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01. Okt. 2007

Voran im Rückwärtsgang

Die postkummnistischen Staaten zwischen Aufbruch und Absturz

Nach der Euphorie die Ernüchterung: Schon bald nach dem Beitritt mussten große Teile der Bevölkerung der neuen EU-Staaten erkennen, dass die Integration nicht Ende, sondern Anfang eines wirtschaftlichen Anpassungsprozesses ist. Gute Zeiten für Populisten, die gegen die mühsamen Reformen mobilisieren und mit dumpfen Ressentiments Stimmen fangen.

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus erleben wir gerade in jenen Ländern Mittel- und Osteuropas, die politisch oder wirtschaftlich die Vorhut hätten bilden sollen, immer wieder verblüffende Wandlungen. Bevor ich die widerspruchsvolle Entwicklung in den postkommunistischen Ländern Osteuropas skizziere, möchte ich mit einer persönlichen Erinnerung beginnen.

Am 11. September 2001, dem Tag der verheerenden Terroranschläge in den USA, fand in Gütersloh die feierliche Verleihung des großen Preises der Bertelsmann Stiftung an Polen statt – als das erfolgreichste osteuropäische Reformland. Eine Delegation aus Warschau, unter anderen der ehemalige Premierminister Tadeusz Mazowiecki und der Wirtschaftsreformer Leszek Balczerowicz, nahmen den Preis an. Wer hätte damals gedacht, dass sich in den folgenden Jahren gerade dieses bevölkerungsreichste Land Osteuropas, das eine bahnbrechende Rolle bei der Zerstörung des Sowjetblocks und des kommunistischen Systems gespielt hat, als ein Symbol der Unregierbarkeit und sogar des Rückfalls in die Atmosphäre des Europas der Zwischenkriegszeit entpuppen würde? Nur einige Wochen nach der Veranstaltung aber wurde die Freiheitsunion – die Partei jener Männer, die wir in Gütersloh gefeiert hatten – bei den polnischen Parlamentswahlen von der politischen Bühne gefegt. Keiner ihrer führenden Politiker gelangte in das polnische Parlament. Der große Sieger war das postkommunistische Linksbündnis (SLD). Korruptionsskandale und die Verstrickung in Geheimdienstangelegenheiten diskreditierten schon bald die linke Regierungs- und Parlamentsspitze. Letztendlich kam es aber nicht zur Wachablöse durch die bürgerliche Mitte. Mit den Kaczynski-Zwillingen und ihren rechtspopulistischen und national-demagogischen Verbündeten versuchte ein disparates Zweckbündnis engstirniger, machthungriger und zutiefst antieuropäischer Politiker in jeder Hinsicht den politischen Rückwärtsgang einzuschlagen.

Die gerade in Polen so offensichtliche Nationalisierung der Politik ruft die Worte eines Autors in Erinnerung, der heute als dermaßen diskreditiert gilt, dass es sich wieder lohnt, ihn zu zitieren. Nämlich Karl Marx: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser geborgten Sprache die neue Weltgeschichtliche Szene aufzuführen.“1

Die so genannte neue polnische „Geschichtspolitik“ bedeutet in diesem Sinne eine folgenschwere Abkehr von jener modernen, von der Versöhnung und Europäisierung geprägten Außenpolitik, die fast alle Außenminister nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, vor allem Bronislaw Geremek und Wladyslaw Bartoszewszki, vertreten hatten. Doch die Warnungen der acht polnischen Außenminister seit der Wende in ihrem offenen Brief vom Sommer 2006 vor einer drohenden internationalen Marginalisierung Polens verhallten ungehört und provozierten nur die Rachegelüste der Kaczynski-Brüder. Die Instrumentalisierung der tief im nationalen Gedächtnis verwurzelten antideutschen und antirussischen Traumata durch die Brüder und ihre Helfershelfer bereitete auch den Boden für die so schädliche, weil ultranational-radikal-klerikale und kaum verhüllt antisemitische Linie der an der Regierung beteiligten „Liga polnischer Familien“.

