Buchkritik

01. Juli 2013

Vorsicht, Bärenfallen!

Warum Russlands Wirtschaft nicht auf die Beine kommt

Fragt man Ökonomen nach den Gründen für Russlands wirtschaftliche Probleme, so verweisen sie gern auf die kleptokratische Natur der Regierung Putin. Ganz so einfach ist es nicht, meinen Clifford Gaddy und Barry Ickes. Doch dürften ihre Vorschläge, wie die russische Wirtschaft auf Kurs zu bringen wäre, in Moskau kaum Gehör finden.

Investitionen in Sektoren und Regionen, die niemals wettbewerbsfähig sein werden, dazu eine sichtbare Überstrapazierung der Versorgungswege: Es wimmelt in Russlands Bilanzen geradezu von vermeintlichen Aktivposten, die in Wirklichkeit eher Abschreibeobjekte sind.

Hinter derlei Irrwegen, die Clifford Gaddy und Barry Ickes als die Hauptursachen für die Wirtschaftsprobleme des Landes ausmachen, steht aus Sicht der US-Ökonomen das russische Faible für wirtschaftliche Dogmen sowjetischer Herkunft. Es scheint, schreiben sie in ihrem Meisterwerk „Bear Traps“, als habe Russland „vor langer Zeit die ‚falsche‘ strukturelle Entscheidung getroffen und seither alle Zeichen ignoriert, die auf diesen Irrtum hinwiesen“. Bei dieser falschen Entscheidung handelte es sich um die Idee, abgeschiedene Gegenden in Sibirien und im Fernen Norden und Osten des Landes zu „erobern“ – immer in der Hoffnung, neue Ressourcen zu finden, jedoch ohne den Kosten-Nutzen-Aufwand in Rechnung zu stellen.

Mit der Folge, dass wir alles, was Russland an Produktivkräften aufzubieten hat, in einer Weise über das Riesenreich verteilt finden, die weltweit an Ineffektivität ihresgleichen sucht. Ein großer Teil konzentriert sich auf die klimatisch besonders unwirtlichen Regionen, wo normales Leben nahezu unmöglich ist.

In die Falle getappt

So betrüge etwa die derzeitige Bevölkerungszahl in Ostsibirien und den äußersten östlichen Teilen des Landes – wenn man von einer Besiedlungsdichte ausgeht, die jener von beispielsweise Alaska entspricht – nur rund eine Million Menschen. Tatsächlich aber übersteigt die Bevölkerungszahl dort heute 15 Millionen. Wäre Alaska umgekehrt so dicht besiedelt wie Sibi­rien, würde es einen Lebensraum für 13 Millionen Amerikaner bilden und den 5. statt wie derzeit den 47. Rang auf der entsprechenden Liste der US-Bundesstaaten einnehmen.

Und es mag damit zu tun haben, so die Autoren, dass Russland im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes noch kälter geworden ist als es ursprünglich schon war: Die so genannte bevölkerungsgewichtete Durchschnittstemperatur sank um 1°C. Zum Vergleich: In Kanada stieg diese Temperatur im gleichen Zeitraum – auch dank der Umsiedlung wirtschaftlich relevanter Betriebe in den Süden – um 1,2°C. Aufgrund des Wachstums unproduktiver Vermögenswerte tappte Russland damit in die „Bärenfalle“, die Gaddy und Ickes in der Überschrift ihrer Analyse skizzieren.

Noch eine Zahl: Während in Singapur nach Berechnung von Ökonomen rund 77 Prozent aller Investitionen für den Erwerb von Gerätschaften, Technologie oder Patenten genutzt werden und dieser Anteil in den USA bei etwa 50 Prozent liegt, entfallen in Russland hierauf gerade einmal 22 Prozent. Der Rest wird für den Bau von Gebäuden und ihre Anknüpfung an das Verkehrs- und Transportnetz genutzt.
Dieses für Russland typische Muster bezeichnen die Autoren als systematische Fehlnutzung des Investitionsvermögens. In diesem Fall müsse Russland, so die Ökonomen, nicht weniger als 56 Prozent seines jährlichen Bruttoinlandsprodukts investieren, um sein Sozialprodukt über einen Zeitraum von zehn Jahren zu verdoppeln – was einigermaßen unrealistisch sein dürfte. Also ist laut Gaddy und Ickes zu erwarten, dass die Produktivität Russlands aufgrund seines vor Jahrzehnten durch die Sowjetunion gestarteten „Drangs nach Norden“ sinken wird.

