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27. Mai 2024

Von der Verlogenheit vermeintlicher Friedensfreunde

Wenn Kanzler Scholz und andere führende deutsche Politiker darauf beharren, Deutschland dürfe bei aller notwendigen Unterstützung für die Ukraine auf keinen Fall „Kriegspartei“ werden, befestigen sie damit eine gefährliche Lebenslüge. Denn die Wahrheit ist: Wir befinden uns de facto längst im Krieg.

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Bild: Porträt Wladimir Putin im Mai 2024
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Es ist dies ein seltsamer Krieg: Er wird nur von einer Seite geführt, während die andere, die westliche, diese Realität nicht wahrhaben will. Tatsächlich greift Putins Russland das freie Europa zwar noch nicht mit Panzern und Raketen an. Doch seine hybride Kriegsführung gegen die demokratischen Gesellschaften, mit denen er sie unterminieren und sturmreif machen will, hat der Kreml in jüngster Zeit massiv verschärft.

Das beinhaltet den Aufbau weit gespannter Netzwerke zur Verbreitung von Desinformation, Cyberangriffe zum Absaugen von Informationen über Regierungseinrichtungen und kritische Infrastruktur, das Ausspionieren von Institutionen wie der Bundeswehr und nicht zuletzt die Anwerbung von Rechtsextremisten und Kriminellen für Sabotageakte in NATO-Staaten. Im April wurden in Bayreuth zwei mutmaßliche russische Saboteure festgenommen, die im Auftrag des Kremls US-Stützpunkte ausgespäht und Anschläge auf militärische Transportwege geplant haben sollen. Wie der britische Telegraph kürzlich unter Berufung auf Geheimdienstquellen berichtete, ging in den vergangenen sechs Monaten eine Reihe von Anschlägen in Westeuropa und den USA auf das Konto von Terroristen, die vom russischen Militärgeheimdienst GRU rekrutiert worden sind.


Drohende Ausweitung des Angriffskriegs

All dies deutet zwingend darauf hin, dass die Vorbereitungen für die Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf NATO-Territorium in vollem Gange sind – und dass zutrifft, was der US-Militärhistoriker Philipp Petersen kürzlich festgestellt hat: Es wurde im Kreml „bereits entschieden, dass das Baltikum angegriffen wird, sobald die Ukraine besiegt ist“. Im Gegensatz zu Westeuropa geht man in Polen und in den baltischen Staaten längst von dieser Voraussetzung aus, statt sich an die Hoffnung zu klammern, die Konfrontation mit dem Aggressor werde sich schon irgendwie wieder auflösen lassen – etwa durch „Verhandlungen“, zu denen sich Putin irgendwann gezwungen sehen werde. In scharfem Kontrast dazu betonte der estnische Generalstabschef Martin Herem jüngst die Dringlichkeit, sich für einen bevorstehenden russischen Angriff zu rüsten: „Russland kann konventionelle Gewalt gegen uns einsetzen. Wir müssen in der Lage sein, den Feind zu vernichten. Es nützt nichts, ihn weiter nur abschrecken oder davon überzeugen zu wollen, nicht anzugreifen.“ 

Tatsächlich erklären führende Repräsentanten des Kremls und des russischen Militärs ein ums andere Mal offen, dass sie den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine nur als die Auftaktschlacht ihres noch weit größeren Kriegszugs zur Zerstörung der demokratischen Zivilisation insgesamt betrachten. Putins Russland zielt auf nichts weniger, als im Bündnis mit China, Iran und Nordkorea die regelbasierte globale Ordnung im Ganzen zu zerschlagen, um sie durch das uneingeschränkte Recht des Stärkeren zu ersetzen. Nichts anderes als eine vollständige militärische Niederlage in der Ukraine kann es davon abhalten, auf diesem Weg voranzuschreiten. 

Wer angesichts der Dimension dieser Aggressionspläne weiterhin glaubt, westliche Zurückhaltung könne Russland von einer weiteren „Eskalation“ abhalten, hat den Charakter des putinistischen Herrschaftssystems noch immer nicht verstanden. Krieg und Zerstörung sind der einzige Daseinszweck und Legitimationsgrund dieses Regimes. Es stützt sich auf einen maßlosen Kult exzessiver Gewalt als den einzigen „Wert“, den es anerkennt, und auf den es die gleichgeschaltete russische Gesellschaft systematisch einschwört. In Riesenschritten vollzieht sich die Entwicklung der autoritären putinistischen Herrschaftsstruktur in ein vollendet totalitäres System – das sich nun auch eine pseudoreligiöse, messianistische Ideologie zugelegt hat. Sein aktuelles und künftiges Zerstörungswerk hat es sich jüngst von der russischen orthodoxen Kirche zum „Heiligen Krieg“ weihen lassen.


