Von Münster nach Damaskus
Für Syrien und Irak bietet der Westfälische Frieden hilfreiche Erkenntnisse
So wie der Dreißigjährige Krieg vor 400 Jahren Deutschland verwüstete, zerstören die Nahost-Kriege heute Syrien und den Irak. Der Westfälische Frieden, von Zeitgenossen als Weltwunder gepriesen, war ein komplexes und innovatives Vertragswerk. Wer heute in Nahost Frieden stiften will, kann sich davon inspirieren lassen.
Vor 400 Jahren entfachte der Dreißigjährige Krieg einen Flächenbrand in Europa. Städte und Landschaften wurden verwüstet; etwa ein Drittel der Bevölkerung, in manchen Gegenden sogar bis zu 60 Prozent, kamen ums Leben. Allein in Ulm, einer Stadt von 15 000 Einwohnern, suchten im Jahr 1634 etwa 8000 Flüchtlinge Schutz. Das entspricht im Verhältnis der Zahl der Flüchtlinge im heutigen Libanon. So erschreckend war das Ausmaß der Gewalt, dass der Krieg als erstes deutsches Trauma in die Geschichte einging, wie Herfried Münkler in seinem Opus Magnum „Der Dreißigjährige Krieg“ schreibt.
Schon auf den ersten Blick sind Parallelen zwischen den Ursprüngen des Dreißigjährigen Krieges und den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten erkennbar. In beiden Konflikten ist die Gemengelage durch die Verflechtung von religiösen und politischen Interessen sowie die Verzahnung von unterschiedlichen Konflikten und Akteuren vielschichtig und komplex. 1618 begann der europäische Krieg mit dem Prager Fenstersturz: Böhmische Adelige stießen die Statthalter ihres habsburgischen Landesherrn aus dem Fenster. In Syrien begann der Krieg ebenfalls mit einem Aufstand gegen den Machthaber, den Präsidenten Baschar al-Assad.
Im Herzen des europäischen Kontinents stritten im 17. Jahrhundert Frankreich und das Haus Habsburg um ihre wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einflusszonen. Weitere Regionalmächte wie die Schweden, die Osmanen und sogar die Engländer sahen in der Region ebenfalls ihre Interessen betroffen. Externe Mächte nutzten bald den innerdeutschen Konflikt aus, um den Aufstieg ihrer Rivalen zu regionaler Hegemonie zu verhindern.
Heute liefern die verschiedenen regionalen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere der Krieg in Syrien, Schauplätze für Stellvertreterkriege zwischen den Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran. Beide Staaten setzen alles daran, die hegemonialen Ambitionen des Anderen einzudämmen. Externe Mächte wie Russland und die USA verkomplizieren die Gemengelage.
Im Heiligen Römischen Reich des frühen 17. Jahrhunderts entschied Religion maßgeblich über den Zugang zu Macht. Deswegen wurden die konfessionellen Identitäten der Katholiken und Protestanten oft für eigene Zwecke instrumentalisiert. Heute heizen im Nahen Osten die religiösen Rivalitäten zwischen Sunniten und Schiiten die Konflikte weiter an. Ohne Berücksichtigung des „Faktor Religion“ ist kein Frieden möglich.
Innovative Instrumente
Zeitzeugen sprachen damals von einem Weltwunder. Dass der Westfälische Frieden nach 30 Jahren Krieg überhaupt geschlossen werden konnte, hatte mehrere Gründe. Obwohl es sich nicht um einen klassischen Erschöpfungsfrieden handelte – Frankreich und Spanien kämpften noch elf Jahre weiter –, war die Friedensbereitschaft im gesamten Heiligen Römischen Reich angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen massiv gewachsen.
Alle beteiligten Parteien sahen einen Gewinn darin, an den Verhandlungstisch zu treten. Beim Westfälischen Friedenskongress wurde ein gegenseitig garantierter Frieden ausgehandelt, der nicht nur durch unbedingten Friedenswillen, sondern auch durch die große Kreativität der beteiligten Diplomaten ermöglicht wurde. Innovative Instrumente trugen dazu bei, dass die drei Hauptkonflikte gelöst werden konnten. Um den Religionskrieg zu beenden, wurde ein „Normaljahr“ festgelegt, das den Status quo der religiösen Besitzstände von 1624 wiederherstellte. Die Reichsstände konnten fortan ihre Untertanen nicht mehr dazu zwingen, die Konfession zu wechseln. Eine gestufte Form der Religionsfreiheit wurde den Untertanen gewährt. Durch quasiparitätische Verhältnisse der beiden Konfessionen im Reichstag und den Reichsgerichten musste keine Seite mehr fürchten, an Einfluss zu verlieren.