Viele Nieten, wenig Hauptgewinner

Ein weiterer zentraler Punkt hat mit den Grundbedingungen für jegliche Modernisierung zu tun. Hier heben die Autoren zweierlei hervor. Zum einen hätten während der Privatisierungswelle der frühen neunziger Jahre ein paar wenige Glückliche Hauptgewinne im Wert von einigen Milliarden Dollar gezogen, während der Rest der Bevölkerung hauptsächlich Nieten erwischt habe. Deswegen seien Russlands Führungskräfte gezwungen gewesen, „die Illusion zu schaffen, dass diese Nieten einen gewissen Wert hätten“. Sie begannen daher damit, kränkelnde Unternehmen zu unterstützen, statt ihren Bankrott und die damit einhergehenden Schließungen zuzulassen.

Auf diese Weise, betonen Gaddy und Ickes, sichere man das Überleben von Dinosauriern – „auf Kosten vielversprechender Branchen“. Zudem halten die Autoren die „klassische“ Methode der Modernisierung weder für praktikabel noch überhaupt für sinnvoll, sofern sie nicht geeignet sei, Ressourcenfluch und Renditeabhängigkeit zu überwinden.

Jeder Versuch, Russland zu reindustrialisieren, werde auf eine fortgesetzte Unterstützung eines Sektors hinauslaufen, der nicht dazu beitragen könne, Vermögenswerte zu schaffen. Angesichts der vergleichsweise hohen Investitionskosten im Lande „würde eine Diversifikation hin zur Fertigungsindustrie wahrscheinlich ein weit geringeres Wachstum zur Folge haben“.

Die Autoren ziehen den Schluss, dass die Diversifikation der russischen Wirtschaft nicht auf Kosten des Ölsektors gehen sollte. Stattdessen „könnte Russland von der Rohstoffabhängigkeit der Welt profitieren, indem es ein Paket realisierbarer politischer Maßnahmen verabschiedet, durch die Russ­land sich seinen relativen Vorteil auf diesem Feld zunutze machen könnte“. Mit anderen Worten: Von den asiatischen oder lateinamerikanischen Ökonomien, die erfolgreiche Modernisierungsprozesse durchlaufen haben, weicht Russland strukturell zu stark ab, um moderne Produktionsanlagen in den Fokus einer Neuaufstellung seiner Wirtschaft rücken zu können.

Gaddy und Ickes empfehlen der russischen Regierung, ihre staatlichen Mittel überlegter einzusetzen und sich endlich von den sowjetischen Illusionen zu verabschieden. Die entscheidenden Probleme des Landes seien weder sozialer noch demografischer Natur. Es handele sich dabei um genuin wirtschaftliche Herausforderungen. Politiker und Wirtschaftsführer, die sich weigerten, das einzusehen, dürften künftig wenig dazu beitragen, Russlands Wirtschaft auf Kurs zu bringen – im Gegenteil.

Kritische Masse von Sergey Brins

Die Empfehlung der Autoren lautet jedoch nicht, Russland solle auf Wachstum und Entwicklung verzichten. Sie bieten stattdessen einen Entwicklungsweg an, der der meistversprechende zu sein scheint – schon aus dem Grund, dass alle anderen entweder weniger effektiv oder weniger gangbar erscheinen. Hohe Investitionen in das öffentliche Gesundheitswesen oder in demografische Programme, argumentieren Gaddy und Ickes, werden das Wirtschaftswachstum nicht beschleunigen.

Will die russische Regierung im öffentlichen Sektor investieren, so sollte sie nach Ansicht der Autoren vielmehr zusätzliches Geld in das Bildungssystem des Landes stecken. Denn derzeit würden Millionen von Menschen mit solch theoretischem und abstraktem Wissen gefüttert, dass sie unfähig seien, im Wirtschaftsleben und auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren.

Russland habe Angst davor, sich die entscheidende Frage zu stellen: „Was ist besser für Wachstum: das durchschnittliche Bildungsniveau anzuheben oder eine kritische Masse von Sergey Brins“ (dem in Moskau geborenen Google-Gründer) „hervorzubringen?“ Nun, die amerikanische Erfahrung legt nahe, wie wichtig es für wirtschaftlichen Erfolg sein kann, eine kritische Masse an hochqualifizierten und kreativen Menschen herauszubilden.