Ein historisches Versagen des Westens

Doch der Westen agiert immer noch so, als könne er von Russlands Kriegskurs unbehelligt bleiben, solange er den Kreml nur nicht zu sehr „provoziere“. Deshalb hat er es zugelassen, dass sich die Ende 2022 schwer angeschlagene russische Invasionsarmee wieder regenerieren und neu formieren konnte, statt die Ukraine durch angemessene Waffenlieferungen zu befähigen, ihre damalige Gegenoffensive erfolgreich zu Ende zu führen. Und daher lässt man es jetzt zu, dass die russische Vernichtungsmaschinerie mit ihren Terrorbombardements ganze Großstädte wie Charkiw nahezu unbewohnbar macht.

Dies stellt ein historisches Versagen der westlichen Demokratien in einem Ausmaß dar, das an die 1930er Jahre erinnert. Wie damals will man sich auch heute nicht eingestehen, es mit einem Feind zu tun zu haben, der sich nicht durch Konzessionen und Zurückhaltung beschwichtigen lässt, sondern der besiegt werden muss, um ihn von weiteren Untaten abzuhalten. „Eines der obszönsten und perversesten Elemente des Krieges gegen die Ukraine“, stellt dazu der Analyst Keir Giles vom Thinktank Chatham House fest, „ist die Art und Weise, wie es Russland von der Weltgemeinschaft erlaubt wurde, ihn zu führen. Die Welt – und der Westen – haben sich den von Moskau diktierten Spielregeln ergeben, nach denen Russland sichere Zonen gewährt werden, von denen aus es Raketenangriffe auf ukrainische Wohnhäuser starten kann, ohne sich um Gegenschläge sorgen zu müssen.“ 

Immerhin wollen nun offenbar zumindest Großbritannien und die USA endlich mit dem absurden wie fatalen Prinzip brechen, nach dem die Ukraine vom Westen gelieferte Waffen nicht gegen Ziele auf russischem Territorium einsetzen darf. Diese Bedingung zwingt die Ukraine bildlich gesprochen dazu, mit einer Hand auf dem Rücken gefesselt zu kämpfen. Dabei sind Schläge gegen die militärische Infrastruktur des Aggressors auch auf russischem Gebiet nicht nur völkerrechtlich völlig legitim, sondern auch eine zwingende militärische Notwendigkeit. Doch die Versorgung der Ukraine insbesondere mit für ihr Überleben dringend benötigten Luftabwehrsystemen geht noch immer viel zu zögerlich und schleppend voran.
 

Diskussion über Bodentruppen

Wenigstens aber spricht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron neuerdings aus, dass die bisherige westliche Reaktion auf Russlands Aggression unzureichend und verfehlt war. Statt sich selbst rote Linien zu ziehen und dem Aggressor immer wieder mitzuteilen, was man alles nicht tun werde, gelte es, so Macron zu Recht, ihn im Sinne strategischer Ambiguität über die eigenen Absichten im Unklaren zu lassen. In diesem Zusammenhang will der Präsident nicht ausschließen, dass die NATO Bodentruppen entsenden könnte, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Aber seine Einsichten verbleiben einstweilen im Bereich des Rhetorischen und Hypothetischen, denn weder hat Macron die bis dato äußerst spärlichen französischen Waffenlieferungen an die Ukraine signifikant aufgestockt, noch macht er Anstalten, dem bereits jetzt in äußerste Bedrängnis geratenen Land tatsächlich mit Soldaten zu Hilfe zu eilen. 

Dabei liegen längst detaillierte Vorschläge auf dem Tisch, wie NATO-Staaten die ukrainische Armee über die Versorgung mit Kriegsgerät hinaus aktiv unterstützen kann, ohne unmittelbar in Kriegshandlungen verwickelt zu werden. So erwägen baltische Regierungen, Truppen in die Westukraine zu entsenden, die Aufgaben der ukrainischen Streitkräfte im Hinterland übernehmen könnten, um mehr ukrainische Soldaten für den Einsatz an der Front freizusetzen. Denkbar ist darüber hinaus, dass angrenzende NATO-Länder ihre Luftabwehr in der Westukraine einsetzen, sodass ukrainisches Luftabwehrgerät in die unter massivstem russischem Beschuss stehende Region Charkiw verlegt werden kann.
 