Ein komplexes System von Mechanismen und Institutionen schränkte die Herrschaftsrechte des Kaisers und der Reichsstände ein, sodass im Gegensatz zum weit verbreiteten Mythos der „Westphalian sovereignty“ höchstens von einer konditionalen oder „Quasi-Souveränität“ die Rede sein kann. Der Frieden wurde von den externen Garantiemächten Frankreich und Schweden gesichert und für das Reich wurde ein System kollektiver Sicherheit geschaffen.
Ist es möglich und sinnvoll, aus dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden für den heutigen Nahen und Mittleren Osten Lehren zu ziehen? Der Westfälische Frieden bietet keine Zauberformel für die Beendigung der Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Eine genaue Analyse kann jedoch dabei helfen, die Strukturen vieler heutiger Konflikte besser zu verstehen und den Knoten der miteinander verbundenen Bündniskonstellationen und Feindschaften zu entwirren. Der ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat vom Westfälischen Frieden als einem Denkmodell für den Nahen Osten gesprochen, das dabei helfen könne, die richtigen Fragen an die Gegenwart zu stellen und Handlungsoptionen und deren mögliche Folgen zu illustrieren.
Der Westfälische Frieden ist jedoch mehr als nur ein Analysemodell. Er lehrt uns Hoffnung. Er zeigt, dass trotz großer Komplexität und langer Dauer eines Krieges Frieden möglich ist. Der Blick in das Friedensdokument lohnt sich, um aus den ungeahnt kreativen und unkonventionellen Friedensinstrumenten des 17. Jahrhunderts Lösungsansätze für die heutigen Konflikte zu finden.
Auf Initiative der Körber-Stiftung und des Forum on Geopolitics der Universität Cambridge haben im vergangenen Jahr Experten und Politiker aus dem Nahen Osten, Europa und den USA darüber diskutiert, welche Elemente aus dem Westfälischen Frieden als Inspiration zur Lösung der Konflikte im Nahen und Mittleren Osten und insbesondere in Syrien dienen könnten.
Der lange Weg zum Frieden
Zwischen dem Beginn von Friedensverhandlungen und dem Abschluss eines Friedensvertrags liegt ein langer Weg; diese Erfahrung haben nicht nur die Unterhändler in Westfalen machen müssen. Die Hürden, die es heute in Syrien zu nehmen gilt, sind zahlreich. Die konfessionellen Rivalitäten zwischen Sunniten und Schiiten werden für machtpolitische Zwecke missbraucht. Um die religiösen Konflikte zu beenden und eine friedliche Koexistenz der Konfessionen zu ermöglichen, sind ein inklusives gesellschaftspolitisches System und der Schutz religiöser und ethnischer Minderheiten essenziell. Zu den wohl schwierigsten Schritten wird gehören, alle Seiten dazu zu bringen, auf die Klärung der religiösen Wahrheitsfrage zu verzichten, wie es auch 1648 geschah.
Im frühen 17. Jahrhundert galt das Alte Reich als gescheitert. Heute handelt es sich beim Irak und Syrien um weitgehend gescheiterte Staaten ohne funktionierende Strukturen. Um Frieden in der Region zu gewährleisten, muss in diesen ehemals zentralistischen Staaten eine Form von Machtteilung eingeführt werden, in Gestalt einer föderalen Verfassung oder durch andere Dezentralisierungsmaßnahmen.
Doch damit ist der Kampf um die Vorherrschaft, der sich zwischen den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien auf syrischem Boden abspielt, noch nicht beendet. Die derzeitige Rhetorik seitens Riad und Teheran lässt eher vermuten, dass sich die Eskalation in den kommenden Monaten noch beschleunigen wird. Während Riad darüber klagt, dass sich der Iran vom Elburs-Gebirge über den Irak und Syrien als regionaler Hegemon bis ans Mittelmeer ausbreitet, hört man aus Teheran defensive Töne. Doch bei einem Blick auf die Präsenz der vom Iran gesteuerten schiitischen Milizen in Syrien, Irak und Libanon wird schnell deutlich, dass eine Konfrontation mit dem saudischen Gegner nicht ausgeschlossen ist.
Auch im Dreißigjährigen Krieg spielte die Angst vor der Hegemonie eines Gegners eine bedeutende Rolle. Dass die Parteien trotzdem zu Verhandlungen zusammenkamen, lag nicht an Kriegsmüdigkeit (die auch in Teheran und Riad trotz gewaltiger Kosten noch lange nicht vorhanden ist), sondern daran, dass sie sich von einem Frieden mehr als von dem Fortgang des Krieges erhofften. Die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden haben gezeigt, dass Vertrauen zwischen den Parteien keine Voraussetzung für den Frieden ist. Es geht vielmehr darum, die eigenen Interessen offenzulegen, rote Linien zu definieren und auf dieser Basis eine gemeinsame, für alle erträgliche Gesamtlösung auszuloten.
