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13. Sep 2012

Von Mäusen und Wählern

Die verrückten Wissenschaften der US-Wahlen

Die letzte Rede von Barack Obama hat Ihnen gefallen? Kein Wunder, er hat genau das gesagt, was Sie hören wollen. Dafür, dass der Kandidat das vorher schon weiß, sorgt eine ganze Armada von Wissenschaftlern. Ausgestattet mit dem modernsten Equipment sorgt sie dafür, dass US-Präsidentschaftswahlkämpfe schon lange nicht mehr das sind, was sie eigentlich sein sollten: eine Gelegenheit für die ganze Nation, über Ideen und Politik zu debattieren.

Jüngsten Umfragen zufolge scheint Barack Obama einen größeren Schub vom Nominierungsparteitag der Demokraten mitgenommen zu haben als Mitt Romney von dem der Republikaner. Obama hat seine Führung in den Meinungsumfragen und in einigen Swing States um ein paar Prozentpunkte ausgebaut, auf einen Vorsprung in der Größenordnung zwischen 2 und 6 Prozent, je nach Umfrage. In den kommenden drei Wochen dürfte sich der „Fernsehkrieg“ verschärfen. Die Kandidaten werden einander in TV-Werbespots mit Dreck bewerfen, die als „Meinungsraketen“ in den Wohnzimmern der Wähler in den besonders umkämpften Bundesstaaten einschlagen sollen, insbesondere in Ohio und Florida. Im Oktober folgen dann die drei landesweit übertragenen Fernsehdebatten.

Die amerikanische Politik war mal eher eine Kunst als eine Wissenschaft, bei der es stärker auf Intuition und Bauchgefühl ankam als auf das perfekte Ablesen von Redemanuskripten. Aber die verrückten Wahlkampf-Wissenschaften haben das gründlich geändert. Der amerikanische Reporter-Veteran Howard Kurtz hat kürzlich berichtet, wie Obamas Wahlkampfmanager die Rede des Präsidenten vom vergangenen Donnerstag ausgiebig vorab getestet haben und dabei auf eine Technologie zurückgegriffen haben, die sich „Dial meter groups“ nennt.

Das gleiche Verfahren wurde auch schon auf Obamas Rede zur Lage der Nation im Januar angewandt. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Art von Fokusgruppen, bei der potenzielle Wähler auf Knöpfchen drücken, um Zustimmung oder Ablehnung einer jeweiligen Passage der Rede zu signalisieren.

Wenn Fokusgruppen eine Art Stimmungsbarometer dafür sind, welche Wahlkampfbotschaften die Leute ansprechen und warum, dann sind die „Dial meter groups“ – auch „elektronische Fokusgruppe“ genannt – ihre Orwellsche Apotheose. Zunächst werden die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt, um bestimmten demografischen Kriterien zu entsprechen, zum Beispiel „Wechselwähler aus Ohio“ oder „Soccer-Moms aus Florida“. Dann werden sie in Säle gesetzt, um Reden oder politische Werbespots zu verfolgen und ihre Meinung zu dem auszudrücken, was sie sehen.

Jeder Teilnehmer hält ein „Perzeptionsanalysegerät“ in der Hand, eine Art Wahlscheibe, die man von rechts nach links zwischen null und hundert hin- und herdrehen kann. Wenn ein Teilnehmer voll und ganz dem zustimmt, was gerade auf dem Bildschirm gesagt wird, dreht er sie auf hundert; bei vollkommener Ablehnung stellt der Teilnehmer null ein. Jede Drehscheibe ist mit einem Computer verbunden, der die Reaktionen der Teilnehmer in Grafiken umwandelt, die dann hohe Ausschläge der Zustimmung oder Ablehnung und Langeweile abbilden. Das Wahlkampfteam kann durch „Dial meter groups“, die quer durchs Land miteinander verbunden sind, sofort feststellen, welche Botschaften positive Reaktionen bei den Labormäusen, d.h. Wählern, hervorrufen und welche durchfallen.

