht. Ich habe gelernt, dass in interessanten Zeiten zu leben nicht unbedingt wünschenswert ist. Aber heute, da meine Generation in der deutschen (Außen-)politik Entscheidungspositionen einnimmt, lohnt es sich darüber nachzudenken, wie unsere Erfahrungen unser Denken geprägt haben.



Der bulgarische Autor Ivan Krastev bemerkte einmal: „Das Ende der Geschichte war eine amerikanische Idee, aber eine deutsche Realität.“ Dem würde ich hinzufügen: „… und ist nun ein Millennial-Problem“. Denn Krastev hat recht: Das „Ende der Geschichte“ – sowohl wie es Francis Fukuyama meinte als auch im simpleren Sinne von „es passiert nichts mehr“ – war in den Jahrzehnten nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 deutsche Realität. Diejenigen, die in dieser Zeit groß geworden sind – die deutschen Millennials – stehen nun vor einer Herausforderung: Was für uns normal war, erscheint heute als Ausnahme. Die Wahrheiten, die wir internalisiert haben, passen nicht mehr. Unsere Erfahrungen haben dazu geführt, dass wir geopolitischen Machtkämpfen mit Unverständnis begegnen, Interessenpolitik uns fremd ist, die Idee des Militärischen als geopolitischer Machtfaktor abschreckt – und wir nie wirklich gelernt haben, strategisch zu denken. Für Deutschland und Europa könnte das zum Problem werden.

 

 

30 Jahre Ruhe

Nach der Wiedervereinigung geborene Deutsche sind in außergewöhnlicher Stabilität und Frieden aufgewachsen. Der 11. September 2001, die Kriege gegen den Terror, die Finanzkrise, der Aufstieg Chinas, zuletzt Flüchtlingskrise und Pandemie – natürlich ist die Welt in den vergangenen 30 Jahren nicht stehen geblieben. Deutschland erschien allerdings oft wie die Insel der Glückseligen. Selbst als die Bundeswehr nach Afghanistan ging, änderte sich für die Gesellschaft zu Hause wenig. Und auch innenpolitisch erlebten wir eine außerordentliche Kontinuität: Ich bin 33 Jahre alt und habe unter drei Kanzlern gelebt. Ein gleichaltriger Amerikaner hat da sechs Präsidentschaften durchlebt, ein Brite in meinem Alter hat sieben Premierminister – und ein Italiener gar 18.



Meine Generation hat diese Kontinuität als Norm verinnerlicht. Auch wenn wir es im Geschichtsunterricht gelernt haben: Auf emotionaler Ebene haben wir nie wirklich verstanden, dass sich die Dinge schnell ändern können. Es ist eine Sache zu wissen, dass es politische Erdbeben gibt, eine andere, eines zu erleben.



In Fukuyamas „Ende der Geschichte“ ging es aber nicht um Ereignisse, sondern um Ideen. Er argumentierte, dass mit dem Ende der Sowjetunion die liberale Demokratie zur einzig gültigen Politikform wurde. Diese Idee wurde in Deutschland mit Begeisterung aufgenommen. Das Primat des Rechts vor der Macht war ein willkommenes Konzept in einem Land, das sich selbst den Umgang mit Macht nicht zutraute. Nach dem Dammbruch des Mauerfalls, so die Idee, würde die ganze Welt in einem System aufgehen, in dem (militärische) Macht unwichtiger würde; Staaten würden transnationalen Herausforderungen in internationalen Organisationen begegnen. Und zunächst stimmte der Trend. Immer mehr Staaten wollten der EU beitreten, Sinnbild der neuen Art der Politik. Dass sich die Welt hin zu Demokratie und Marktwirtschaft bewegen würde, diese Überzeugung wurde Teil unserer DNA.



Es wurde bereits darüber geschrieben, dass es für diejenigen, die diese Veränderung miterlebt haben, schwierig ist, sich auf die heutige geopolitische Situation einzustellen, in der Großmachtpolitik wieder eine Rolle spielt. Das gilt aber noch viel mehr für diejenigen, die den Wandel nicht erlebt haben, aber in der daraus resultierenden Welt aufgewachsen sind. Die Generationen vor uns haben den Geist von 1989 nur adoptiert. Wir wurden in ihm geboren und von ihm geformt. In außenpolitischen Diskussionen halten Millennials oft instinktiv am Altbekannten fest. Bewährte Rezepte werden nicht angerührt: die transatlantischen Beziehungen als Fundament deutscher Sicherheit, die stetige Erweiterung der EU. Das mag in manchen Fällen richtig sein, allerdings sollte außenpolitisches Denken immer verschiedene Optionen durchspielen: um sicher zu gehen, dass die aktuelle Situation die beste ist; um auf Änderungen vorbereitet zu sein. So sind die Beziehungen Europas zu den USA einem Wandel unterworfen. Der intuitive Wunsch, am Status quo festzuhalten, wird nicht reichen. Eine Herausforderung für eine Generation, deren definierendes Element Kontinuität ist.

 

Die eigenen Interessen und Fähigkeiten definieren

Noch problematischer ist, dass wir Interessenspolitik und Machtpolitik grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Schon die Idee von Interessen und Macht an sich behagt uns nicht – lieber sehen wir internationale Beziehungen durch das Prisma von Freundschaften und Werten. Wir haben derart verinnerlicht, dass Allianzen gut sind, dass wir oft nicht hinterfragen, wozu. Da wird der französische Präsident Macron dafür kritisiert, dass er die europäische Idee nur unterstütze, weil das gut für Frankreich sei – eine vielsagende Kritik. Und als die AfD begann, die EU anzugreifen, führten wir Argumente der Völkerverständigung an, statt darauf hinzuweisen, dass Deutschland auch wirtschaftlich und diplomatisch massiv von der EU profitiert. Selbst die Idee der „geopolitischen EU“ stößt da auf Ablehnung.

Es reicht nicht, an Altbekanntem festzuhalten und zu hoffen, dass die liberale Weltordnung sich durch festes Glauben an Freundschaften und internationale Organisationen von alleine einrenken wird. Um Herausforderungen wie der Klimakrise oder dem Aufstieg Chinas zu begegnen, werden wir neu denken müssen und lernen, strategisch zu denken und zu handeln. Das bedeutet, die eigenen Interessen zu definieren, unsere Fähigkeiten zu evaluieren und sie aufzustocken, wo nötig. Wir müssen Strategien formulieren, die unsere Fähigkeiten mit unseren Interessen in Einklang bringen und die Interessen anderer Akteure miteinbeziehen.

So können wir dafür sorgen, dass Deutschland und Europa sicher und wohlhabend bleiben, die liberale Weltordnung aufrechterhalten wird und wir so gut wie möglich gerüstet sind für die nächsten Herausforderungen. „Gen Z“, die Generation nach uns, ist schon mit Fridays for Future auf der Straße. Es ist unsere Aufgabe, Deutschland für sie stark zu machen – und für all diejenigen, die jetzt gerade in ihren Kinderzimmern sitzen und Songs hören.



Dr. Ulrike Esther Franke ist Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Sie befasst sich mit Fragen der deutschen und europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, insbesondere mit dem Einfluss neuer Technologien. Sie ist Teil des „Sicherheitshalber“-Podcast-Teams.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 118-119

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