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01. Jan. 2010

Vorsichtige Annäherung

Taiwans Präsident über die Beziehungen mit Festland-China

Gespräche unterhalb der Regierungsebene haben eine deutliche Entspannung gebracht. Im Interview mit Gottfried-Karl Kindermann erklärt Staatspräsident Ma, warum die Zeit für einen Friedensvertrag noch nicht reif ist: Festland-China müsse erst seine gegen Taiwan gerichteten Raketen abbauen und die politische Realitäten akzeptieren.

IP: Taipeh und Peking wünschen beide ein Abkommen, das den 83-jährigen Bürgerkrieg zwischen der Kuomintang (Nationale Volkspartei) und der Kommunistischen Partei Chinas beendet. Welche Voraussetzungen sind Ihrer Ansicht nach dafür notwendig?

Ma Ying-Jeou: 1991 beendete die Republik China (Taiwan) die „nationale Mobilisierung zur Niederwerfung des Kommunistischen Aufstands“ und setzte die „zeitweiligen Bestimmungen“ für diese Periode außer Kraft. Damit wurde Festland-China (Volksrepublik) nicht länger als ein Rebellensystem betrachtet. Militärische Feindseligkeiten zwischen beiden Seiten setzten sich jedoch fort: Das Festland führte Raketenübungen nahe unserer Hoheitsgewässer durch, entfachte dadurch eine Krise an der Straße von Taiwan und baute militärische Stellungen auf. Festland-China hat weiterhin 1300 Raketen gegen Ziele auf Taiwan in Stellung gebracht. Weder in seiner Gesetzgebung noch in seiner politischen Haltung hat es einen Gewaltverzicht als Mittel zur Lösung der Spannungen zum Ausdruck gebracht. Ich glaube nicht, dass unter diesen Umständen ein Friedensvertrag unterzeichnet werden kann. Der Konflikt an der Taiwan-Straße entstand durch den Bürgerkrieg zwischen der Kuomintang und den Kommunisten. Als Folge einer 60-jährigen Ära getrennter Regierungen kam es in Taiwan und auf dem Festland zur Entwicklung unterschiedlicher politischer Systeme und sozialer Normen. Die Probleme zwischen beiden Systemen müssen behandelt werden und das erfordert mehr als nur eine einfache Erwägung historischer Faktoren. Die politischen Realitäten und die Gefühle der Taiwanesen müssen berücksichtigt werden.

Der richtige Weg besteht darin, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und die Probleme in demokratischer Weise, auf der Basis von Gleichberechtigung und Würde, in Angriff zu nehmen. Beide Seiten stehen vor der großen Aufgabe, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Struktur für einen langanhaltenden Frieden zu schaffen. Doch die Bedingungen hierfür sind noch nicht bereit. Unsere Regierung besteht auf ihrer Position der nationalen Souveränität sowie auf der Förderung einer friedlichen und dauerhaften Beziehung zwischen beiden Seiten. Wir sind gewillt, mit dem Festland Verhandlungen über diesbezügliche Fragen aufzunehmen. Doch muss die Festland-Regierung das demokratische System Taiwans respektieren, die Realität Taiwans nicht negieren, ihre politischen Vorbedingungen aufgeben und die gegen Taiwan gerichteten Raketen abbauen. Nur dann wird es möglich sein, Verhandlungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung, Würde und Gegenseitigkeit durchzuführen.

IP: Ihre Wahl zum Vorsitzenden der Kuomintang würde ein Treffen zwischen Ihnen und Hu Jintao auf gleicher Ebene, d.h. in seiner Eigenschaft als Generalsekretär der KP Chinas, ermöglichen. Könnte ein solches Treffen der Vorbereitung eines Friedensabkommens dienen?

Ma Ying-Jeou: Nachdem die Kuomintang im Mai 2008 erneut die Regierung übernommen hat, haben sich die Beziehungen zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland in Richtung auf eine Wiederannäherung bewegt. Beide Seiten haben freundliche Gesten gezeigt und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Die Bemühungen der Kuomintang-Regierung um die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen beiden Seiten sind überall auf der Welt mit Erleichterung zur Kenntnis genommen worden. Nach den Worten des stellvertretenden amerikanischen Staatssekretärs James Steinberg sind die USA durch diesen Dialog zutiefst ermutigt. Washington betrachtet ihn als „positive Entwicklung“, die für Taipeh und Peking die Chance zur Wiederannäherung enthält. Interaktionen zwischen den beiden Seiten sind zuvor als politisches Pulverfass beschrieben worden, das jetzt aber entschärft worden sei.

Was ein mögliches Treffen zwischen den Führern der Kuomintang und der KP Chinas betrifft, sollte jede Partei zunächst einen innerparteilichen Konsens zu diesem Thema bewirken. Beide Seiten sollten zu einer grundsätzlichen Übereinkunft kommen, bevor ein solches Treffen sinnvoll wäre. Zurzeit haben die Menschen in Taiwan noch unterschiedliche Meinungen bezüglich des Tempos, mit dem sich bilaterale Beziehungen entwickeln sollten. Deshalb wäre es angemessener, über ein Treffen der beiden Führer erst zu diskutieren, nachdem ein interner Konsens erreicht werden konnte.