Als der Nobelpreisträger Czeslaw Milosz auf einer Reise nach Polen Anfang der Neunziger nach Polen gefragt wurde, was das Volk seiner Meinung nach aus den Jahren unter dem Kommunismus gelernt habe, gab er zur Antwort: „Widerstand gegen Dummheiten“. Die widerspruchsvolle politische Entwicklung hat indessen zuweilen starke Zweifel an der Stichhaltigkeit des Urteils des großen, 2004 verstorbenen polnischen Schriftstellers aufkommen lassen. Die Meinungsumfragen noch vor den letzten chaotischen Ereignissen zeigten allerdings ein vernichtendes Bild: Von allen zwölf Regierungschefs seit der demokratischen Wende landete Jaroslaw Kaczynski mit nur 31 Prozent Zustimmung an allerletzter Stelle.2 Hat also Milosz letzten Endes doch Recht gehabt?

Polen ist zugleich ein Beispiel für das merkwürdige Phänomen der Trennung zwischen Innenpolitik und Wirtschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte eine hohe Wachstumsrate von sechs Prozent im Jahr 2006 (im ersten Quartal stieg das Bruttoinlandsprodukt sogar um 7,2 Prozent), eine Senkung der Arbeitslosigkeit auf 12,2 Prozent (den tiefsten Stand seit acht Jahren) und eine Steigerung der Durchschnittslöhne um fast neun Prozent. Die anhaltend kräftige Konjunktur wird zumindest bisher noch nicht durch die massive Abwanderung hunderttausender Facharbeiter und Techniker in den Westen gebremst. Auf lange Sicht freilich wird Polen, ebenso wie ganz Osteuropa, mit dem Problem der Überalterung und des wachsenden Mangels an Facharbeitern konfrontiert.

Frage der Vergleiche

Die lautstark bekundete Zufriedenheit westlicher Investoren mit ihren Geschäften und Gewinnen ist jedenfalls gerechtfertigt. Die Prognosen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche und der Forschungsabteilungen österreichischer Großbanken rechnen mit der ungebrochenen Fortsetzung des Wachstums und Anziehungskraft jener der EU beigetretenen Transformationsstaaten für westliche Direktinvestoren.3 Ungarn ist derzeit die einzige Ausnahme und das eigentliche Sorgenkind im Kreis der neuen EU-Mitgliedsstaaten. Im ersten Halbjahr blieb das Wirtschaftswachstum mit bloß 1,4 Prozent im Jahresvergleich weit unter den Steigerungsraten aller anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten und selbst unter den bereits zurückgeschraubten Erwartungen der Wirtschaftsforscher zurück. Im Vorjahr wies Ungarn ein Haushaltsdefizit von 9,2 Prozent des BIP auf – Negativrekord aller EU-Länder. Der unausweichliche und reichlich verspätete Sparkurs der sozial-liberalen Gyurcsany-Regierung führte zu einer Senkung der Reallöhne um 6,4 Prozent in den ersten sechs Monaten.

Obwohl gerade in Ungarn die angespannte Wirtschaftslage den denkbar günstigsten Nährboden für eine breite gesellschaftliche Protestbewegung bildet, darf man die allgemeine Entwicklung weder dort noch in Polen und in den anderen postkommunistischen Ländern allein durch die wirtschaftliche Brille betrachten. Der vor allem in den urbanen Zentren feststellbare Aufschwung und der Prestigekonsum der neuen Bourgeoisie mögen zwar die flüchtigen Berichterstatter oder die „Transitologen“ der transatlantischen Think-Tanks faszinieren, doch können sie über die Schattenseiten des seit der Wende entstandenen „wilden Kapitalismus“ nicht hinwegtäuschen.

Vor allem die Rentner, aber auch Staats- und öffentliche Beamte, Lehrer, Handelsangestellte und ihre Kinder sehen sich als Verlierer der Globalisierung und der seit Mai 2004 vollzogenen EU-Integration. Schon bald nach Beginn des Anpassungsprozesses, bei den Neulingen Rumänien und Bulgarien sogar erst nach ihrem Beitritt im Januar 2007, begann die enttäuschte Öffentlichkeit zu verstehen, dass der EU-Beitritt nicht den Abschluss, sondern in vieler Hinsicht erst den Anfang der ökonomischen, sozialen und rechtlichen Transformation bedeutet. Man darf nicht vergessen, dass das BIP-Niveau von 1989/90 erst in den späten neunziger Jahren, im Allgemeinen erst um das Jahr 2000 wieder erreicht wurde. In Bulgarien und Rumänien blieb es sogar noch um 26 bzw. 20 Prozent zurück.4