Gespenstischer Europawahlkampf 

Wie wenig sich dagegen die deutsche Öffentlichkeit der existenziellen Bedrohung durch die russische Aggression nach wie vor bewusst ist, zeigt sich daran, dass dieses Thema im aktuellen Wahlkampf zur bevorstehenden Europawahl auf gespenstische Weise abwesend ist. Die demokratischen Parteien überlassen es weitgehend der „Friedens“-Demagogie der kremlhörigen Gruppierungen von rechts und links, die den Westen einseitig entwaffnen wollen. Und dabei nicht ohne Wirkung bleiben:  40 Prozent der Deutschen sprachen sich kürzlich in einer Umfrage dafür aus, die Ausgaben zur Unterstützung der Ukraine zu kürzen. 

Die Suche nach einer adäquaten Antwort auf die epochale Herausforderung durch den Putinismus wird hierzulande weiterhin durch Politiker wie den SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich blockiert, die den Krieg „einfrieren" wollen und dabei verschweigen, was dies bedeuten würde: die von Russland geraubten ukrainischen Gebiete bis auf Weiteres der mörderischen Willkür des Aggressors zu überlassen. Möglicherweise entspricht aber genau das sogar ihrem Kalkül. Man gewinnt den Eindruck, dass sich mancher Sozialdemokrat nach wie vor mehr um das Schicksal Russlands und die Rettung der deutsch-russischen Beziehungen sorgt als um die Existenz der Ukraine. 

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte „Zeitenwende" ist von einflussreichen SPD-Politikern wie Mützenich, Ralf Stegner und Michael Müller allenfalls zähneknirschend akzeptiert worden. Zwar beteuern sie in ihren Statements stets, Waffenlieferungen an die Ukraine zu befürworten. Doch fügen sie im selben Atemzug stereotyp hinzu, die Debatte dürfe nicht darauf „verengt" werden, und es müsse verstärkt nach „diplomatischen Lösungen" gesucht werden.

Dazu, wiederholen sie gebetsmühlenartig, müsse man enger mit China zusammenarbeiten – in der Annahme, die „Friedensinitiativen“ des Pekinger Regimes seien mehr als nur propagandistische Finten. Doch das ist eine Schönfärberei, die an die gegenüber Russland vor dem Februar 2022 erinnert. Denn weit davon entfernt, Russland von seinem Vernichtungskrieg abbringen zu wollen, agiert Peking in Wahrheit als graue Eminenz und Sponsor der antiwestlichen Kriegsachse Russland-Iran-Nordkorea. Hinter den Kulissen sorgt es dafür, dass sie ihren globalen Aggressionskurs gegen die demokratische Zivilisation mit voller Kraft vorantreiben kann. 


Kriegsunterstützer China

Zwar exportiert China keine Waffen für den Krieg gegen die Ukraine, dafür aber Vorprodukte und Maschinen, mit denen sich Waffen bauen lassen.Es ist chinesische Waffen- und Dual-Use-Technologie, die Russlands Kriegsmaschine am Laufen hält und dem Kreml die massive Aufrüstung für den von ihm bereits fest eingeplanten Krieg gegen die NATO ermöglicht. Chinesische Bauteile finden sich auch in den iranischen Drohnen, die Moskau für sein Terrorbombardement gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur einsetzt – und die vom Iran kürzlich auf Israel abgefeuert wurden. Nicht nur Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die volle Rückendeckung des Xi-Regimes, sondern auch die verschärfte Aggression Teherans sowie seiner Stellvertretertruppen Hamas und Hisbollah gegen den jüdischen Staat. 

Doch die deutsche Regierung ist weit davon entfernt, ihrer Bevölkerung über diese globale Dimension der Bedrohung reinen Wein einzuschenken. Mit seiner kategorischen Weigerung, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern, weil dies Deutschland angeblich zur „Kriegspartei" machen würde, versucht Kanzler Scholz, die SPD vor der Europawahl sowie den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg als „Friedenspartei" zu präsentieren, die als einzige verhindern könne, dass Deutschland in einen Krieg „hineingezogen" werde. Im Zuge dieser Wendung erfährt auch der Kreml-Einflussagent Gerhard Schröder eine implizite Wiederaufwertung durch die SPD-Spitze.