Wenn es zu Verhandlungen zwischen beiden Seiten kommt, wird die Regierung der Republik China leichte vor schwierigeren Themen und wirtschaftliche vor politischen Fragen sowie dringende vor weniger dringlichen Problemen behandeln. Meinungsumfragen haben gezeigt, dass eine Mehrheit der Menschen in Taiwan diesen graduellen Ansatz unterstützt. Gegenwärtig müssen sich beide Seiten um die Erarbeitung des größten gemeinsamen Nenners bemühen. Solange sich eine Sphäre der Gemeinsamkeit erweitert und die Gegensätze geringer werden, gibt es Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen. Das wird sicherlich der Entstehung eines Friedensabkommens förderlich sein. IP: Sie kannten das geteilte Deutschland. Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem damaligen Deutschland und den Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Taiwan-Straße?

Ma Ying-Jeou: Das Prinzip „Ein Deutschland – zwei Staaten“ kann auf die Situation an der Taiwan-Straße nicht übertragen werden. Aber trotzdem bilden die Bemühungen von Ost- und West-Deutschland um eine friedliche Koexistenz ein Modell, das für beide Seiten an der Straße von Taiwan untersuchenswert ist. 1972 haben die beiden deutschen Staaten den Grundlagenvertrag unterzeichnet, in dem sie gegenseitig ihre jeweiligen Territorien und Gebietshoheiten anerkannten. Für Taiwan wurde eine solche Anerkennung in Artikel 2 des Gesetzes über die Beziehungen zwischen den Bewohnern des Taiwan-Gebiets und des Festland-Gebiets zum Ausdruck gebracht. Wie die Deutschen haben auch wir die Fragen der Souveränität und der Gebietshoheit voneinander getrennt, um dadurch rechtliche und politische Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Nach Unterzeichnung des Grundlagenvertrags sind Ost- und West-Deutschland getrennt voneinander den Vereinten Nationen beigetreten und haben einander nicht in der internationalen Staatengemeinschaft vertreten. Teilweise entsprach das den Bestimmungen ihrer jeweiligen Verfassung. Die Verfassungen beider deutscher Staaten wurden 1949 kurz nacheinander verabschiedet, keine ist aus einem gesamtdeutschen Staat hervorgegangen.

Im Gegensatz dazu hat die Republik China ihre Verfassung noch vor dem Beginn des Bürgerkriegs veröffentlicht, als die Regierung der Republik China noch das Festland regierte. Deshalb haben wir unsere Verfassung teilweise ergänzt und Artikel hinzugefügt, um sie dem gegenwärtigen Zustand anzupassen. Die beiden deutschen Staaten haben die Wiedervereinigung als oberstes Ziel betrachtet. Doch hier in der Straße von Taiwan müssen wir den Willen des taiwanesischen Volkes berücksichtigen und alle rechtlichen und historischen Aspekte in Erwägung ziehen.

IP: Wie haben sich die Prozesse der Demokratisierung und der Taiwanisierung seit den achtziger Jahren auf das nationale Selbstverständnis der Kuomintang ausgewirkt?

Ma Ying-Jeou: Der demokratische Prozess der Republik China machte große Fortschritte, als der damalige Präsident Chiang Ching-kuo 1987 die Aufhebung des Kriegsrechts verkündete. Auch mit den Wahlen für die gesamte Nationalversammlung und für den Legislativ-Yüan und dem Ende der Beschränkungen der Freiheit der Presse und sonstiger Publikationen führte die regierende Kuomintang die Republik China in die Reihen fortschrittlicher Demokratien. Seit dieser Zeit hat Taiwan zwei Mal einen friedlichen Regierungswechsel erlebt, wodurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie beträchtlich gewachsen ist. Dass Politiker mit ungenügender Leistung zurücktreten und anderen Bewerbern Platz machen müssen, ist jetzt zu einem weitverbreiteten Prinzip geworden. Politiker müssen heute dem Interesse der Öffentlichkeit dienen oder sie verlieren ihre Ämter.

Was den Prozess der Taiwanisierung betrifft, entspringt er der Verwurzelung unserer Politik in Taiwan sowie dem Schutz und der Entwicklung Taiwans. Diese Ziele entsprechen dem von uns stets vertretenen Prinzip, „Taiwan zum Wohle seines Volkes an die erste Stelle zu setzen“. So gesehen sind Demokratisierung und Taiwanisierung zwei Seiten der gleichen Medaille und können nicht voneinander getrennt werden. Jedoch ist Taiwanisierung nicht notwendigerweise mit der Negierung des Chinesischen (Desinifizierung) gleichzusetzen. Taiwan ist eine gemischte Gesellschaft mit kultureller Verwurzelung in chinesischen Traditionen; wir können unsere Vorfahren nicht verleugnen. Die Drei Volksprinzipien (von Sun Yat-sen begründete Ideologie der Kuomintang) sind stets administrative und politische Leitlinie der Kuomintang gewesen. Unser Ideal ist eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Mit der Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Taiwan-Straße haben Austausch und Interaktionen zugenommen.