Hinter den scheinbar beeindruckenden Zahlenkolonnen müssen wir aber überall auch die Kluft zwischen Politik und Wirtschaft und die damit verbundenen Unsicherheiten sehen. Es ging und geht um die Frage der Vergleiche – mit der Vergangenheit, mit den Erwartungen beim Systemwechsel und mit dem Lebensstandard im Westen. Etliche Meinungsumfragen, vor allem in Ungarn, aber auch in den von Arbeitslosigkeit und sozialen Einbrüchen besonders betroffenen Regionen Polens oder der Slowakei lassen eine Sehnsucht nach der scheinbaren Stabilität und trügerischen Gleichheit aus der Zeit des „realen Sozialismus“ erkennen, zumal auch die Erwartungen aus der Zeit der Wende vielfach enttäuscht wurden. Zahlreiche Arbeiter und Angestellte fühlen sich mangels funktionsfähigen und glaubwürdigen Gewerkschaften und Institutionen der Zivilgesellschaft dem Machtkartell der eingedrungenen Kapitalgesellschaften, der neuen Bourgeoisie und der obersten, oft aus der kommunistischen Zeit nahtlos übernommenen Staatsbürokratie schutzlos ausgeliefert. Die gähnende Kluft zwischen dem Lebensstandard im Westen und im Osten (mit der Ausnahme Sloweniens) ist kaum kleiner geworden: Im Jahr 2006 lag etwa Polen nach Kaufkraftparität bei 47 Prozent des EU-15-Durchschnitts, Ungarn bei 59 Prozent und Tschechien bei 70 Prozent. Wenn man den EU-25 Durchschnitt nimmt, ist das Bild für die beigetretenen Transformationstaaten freilich etwas günstiger, wohl aber auch irreführender.

Trotz der allgemeinen Steigerung der Lohnstückkosten dürfte für westliche Unternehmer auch in den kommenden 10 bis 15 Jahren ein Kostenvorteil bestehen. Die nach wie vor enorm große „schwarze“ Schattenwirtschaft und das Defizit in puncto Rechtsstaatlichkeit bilden fast überall den Nährboden einer besorgniserregenden Korruption. Der weltweite Transparency Index über 163 Staaten zeigt Ungarn auf dem 41. Platz, Tschechien auf dem 46. und die Slowakei auf dem 49. Platz, Bulgarien nimmt den 57., Polen den 62. und Rumänien gar den 88. Platz ein. Es fehlt nicht an Mahnungen und Belehrungen aus dem westlichen Europa, obwohl ohne die Mitwirkung der Export- und Finanzmanager der Großbanken und transnationalen Konzerne die gegenwärtige Dimension an bestochenen Politikern und Beamten kaum möglich gewesen wäre.

Ein besonders düsteres und politisch brisantes Kapitel bildet fast überall die fehlende Aufarbeitung der massiven Kollaboration der autochtonen Eliten mit den Nazis und den Kommunisten, mit Hitler-Deutschland wie der Sowjetherrschaft. Ganze Generationen erfuhren so gut wie gar nichts über die begeisterte und lukrative Kollaboration ihrer Eltern und Großeltern mit den deutschen Nazis beim Holocaust. Besonders belastend wirkt sich dabei bis heute die Diskreditierung der antifaschistischen Aufklärung durch die Jahrzehnte kommunistischer Propaganda aus.

Die Besinnung auf die nationale Identität hatte bei der Abwehr der Bolschewisierung im Zeichen des verpflichtenden Sowjetmodells eine Schlüsselrolle gespielt. Zugleich blieben aber in allen postkommunitischen Ländern, vor allem in Ungarn, Rumänien und Polen, aber auch in Lettland und Litauen die antisemitischen Stereotypen latent. Die seit der Wende herangewachsene neue Generation erliegt wegen der ausgebliebenen kollektiven Erinnerungsarbeit und des Versagens der katholischen und reformierten Kirchen relativ leicht den Verlockungen der Wortführer der populistisch-nationalen Bewegungen. Angesichts der Kriegserfahrungen in Serbien und Kroatien und der jüngsten Entwicklungen in Polen und Ungarn geht man kaum fehl, den ethnisch-völkischen Nationalismus als Hauptgefahr für die Stabilität und die Demokratie in Ostmitteleuropa zu betrachten.

