Porträt

24. Juni 2024

Währungshüterin mit Visionen

Klima, Bildung, Geschlechterfragen, Nothilfe: In manchem hat Kristalina Georgiewa den Internationalen Währungsfonds nach vorne gebracht. Doch der wichtigsten Reform steht die alte und neue IWF-Chefin selbst im Weg. Weil sie Europäerin ist. 

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Bild: Porträt Kristalina Georgiewa
Premierenabo: Vor ihrem jetzigen Job beim IWF war Kristalina Georgiewa u.a. die erste EU-Kommissarin und die erste Vizepräsidentin der EU-Kommission aus Bulgarien.
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Es war eine kühne Zukunftsvision, die Kristalina Georgiewa vor den Studenten des ehrwürdigen King’s College in Cambridge ausbreitete. „Stellen Sie sich die Welt im 22. Jahrhundert vor, wo jeder – ungeachtet von Rasse, Farbe, Glauben, Geschlecht oder Geburtsort – eine faire Chance hat, sein Potenzial zu entfalten. Wo Technologie zum Nutzen aller eingesetzt wird. Wo die Menschen gesunde und sinnvolle Leben auf einem lebenswerten Planeten führen. Und wo Staaten miteinander, nicht gegeneinander arbeiten.“

Für ihren Vortrag hatte sich die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) – im April wurde sie vom Exekutivdirektorium für eine zweite Amtszeit bestätigt – vom britischen Ökonomen John Maynard Keynes inspirieren lassen. 1930 schrieb der IWF-Gründungsvater den Essay „Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkel“. Georgiewa verfasste eine Fortsetzung, die sie jetzt, im März 2024, vor den Studenten und ihrer eigenen Enkelin vortrug.

Über ihre Hoffnungen für die kommenden hundert Jahre sprach Georgiewa: über einen ungeheuren Anstieg der Lebensstandards, über nachhaltigeres Wachstum und weniger Ungleichheit – sofern es gelinge, den Klimawandel zu bewältigen und in Innovationen und Menschen zu investieren. All dies, so fügte sie hinzu, setze voraus, dass die Welt zusammenarbeite. „Keynes gab uns einen Rahmen vor, einen ‚Multilateralismus für das 20. Jahrhundert‘“, so Georgiewa. „Nun müssen wir ihn für eine neue Ära modernisieren.“


Die Hybris des Westens

Eine Rede, die inspiriert – und zugleich deutlich macht, wie paradox die Rolle von Kristalina Georgiewa beim IWF ist. Denn einerseits setzt sich die bulgarische Ökonomin nachdrücklich für Reformen ein und hat dem Fonds eine neue Ausrichtung auf Klimaschutz, Bildung und Geschlechtergerechtigkeit verordnet. Andererseits verdankt sie ihre zweite Amtszeit gerade der Tatsache, dass sich die größten Anteilseigner des IWF – Europa und Amerika – einer schon lange überfälligen Reform der Machtstrukturen verweigern. 

Aufstrebende Wirtschaftssupermächte wie China sind beim IWF und seiner Schwesterinstitution Weltbank völlig unterrepräsentiert; die Entscheidungsstrukturen reflektieren noch immer die Weltwirtschaft, wie sie sich zur Zeit der Gründung vor 80 Jahren darstellte: Die USA als damals führende Volkswirtschaft besitzen mit 16,5 Prozent den größten Stimmenanteil im IWF; mehr haben nur die Europäer, wenn man ihre Anteile zusammenrechnet. Die Milliardenvölker China und Indien kommen nur auf 6,08 beziehungsweise 2,63 Prozent; ein afrikanischer Riese wie Nigeria hat beim IWF weniger zu sagen als Österreich. Diese offensichtliche Ungerechtigkeit untergräbt die Legitimität und Relevanz einer der wichtigsten Institutionen der multilateralen Weltordnung.

In ihrer Hybris haben die USA und Europa auch die Spitzenposten bei IWF und Weltbank unter sich aufgeteilt. Ein Gentlemen’s Agreement aus den Gründungstagen besagt, dass der Fonds stets von einem Europäer, die Weltbank von einem Amerikaner geleitet werden soll. Eine Übereinkunft, die so aus der Zeit gefallen ist, dass sie trotz des westlichen Stimmenübergewichts im IWF nicht mehr durchsetzbar erscheint. Nur die erneute Kandidatur einer bereits amtierenden geschäftsführenden Direktorin fortgeschrittenen Alters – Georgiewa wird im August 71 – hat es den Europäern ermöglicht, den Status quo für weitere fünf Jahre fortzuschreiben.