2005 kam es zu einem Treffen zwischen dem vormaligen Kuomintang-Vorsitzenden Lien Chan und dem Führer des chinesischen Festlands Hu Jintao. Dabei einigten sich beide auf eine in fünf Punkten zusammengefasste Vision für eine friedliche Entwicklung an der Taiwan-Straße. Diese Punkte beinhalten: 1. die Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Verbesserung der Lebens-bedingungen der Menschen auf beiden Seiten, 2. die Beendigung der Feindseligkeit, um einen Friedensvertrag zu bewirken, 3. die Förderung umfassender Wirtschaftsbeziehungen, um Mechanismen für wirtschaftliche Zusammenarbeit erstellen zu können, 4. die Behandlung des Anliegens des taiwanesischen Volkes bezüglich seiner Teilnahme an internationalen Aktivitäten und Organisationen, und 5. die Errichtung einer Verbindung von Partei zu Partei für reguläre Kommunikationen. Diese 5-Punkte-Vision wurde von der Kuomintang in jenen Teil ihres Parteiprogramms übernommen, der sich mit dem gegenwärtigen Stand der bilateralen Beziehungen befasst. Indem sie sich für eine friedliche Entwicklung an der Taiwan-Straße einsetzt, wird die Kuomintang an folgenden Zielen festhalten: der Realität ins Auge schauen, gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Streitpunkte beiseite legen und Win-Win-Lösungen für eine friedliche Entwicklung an der Taiwan-Straße anstreben.

IP: Taiwan plant eine Berufsarmee. Würde diese Veränderung noch vor einer Beseitigung der Taiwan bedrohenden chinesischen Raketen erfolgen? In Frankreich sagt man, die Armee sei „die Schule der Nation“. Würde die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht das Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber dem Vaterland beeinflussen?

Ma Ying-Jeou: Die wichtigsten Gründe für eine Freiwilligenarmee sind die Errichtung einer soliden nationalen Verteidigungsmacht sowie Frieden an der Taiwan-Straße und in der gesamten Region. Diese Politik hängt nicht mit dem Abbau der Raketen Festland-Chinas zusammen. Das Verteidigungsministerium wird entsprechende Änderungen in den nächsten vier bis sechs Jahren durchführen, bis gegen Ende 2014 die Umstellung auf eine reine Berufsarmee erreicht sein wird. Die Verfassung Taiwans verlangt von den Bürgern die Leistung ihres Militärdiensts. Männer, die nicht zur Armee gehen, müssen künftig dennoch eine viermonatige militärische Ausbildung absolvieren, um sich grundlegende militärische Fähigkeiten anzueignen und ihre patriotische Erziehung zu vertiefen. Außerdem hat Taiwan an Schulen, Regierungsinstitutionen und lokalen Organisationen eine Bewegung zur „umfassenden Verteidigungserziehung“ in Gang gebracht, in der die Bürger zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber der Nation erzogen werden. Dieses Programm hat hervorragende Ergebnisse gebracht. Auch in anderen Ländern, die eine Berufsarmee eingeführt haben, hat dieses System nicht zu einer Änderung des Pflichtgefühls gegenüber der Nation geführt.

IP: Der ehemalige Präsident Lee Teng-hui hat in seinem Buch „Taiwan’s Pursuit of Democracy“ die Idee einer „neuen Gesellschaft Taiwans“ vorgestellt, zu der unabhängig von der Abstammung bzw. vom Zeitpunkt der Einwanderung alle gehören sollen, die in Taiwan leben. Wie wird diese Idee heute aufgenommen?

Ma Ying-Jeou: Taiwan ist seit jeher eine Gesellschaft von Einwanderern gewesen. Manche Vorfahren landeten vor über 400 Jahren, andere kamen vor 200 oder 300 Jahren. Die größte Welle der Einwanderung erfolgte 1949, als viele Festlandchinesen wegen der Machtergreifung der Kommunisten nach Taiwan übersiedelten. In den vergangenen Jahren sind mehr als 400 000 Ehepartner (davon 270 000 vom chinesischen Festland) nach Taiwan zugezogen. Im heutigen Taiwan spielt die Abstammung keine Rolle mehr. Solange man Taiwans freien und demokratischen Lebensstil anerkennt, wird man in unserer Gesellschaft akzeptiert und kann seine Ziele verfolgen.

Das Gespräch führte 
Gottfried-Karl Kindermann.

Der Jurist MA-YING-JEOU wurde im März 2008 zum Staatspräsidenten der Republik China gewählt. Er promovierte in Harvard und war Bürgermeister von Taipeh. In seiner Antrittsrede erklärte Ma, dass es in seiner Amtszeit weder eine Wiedervereinigung mit Festland-China noch eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans oder Gewaltanwendung in der Straße von Taiwan geben werde

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2010, S. 114 - 119

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