Brücken ins Nichts

Als russischer Ökonom muss ich prognostizieren, dass – vor allem aus politischen Gründen – keiner der Ratschläge von Gaddy und Ickes in Moskau Gehör finden dürfte. Nachdem Wladimir Putin sich zum dritten Mal als Präsident des Landes installiert hat, scheint ein allgemeiner Konsens zu bestehen, dass alles, was an die sowjetische Tradition anknüpft, vorteilhaft für das Land sein wird.

Die neuen „Entwicklungsstrate­gien“ für Sibirien und für die östlichen Regionen etwa, die 2009 und 2011 von der Regierung lanciert wurden, konzentrieren sich auf die „Eroberung des Fernen Nordens“, die zu Sowjetzeiten nicht zu Ende gebracht wurde. Hier heißt es unter anderem, es sei eine „strategische Priorität“ der russischen Politik, die Ressourcen der arktischen Meere sowie der polaren Regionen Sibiriens der Wirtschaft nutzbar zu machen.

Gleichzeitig liebäugelt die Regierung mit dem Bau einer nordsibirischen Eisenbahnstrecke entlang der arktischen Küstenlinie und mit der Schaffung neuer Bahnlinien von Berkakit nach Jakutsk und weiter nach Magadan. Letztere Verbindung soll in ferner Zukunft dann nach Tschukotka ausgeweitet und mit einer Verbindung zum nordamerikanischen Schienennetzwerk abgeschlossen werden.
Bei diesen Plänen geht es, einfach gesprochen, um die Konstruktion von den typisch sowjetischen „Brücken ins Nichts“, wie Gaddy und Ickes es nennen – doch sie könnten deutlich kostspieliger werden: Ein angedachter Tunnel unter der Beringstraße könnte mindestens 60 Milliarden Dollar kosten, während der jährliche Handels­umsatz zwischen Alaska und Russland die Zehn-Millionen-Dollar-Marke nicht übersteigt.

Kalter Krieg gegen die Kälte

Gleichzeitig bekommt es Putin so langsam mit der Angst vor den neuen urbanen Mittelschichten und der so genannten „kreativen Klasse“ des Landes zu tun. Also präsentiert er sich dieser Tage als Förderer einer Reindustrialisierung des Landes. Einer Reindustrialisierung, die es ermöglichen würde, die Anzahl an niedrigqualifizierten Arbeitern zu erhöhen, die zu den loyalsten Unterstützern der Putin-Regierung gehören.

Derzeit besteht die politische Logik Russlands darin, einerseits riesige Infrastrukturprojekte zu starten, die es Putins Freunden erlauben, sich Milliarden aus den Projektbudgets in die Taschen zu stopfen, und andererseits Ignoranz und Dummheit zu ermutigen.

Daher steht zu erwarten, dass Russ­land weder seine ökonomische Effektivität erhöhen noch die enorme Fläche, die es einnimmt, komprimieren wird. Stattdessen wird es in einen neuen Kalten Krieg eintreten – einen Kalten Krieg gegen die ewige Kälte seiner nördlichen Regionen. Und diesen Krieg wird es mit viel größerer Sicherheit verlieren als den vorherigen. Der bevorstehende Investitionswettlauf in diesem Teil des Landes in den kommenden Jahren wird die Staatsfinanzen viel schneller ruinieren als es der Rüstungswettlauf der siebziger und achtziger Jahre tat.

Und vielleicht wird, nachdem das Land diesen Weg hin zu einem neuen Staatsbankrott gegangen ist, die neue Führungsriege bereit dafür sein, Ratschläge wie solche von Gaddy und Ickes anzunehmen. Es ist bedauerlich, dass Russland erst die falschen Wege erkunden muss, um auf den richtigen Pfad zu finden – aber es scheint so, als ob das derzeitige Post-Sowjet- (oder sollen wir sagen: Quasi-Sowjet-) System nur so funktioniert.

Prof. Wladislaw Inosemzew ist Ökonom und Direktor des Center for Post-Industrial Studies in Moskau.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 138-141

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