Scholz‘ Rekurs auf Schröders Irak-Manöver

Denn Scholz hat sich dabei explizit auf das Manöver Gerhard Schröders berufen, der 2002 einer deutschen Teilnahme am Irak-Krieg eine lautstarke Absage erteilte – bevor sie überhaupt von irgendjemandem angefragt worden war. Dass der damalige Kanzler dergestalt eine Kriegsbeteiligung Deutschlands abgewendet habe, gilt in der deutschen Öffentlichkeit noch immer als eine Heldentat für den Frieden. Dabei hätte es damals genügt, wenn Schröder eine etwaige Aufforderung der USA, deutsche Soldaten in den Irak zu schicken, abschlägig beschieden hätte. Doch er ging viel weiter und verbündete sich nicht nur mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac, sondern auch mit Wladimir Putin, um in den Vereinten Nationen aktiv gegen die USA Front zu machen – während Russland gleichzeitig einen Vernichtungskrieg in Tschetschenien führte. Mit dieser Allianz begann Schröders korrupte Liaison mit Putin, die Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit vom russischen Energie-Imperialismus führen sollte.

Kritische Debatten über seine Zögerlichkeit bei der militärischen Unterstützung der Ukraine hat Olaf Scholz als „lächerlich" abzutun versucht. Tatsächlich aber basiert sein chronisches Zaudern auf der fatalen Fehleinschätzung, die Angriffsenergie des Aggressors werde früher oder später erlahmen und Moskau sich dann kompromissbereit zeigen. Deshalb reiche es aus, der Ukraine gerade so viel Kriegsgerät zu liefern, dass sie sich für kommende Verhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition verschaffen könne. Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter mutmaßte kürzlich sogar, Scholz spiele auf Zeit, bis sich die Ukraine zur Abtretung von Teilen seines Territoriums bereit erklären werde. Abwegig ist diese Annahme angesichts des bizarren Verhaltens des Regierungschefs leider nicht.


Steinmeiers Verhöhnung von „Kaliberexperten“

Ganz in der süffisanten Tonart des Kanzlers hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich Scholz-Kritiker öffentlich als „Kaliberexperten“ verhöhnt, die „mit Ausgelassenheit und mit wachsendem Ehrgeiz“ die Lieferung immer weiterer Waffensysteme verlangten. In dieser Äußerung schwang die infame Unterstellung mit, die Befürworter einer konsequenten militärischen Unterstützung der Ukraine fänden Vergnügen an der Beschäftigung mit Waffen und Krieg.

Zwar hat der Bundespräsident seine Formulierung inzwischen bedauert. Doch in seiner abschätzigen Äußerung über die „Kaliberexperten“ kam wieder der „alte“ Steinmeier der Zeit vor dem russischen Überfall auf die ganze Ukraine zum Vorschein, der als Außenminister anlässlich des NATO-Manövers 2016 in Osteuropa den Westen davor gewarnt hatte, „durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen“. Es hat sich daran gezeigt, wie wenig tief die zaghafte Selbstkritik greift, die von den verantwortlichen deutschen Politikern angesichts ihrer jahrzehntelangen verheerenden Russland-Politik geübt wurde.

Die Front der Kräfte, die die Forderung nach verstärktem militärischem Beistand für die Ukraine als einen Ausdruck von Kriegslüsternheit zu diskreditieren versucht, ist nicht auf offen prorussische Parteien wie die AfD beschränkt, die mit immer größerer Unverfrorenheit als landesverräterische Einflussagentur der russischen, aber auch der chinesischen Diktatur auftritt. Auch das nicht weniger kremlaffine linksnationalistische „Bündnis Sahra Wagenknecht“ ist intensiv bemüht, die Widerstandsbereitschaft der deutschen Gesellschaft gegen totalitäre Aggressoren zu unterminieren. Dazu werden eifrig Propagandalügen aus der Faktenfälscherwerkstatt des Kremls verbreitet. Etwa die, zwischen Russland und der Ukraine habe es bereits kurz nach der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 eine Einigung über die Beilegung des „Konflikts“ gegeben, deren Umsetzung jedoch von Washington und London vereitelt worden sei.


Defätismus für die Mitte

Doch während diese extremen Parteien die antiwestlichen Ressentiments von Milieus anstacheln, die zwar im Wachsen begriffen, gesamtgesellschaftlich aber noch nicht mehrheitsfähig sind, liefern prominente etablierte Autorinnen und Autoren eine Art Lightversion des antiukrainischen Defätismus für die „gemäßigte“, „progressive“ Mitte.

Dabei verrät bereits die Wortwahl, mit der sie über die Realität eines genozidalen Vernichtungskriegs in Europa reden, wie wenig sie das Schicksal von deren Opfern berührt. So meinte die Schriftstellerin Juli Zeh in einem Interview kürzlich: „Bei allem anerkannten Bedürfnis der Ukraine, sich gegen den russischen Aggressor zu verteidigen, darf man die Eskalationsgefahr nicht aus dem Blick verlieren.“ Welch eine kalte Herablassung spricht aus dieser gönnerhaften „Anerkennung“ des „Bedürfnisses“ der Ukrainerinnen und Ukrainer, sich nicht kampflos abschlachten, foltern, vergewaltigen oder zur „Umerziehung“ nach Russland verschleppen zu lassen. Und von welcher sprachlichen Verwilderung zeugt es, das Recht der Ukrainerinnen und Ukrainer auf Leben und Menschenwürde zu einem „Bedürfnis“ herunterzustufen.