Diese „Dial meter groups“, die ursprünglich aus der Marketing-Technik kommen, sind heute Standard in praktisch allen Präsidentschaftsrennen und anderen wichtigen öffentlichen Wahlkampagnen. Selbst ein hervorragender Redner wie Barack Obama vertraut mittlerweile auf die Berater für die verrückten Wissenschaften und die Ergebnisse ihrer Forschungslabore. Es ist ein bizarres und erschreckendes Spektakel, sich vorzustellen, wie verdrahtete Menschen bei der Herstellung von Kampagnen-Raketen mithelfen, nur um dann via TV-Werbung selbst mit ihnen beschossen zu werden.

„Halt, wartet eine Minute“, werden da einige Vertreter des Status quo sagen. „Durch Meinungsumfragen und Fokusgruppen können Politiker die Wünsche und Bedürfnisse der Öffentlichkeit genauer erkennen und sich bemühen, sie zu erfüllen. Sind es nicht die neuen Technologien, die diese neue Sensibilität der Politiker möglich machen? Selbst die Anpassung an den Publikumsgeschmack ist doch letztlich eine Form der Sensibilität, oder?“

Doch diese Auffassung haben die Politikwissenschaftler Lawrence Jacobs und Robert Shapiro in ihrem Buch “Politicians Don’t Pander” (etwa: Politiker gehen nicht auf Wünsche ein) widerlegt. Jacobs und Shapiro zeigen, dass Politiker zwar in starkem Maße auf die neuen Wahlkampfmethoden vertrauen und daher vordergründig sensibel für die Wählerbedürfnisse zu sein scheinen. Tatsächlich aber benutzten sie diese Technologien nicht, um die Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen, sondern, um Worte und Phrasen zu finden, mit deren Hilfe sie Wähler manipulieren und an der Nase herumführen können. Diese kunstvoll designte Sprache (crafted talk, wie die Wissenschaftler es nennen) diene dazu, "Sensibilität zu simulieren", die Wähler zu täuschen und es den Kandidaten zu ermöglichen, ihre eigene Agenda zu verfolgen.

Mit anderen Worten: Die Politiker sind mit ihren eigenen Agenden beschäftigt, die wenig damit zu tun haben, was die Mehrheit der Wähler will, und sie benutzen “designte Sprache” und “simulierte Sensibilität”, um ihre Politikprodukte zu verkaufen. Idealerweise sollten Wahlkämpfe eine Gelegenheit für die ganze Nation sein, über Ideen, Politik und Grundsätze zu debattieren. Wahlkampfzeit sollte eine Zeit sein, in der die Wähler über Unterschiede in den Politikansätzen der Kandidaten und Parteien informiert werden und in der sie eine wohlüberlegte Entscheidung treffen, die letztlich den weiteren Weg der Nation bestimmt. Kurz, Wahlkampfzeit sollte eigentlich ein großer staatsbürgerlicher Moment sein: Die Besten und Klügsten des Landes kämpfen um Stimmen und Macht. 

Doch das ist es kaum, was in heutigen US-Wahlkämpfen stattfindet. Tatsächlich ist es in hohem Grade unwahrscheinlich, dass große amerikanische Präsidenten wie Franklin Roosevelt, Abraham Lincoln, Thomas Jefferson oder Teddy Roosevelt es heute ins Weiße Haus schaffen könnten, weil sie zu sehr leidenschaftliche Redner waren, um in das Format der heutigen Text-Häppchen-Kampagnen zu passen.

Wenn Sie sich also an einer Rede von Barack Obama begeistern, denken Sie daran: Die verrückten Wissenschaftler, die für ihn arbeiten, sind Spezialisten dafür, herauszufinden, was Sie gerne hören möchten. Und Obama ist, genau wie vor ihm Bill Clinton und George W. Bush, ziemlich gut darin, vom Teleprompter abzulesen.

STEVEN HILL ist Publizist in San Francisco. Zuletzt erschien von ihm „10 Steps to Repair American Democracy“(www.10Steps.net) und „Europe’s Promise: Why the European Way is the Best Hope in an Insecure Age“ (www.EuropesPromise.org).

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