Immerhin kann Kristalina Georgiewa dank ihres Heimatlands Bulgarien für sich in Anspruch nehmen, die erste IWF-Direktorin aus einem Schwellenland zu sein – alle ihre Vorgänger stammten aus Westeuropa. Überhaupt taucht in ihrem Lebenslauf das Wort „erste“ häufig auf: erstes Mitglied ihrer Familie mit Hochschulabschluss, Verfasserin des ersten bulgarischen Mikroökonomie-Lehrbuchs nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, erste EU-Kommissarin und erste Vizepräsidentin der EU-Kommission aus Bulgarien, sogar erste Frau in der Endauswahl für das Amt des UN-Generalsekretärs (am Ende gewann António Guterres). Zwischen all dem fand Georgiewa noch Zeit für eine illustre Karriere bei der Weltbank, wo sie von 1993 bis 2010 und dann von 2017 bis 2019 arbeitete. Zum Abschluss leitete sie als erste Frau und erste Europäerin die Weltbank kommissarisch für ein paar Monate, bevor sie 2019 zum IWF berufen wurde. 

Georgiewa kennt also die Finanzinstitutionen aus dem Effeff; sie ist pragmatisch, effizient und durchsetzungsstark; eine Frau mit immenser Erfahrung in den Korridoren der Macht. Große Beliebtheit hat ihr das nicht immer verschafft, vor allem nicht bei den eigenen Mitarbeitern. Aber Georgiewa hat sich behauptet, sogar als 2021 der Vorwurf aufkam, sie hätte in ihrer Zeit bei der Weltbank einen wichtigen Bericht zugunsten Chinas geschönt. Sie bestritt die Anschuldigung, und am Ende sprach das IWF-Exekutivdirektorium ihr das Vertrauen aus.

Der China-Skandal war der einzige schwarze Fleck während Georgiewas erster Amtszeit; sie führte den Fonds energisch und mit Geschick durch fünf turbu­lente Jahre. Unter ihrer Führung begann der IWF, den Fokus auch auf Klimarisiken und deren Bewältigung zu legen. In der Corona-Krise sorgte Georgiewa dafür, dass arme Länder auf IWF-Notfallhilfen zurückgreifen konnten – ohne die strengen wirtschaftspolitischen Auflagen erfüllen zu müssen, die dem IWF bei früheren Finanzkrisen (wie in Asien in den 1990er Jahren oder in Griechenland ab 2010) so viel Hass eingetragen hatten. 


Spielraum gegen Schocks

Konservativen Politikern und Ökonomen vor allem in den USA missfallen die Veränderungen; ihnen wäre es lieber, der Fonds würde sich auf seine Kernaufgabe der Überwachung finanzieller und fiskalischer Risiken konzentrieren und nicht als Hilfsorganisation auftreten. „Die Pandemie und der Krieg sind Schocks von außen“, widersprach Georgiewa vor zwei Jahren in einem Interview mit dem Spiegel. „Länder, die davon getroffen werden, haben nichts falsch gemacht. Wie sollen wir da reagieren? Ganz sicher nicht, indem wir auf unsere traditionellen Instrumente der Strukturanpassungen setzen. Wir müssen Staaten den fehlenden fiskalischen Spielraum verschaffen, um diese Schocks abzudämpfen.“

Auf den Kurs des IWF kann Georgiewa einwirken, auf seine Machtstrukturen nicht. Doch je eifersüchtiger die westlichen Industrieländer über ihre Vormacht bei IWF und Weltbank wachen, desto energischer suchen unterrepräsentierte Nationen nach Alternativen. China organisierte, weil es keine grundsätzliche Neuverteilung der Stimmrechte beim IWF durchsetzen konnte, im Jahr 2015 die Gründung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), die unter seiner Führung steht. Den IWF nutzt Peking zwar immer noch gerne, wenn es darum geht, durch die Restrukturierung von Staatsschulden von Staaten wie Sambia, Pakistan und Sri Lanka einen Teil seiner gewährten Infrastrukturkredite zurückzubekommen. Doch mit Zukunftsgestaltung hat das nicht viel zu tun. 

Vermutlich ist den Europäern bewusst, dass es auf lange Sicht für sie besser wäre, wenn IWF und Weltbank ihre zentrale Stellung für die Weltwirtschaft behielten, auch wenn sie dafür auf einen Teil ihrer Stimmrechte verzichten müssten. Doch kurzfristig ist es ihnen wichtiger, dass die IWF-Spitze in europäischer Hand bleibt. Zu dringend ist die Sorge um die weitere Finanzierung der Ukraine, zu groß ist die Angst vor einer nächsten Euro-Krise, in der die EU auf Rettungsmaßnahmen des Fonds angewiesen wäre. „2010 hat der IWF geholfen, den Euro zu retten“, sagt ein früherer Mitarbeiter Georgiewas. „Wenn die Chinesen erst das Sagen haben, kann Europa darauf nicht mehr zählen.“ 

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel  „Visionen für die Währungshüter" erschienen.

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 9-11

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Bettina Vestring  ist freie Autorin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Außen-, Sicherheits- und Europapolitik sowie über internationale ­Gerichtsverfahren.

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