Stabilisierte Instabilität

Wenn ein charismatischer populistischer Politiker an der Spitze einer bürgerlichen Partei oder einer linken Gruppierung eine breite Protestbewegung der „Verlierer der Globalisierung“ gegen das „Fremdkapital“, gegen die Globalisierung und gegen die Reformprogramme der politischen Rivalen mobilisiert, dann sei „höchste Vorsicht“ geboten – auch dann, wenn sie sich vom rechts-radikalen Rand abgrenzen, warnte kürzlich zu Recht die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovsky5 und bezog sich auf die Gründung der „Ungarischen Garde in Budapest“. Dem Beobachter, der die gespenstische Vereidigungszeremonie der ersten Mitglieder der neuen „Ungarischen Garde“ auf der Budapester Burg mit den abgewandelten faschistischen Emblemen auf ihren schwarz-weißen Uniformen, samt der Weihe ihrer Fahnen durch katholische, evangelische und reformierte Pfarrer, verfolgte und die Aufrufe zur Rettung des „physisch, seelisch und geistig“ tödlich gefährdeten Ungarntums auf der Webseite der Organisation las,6 fiel der Satz William Faulkners ein: „Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht einmal vergangen.“

Die im schwülstigen Stil angekündigte nationale Mission des vorderhand unbewaffneten Verbands im „Karpatenbecken“, dem jeder Ungar und jede Ungarin über 18 angehören kann, unabhängig davon, welche Staatsbürgerschaft er oder sie besitzt, hat in den Nachbarstaaten ein besonders starkes Echo ausgelöst. Die Pfeilkreuzler-ähnliche Ausrüstung verblüffte die Kommentatoren der Weltpresse und empörte die jüdischen Organisationen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden schätzungsweise zwischen 560 000 und 600 000 ungarische Juden und getaufte Christen umgebracht, vor allem 1944 durch Deportation nach Auschwitz. Die Schreckensherrschaft der von den Deutschen im Oktober 1944 eingesetzten Pfeilkreuzler kostete allein in Budapest mehr als 50 000 Juden das Leben. Rund 40 Prozent des Nationalvermögens wurde im Weltkrieg vernichtet; mehr als 900 000 Ungarn starben. Die Teilnahme auf der Seite Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg war also auch eine Tragödie des Ungarntums.

Auch die Vorgänge in der benachbarten Slowakei fügen sich in den Rahmen der Politik des Rückwärtsgangs. Die im Juli 2006 gebildete Regierung unter dem linkspopulisten Robert Fico versucht nicht nur die Wirtschaftsreformen der liberalen und international erfolgreichen Dzurinda-Regierung rückgängig zu machen. In einer Rede anlässlich des Jahrestags des Aufstands gegen die klerikal-faschistische, mit dem Dritten Reich verbündete Regierung verglich der wortgewandte Premier sogar den damaligen Faschismus mit der heutigen „Globalisierung, Liberalisierung und Privatisierung“. Nicht nur seine Wortwahl, auch sein Regierungsbündnis mit den extremen Nationalisten und der Rumpfpartei des diskeditierten früheren Ministerpräsidenten Vladimir Meciar passen kaum zum Image eines europamodernen Sozialdemokraten, das der - 43-jährige Anwalt der Welt präsentieren möchte.

Wenn man auch die politischen und persönlichen Machtkämpfe in Tschechien, Rumänien und Bulgarien samt der Pattsituation in Prag und Bukarest in Betracht zieht, kann man vielleicht am ehesten von einer stabilisierten Instabilität in den Transformationstaaten sprechen. Verglichen allerdings mit der Situation in Russland und Weißrussland wäre es unklug, die Fortschritte auf dem Weg zur funktionierenden Mehrparteiendemokratie und zur Marktwirtschaft zu unterschätzen. Vielleicht gelten auch für diese oft so verwirrenden Wandlungen die Worte Marcel Prousts: „Nichts ereignet sich so, wie wir es hoffen, noch so, wie wir es befürchten.“

Prof. Dr. PAUL LENDVAI, geb.1929 in Budapest, ist Publizist und Zeithistoriker. Er ist Chefredakteur und Mitherausgeber der Europäischen Rundschau. Seine jüngste Publikation: „Mein Österreich – 50 Jahre hinter den Kulissen der Macht“ (2007).

  • 1Zitiert aus Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, 1852.
  • 2Gazeta Wyborcza, 20.7.2007.
  • 3Vgl. den ausführlichen Bericht der Neuen Zürcher Zeitung, 29.8.2007, S. 13.
  • 4Siehe die Artikel der Ökonomen Bela Kadar, Antal Stark und Adam Török in Historia, 1, 3 und 7/2007, Historisches Institut der Akademie der Wissenschaften, Budapest.
  • 5Süddeutsche Zeitung, 27.8.2007.
  • 6www.magyargarda.hu.