Als würden die regionalen Rivalitäten den Konflikt noch nicht genügend anheizen, liefert die Präsenz externer Akteure wie Russland und der USA auch noch Öl für das Feuer. Wer Moskau beim Kriegseintritt im September 2015 ein „russisches Vietnam“ vorhersagte, hat sich geirrt. Russland ist heute eine der wichtigsten Kräfte in Syrien und eine der größten Stützen des syrischen Machthabers Assad. Mit den Gesprächen in Astana und Sotschi hat Moskau gezeigt, dass ein Friedensprozess nicht vom Westen initiiert und vorangetrieben werden muss und die russische „convening power“ vielleicht sogar stärker ist.
Ob, wie von Außenminister Sergej Lawrow und seinem iranischen Amtskollegen versprochen, die Ergebnisse aus dem Astana-Prozess in den von den Vereinten Nationen geleiteten Genfer Prozess einfließen, wird sich noch zeigen. Die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, bei denen fünf Jahre lang separat im katholischen Münster und im überwiegend protestantischen Osnabrück diskutiert wurde, haben gezeigt, dass auch mit zwei Kongressorten ein gemeinsamer Frieden möglich ist. Wichtiger als nur an einem Ort zu verhandeln ist es, gemeinsame Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie ein gerechter Frieden aussehen kann. Auch der Westfälische Frieden ist am Ende nur zustande gekommen, weil die Unterhändler bereit waren, unerwartete Kompromisse einzugehen.
Russland hat sich durch seine Einmischung in Syrien als Weltmacht auf der globalen Bühne etabliert und trägt nun Mitverantwortung für die Zukunft Syriens. Wird Moskau deshalb auch einen Frieden in Syrien garantieren können? In den 150 Jahren nach dem Dreißigjährigen Krieg gewährleistete ein System regionaler und externer Garanten den Frieden von 1648. Entscheidend – und im Vergleich zu vorangegangenen Friedensschlüssen neu – war, dass nicht die mächtigsten oder die neutralen Akteure, sondern alle Unterzeichner des Vertrags den Frieden garantierten.
Jede Seite vermutete, dass die andere nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags wieder zu kämpfen beginnen würde, sobald sich die Lage als günstig erweisen würde. Deshalb war das Versprechen aller, den gesamten Vertrag und damit auch die Beschlüsse zu unterzeichnen, die sie selbst nicht direkt betrafen, so effektiv. Die protestantischen Fürsten erhielten die Zusicherung, dass im Falle erneuter religiöser Unterdrückung durch Kaiser und Katholiken die auswärtigen Garanten Frankreich und Schweden als Schutzmächte intervenieren würden. Frankreich hingegen wusste, dass es sich auf die anderen Garanten verlassen konnte, falls der Kaiser entgegen dem Wortlaut des Friedensvertrags Spanien im Krieg gegen Frankreich helfen würde.
Die Garantie war nicht nur für das Zustandekommen des Friedensvertrags entscheidend, sondern auch für die lange Dauer der Friedensordnung. Sie hielt Kaiser und Fürsten davon ab, eklatante Vertragsbrüche zu begehen, weil alle Seiten sich bewusst waren, dass dies eine Intervention von Frankreich und/oder Schweden zur Folge haben könnte. Damit überwachten auch die externen Garantiemächte Schweden und Frankreich die Machtausübung des Kaisers und der Reichsstände. Der Friedensvertrag wurde durch solche Festschreibungen zu einem der wichtigsten verfassungsrechtlichen Grundgesetze des Heiligen Römischen Reiches.
Heute stößt die Idee, die Souveränität eines Staates von außen einzuschränken, schnell auf Kritik. Sie ruft nicht nur postkoloniale Assoziationen hervor, sondern kann auch als Vorwand dienen, über die Verschiebung von Grenzen zu diskutieren. Und doch zeigt das Beispiel des Westfälischen Friedens, wie segensreich sich die kluge Ausgestaltung von Garantien auswirken kann. Die Staaten, die den Krieg in Syrien internationalisiert haben, könnten als Garantiemächte in die Zukunft Syriens eingebunden werden. Denn ohne Mitwirkung der regionalen und externen Akteure wird es keinen Frieden geben.
Elisabeth von Hammerstein ist Programmleiterin im Bereich Internationale Politik der Körber-Stiftung in Berlin und leitet das Projekt „Ein Westfälischer Frieden für den Nahen Osten?“
Dr. Patrick Milton ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und Research Affiliate am Forum on Geopolitics der Universität Cambridge.
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 75 - 79