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, der auch in den gebildeten Kreisen Deutschlands über hohe moralische Autorität verfügt, verstieg sich kürzlich zu der Aussage, es sei zwar „unappetitlich“, dass „jetzt Menschen aus dem fernsten Sibirien sterben müssen für das heilige Russland“, es sei aber, „mit Verlaub (…) genauso unappetitlich, wenn man den Ukrainern unterstellt, sie müssten siegen. Es gibt keinen Sieg dort. Es sterben einfach jeden Tag mehr Leute.“

Abgesehen von der Blasiertheit, die in Muschgs Bezeichnung der von den russischen Machthabern betriebenen Blutmühle als „unappetitlich“ zum Ausdruck kommt – er entmündigt in diesem Satz die Ukrainer, indem er suggeriert, es sei der Westen, der ihnen abverlange, siegen zu „müssen“.  Dahinter steckt die Suggestion, die Ukrainer würden vom Westen ebenso verheizt wie periphere Völker der Russischen Föderation vom Kreml.


Prantls pastorale Selbstgefälligkeit

Besonders selbstgefällig wirken jedoch die Plattitüden des Journalisten Heribert Prantl, der sich in einem neuen Buch über eine angebliche „Militarisierung“ der politischen Debatte in Deutschland beklagt. In diesem Sinne empörte er sich jüngst in einem Gespräch im SWR über das Diktum von Verteidigungsminister Boris Pistorius, angesichts der Bedrohung durch Putins Russland müsse die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden. Das, dozierte Prantl im pastoralen Timbre einer Gardinenpredigt, entspreche jedoch nicht dem Auftrag der deutschen Streitkräfte – dieser bestehe vielmehr in der Friedenssicherung. Wobei er jedoch im selben Atemzug konzedierte, dass wir natürlich verteidigungsfähig sein müssten und eine Bundeswehr brauchten, „die funktioniert“.  

Doch wie soll eine Armee ihr Land gegen einen möglichen Angriffskrieg verteidigen, ohne kriegstüchtig zu sein? Und wie sollen die Demokratien den Frieden in Europa sichern, wenn sie nicht bereit und fähig sind, einen Aggressor rechtzeitig zu stoppen, der mit äußerster Brutalität die Friedensordnung auf dem Kontinent bricht und sie vollständig zerstören will?
 

Einen noch größeren Krieg verhindern

Statt sich diesen Fragen zu stellen, ergeht sich Prantl in weihevollen Ermahnungen, man müsse sich an das Gebot des Grundgesetzes halten, dem Frieden in der Welt zu dienen, und sich dabei fragen: „Wie geht das Friedenstiften?“ Genau dazu aber hat Prantl mit seinem wirren Räsonnement nichts beizutragen. Es bewegt sich im luftleeren Raum hehrer Abstraktionen und weicht geradezu starrsinnig einer Auskunft darüber aus, wie dem bereits in vollem Gange befindlichen völkermörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine anders begegnet werden soll als durch entschiedene Gegengewalt und die entsprechende Mobilisierung dafür. Statt seine Forderung, Friedfertigkeit zu erlernen, an den Aggressor zu richten, der den Krieg nicht nur mit exzessiver mörderischer Gewalt betreibt, sondern auch in maßloser Weise verherrlicht, behelligt er damit ausgerechnet jene, die nichts anderes wollen als in Frieden gelassen zu werden, und die gegen ihren Willen von einer bösartigen Macht wieder mit dem Krieg konfrontiert werden. 

Doch wer klar ausspricht, dass wir im Krieg sind, tut dies nicht, wie verlogene vermeintliche Friedensfreunde in denunziatorischer Absicht unterstellen, weil er oder sie sich Krieg wünschte. Sondern im Gegenteil, weil diese realistische Einschätzung die Voraussetzung dafür ist, einen noch viel größeren Krieg zu verhindern. Manès Sperber, der große antitotalitäre Schriftsteller und humanistische Denker, hat in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenpreises des Deutschen Buchhandels 1983 im Blick auf die sowjetische Bedrohung das Dilemma der friedliebenden Demokratien auf den Punkt gebracht: „Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online Exklusiv, 27. Mai 2024

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