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01. Mai 2005

Vom Umgang mit der Europa-Malaise

Frankreichs Europa-Politik nach dem Verfassungsreferendum

Meinungsumfragen zufolge lehnt eine Mehrheit der Franzosen die EU-Verfassung ab. Doch auch nach einem „Nein“ im Referendum wird sich Paris nicht als Gestaltungsmacht aus der EU zurückziehen wollen. Betrachtet man die Ablehnungsgründe und die Konstanten der französischen Außenpolitik, könnte Frankreich die EU-Partner nach einer Denkpause sogar zu einem neuen Sprung nach vorn drängen.

Am 29. Mai könnte die EU-Verfassung in Frankreich scheitern. Die innerfranzösische Debatte im Vorfeld der Volksabstimmung ist mindestens ebenso heftig wie die um den Vertrag von Maastricht und die Währungsunion – obgleich der Integrationsschritt 1992 in der Substanz weitreichender war als die EU-Verfassung es heute ist.

Längst wird die EU in Frankreich von der breiten Masse der Bevölkerung nicht mehr uneingeschränkt begrüßt, sondern zunehmend als Bedrohung der französischen Identität und Eigenständigkeit wahrgenommen. Ende Mai wird sich der angestaute Missmut der Bevölkerung entladen in einem möglicherweise mehrheitlichen „Nein“ zum Verfassungsvertrag. Egal wie das Referendum tatsächlich ausgeht – die manifeste Europa-Krise im Gründungsland Frankreich, Deutschlands verlässlichstem Partner seit den Römischen Verträgen und mit ihm Motor der friedenssichernden Integrationsschritte auf unserem Kontinent, wird die Bundesrepublik nicht unberührt lassen. Denn die französische Europa-Politik und das Verhalten gegenüber dem Nachbarland Deutschland wird die Vorbehalte der Franzosen gegenüber der Integration berücksichtigen müssen.

Ein kurzer Rückblick

Nach dem historischen Verhandlungserfolg des Vertrags von Maastricht begann Frankreich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, europapolitisch immer zögerlicher zu werden. Der Streit 1999 über die Agenda 2000 und die zähen und durch die französische Ratspräsidentschaft schlecht moderierten Verhandlungen beim Nizza-Gipfel im Dezember 2000 sind zwei Beispiele dafür, dass Frankreich nach dem Vertrag von Maastricht zu einem immer schwierigeren Partner wurde, wobei das Land natürlich nicht die alleinige Schuld an den Problemen trug.

Ein Grund für Frankreichs Zögern war das Nebeneinander der Links-Regierung unter Premierminister Lionel Jospin mit dem neogaullistischen Staatspräsidenten Jacques Chirac seit 1997. Zwar waren sich Präsident und Premier weitgehend einig, wie die EU sich entwickeln sollte. Doch die Rivalität beider Männer, die sich 2002 im Präsidentschaftswahlkampf gegenüber standen, verhinderte jede Initiative, aus der der jeweils andere einen politischen Nutzen hätte ziehen können.

2002 waren die Hoffnungen groß, dass Frankreich nach dem Ende der „Cohabitation“ wieder ein aktionsfähiger und handlungswilliger Partner in der EU werden würde.1 Das erhoffte Ende der „Cohabitation“ kam: Jacques Chirac regiert seit Juni 2002 mit einer konservativen Regierung, die sich auf eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament stützt. Doch Paris ist nicht in jeder Hinsicht ein umgänglicherer Partner in der Europa-Politik geworden.

Die Bilanz nach knapp drei Jahren der zweiten Präsidentschaft Chiracs ist sehr gemischt: Einerseits unterstützt Frankreich gemeinsam mit der Bundesrepublik ohne Vorbehalte den vom Konvent erarbeiteten Verfassungsentwurf. Andererseits setzt Paris seine wirtschaftspolitischen Interessen immer rücksichtsloser gegen gemeinsame EU-Regeln durch: etwa die wiederholte Verletzung der Neuverschuldungsgrenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts durch eine voluntaristische Fiskalpolitik2 und die  gemeinsam mit Deutschland forcierte Reform des Paktes, der Kampf um die staatliche Rettung des angeschlagenen Alstom-Konzerns gegen die EU-Kommission oder zuletzt im April 2005 der erfolgreiche Protest gegen die Bolkestein-Direktive zur Liberalisierung des europäischen Dienstleistungssektors.

Lehnt Frankreich die Verfassung ab, hätte dies allerdings eine gänzlich andere Qualität: In nie dagewesener Form würde die Bevölkerung dem Präsidenten und der Regierung ihre Zustimmung zu einem historischen Integrationsschritt verweigern. Bei der Verfassung ebenso wie bei der Befürwortung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wollte Jacques Chirac politische Führungsstärke beweisen – doch es gelang ihm nicht, die Bevölkerung mitzunehmen. Was ist los in Frankreich?

Innere Krise

Frankreich durchlebt eine politische und soziale Krise.3 Als der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen am 21. April 2002 durch eine massive Protestwahl in die Endausscheidung der Präsidentschaftswahl katapultiert wurde, kam darin zum Ausdruck, wie groß die Unzufriedenheit mit der Politik, die Angst vor sozialer Misere, die Sehnsucht nach Orientierung und nach sozialer wie innerer Sicherheit wirklich ist.4

Die Franzosen scheinen keine Zukunftsvision mehr zu haben. Politische Projekte – inklusive der europäischen Integration – begeistern sie nicht mehr.5 Gleichzeitig haben die politischen und technokratischen Eliten kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung. Das Vertrauen in das politische Establishment ist zerrüttet – und es konnte auch nicht mit dem Versuch einer bürgernahen Politik durch Hoffungsträger Jean-Pierre Raffarin wieder aufgebaut werden. Dies hat das schlechte Abschneiden der UMP bei den Regional- und Europawahlen im Jahr 2004 und der von Umfragen dokumentierte Zustimmungsverlust gezeigt.

Noch Ende der neunziger Jahre konnte Frankreich in einer kurzen, aber starken Wachstumsphase erfolgreich die Arbeitslosigkeit senken. Die Regierung Jospin verwirklichte bei linker Rhetorik und symbolstarken Einzelmaßnahmen (wie der Einführung der 35-Stunden-Woche) gleich-zeitig liberale Reformschritte (etwa die Privatisierungen). Doch 2001 schlitterte auch Frankreich in eine Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit stieg 2005 erstmals wieder über die symbolische Zehn-Prozent-Marke.

Gleichzeitig erfordert die Umsetzung von EU-Entscheidungen, etwa zur Liberalisierung des Strommarks, Reformschritte, durch die viele Franzosen ihr Wirtschafts- und Sozialsystem in seinen Grundfesten bedroht sehen. Hinzu kommt die Wahrnehmung, dass durch „Brüssel“ und den durch die Globalisierung gestiegenen Wettbewerbsdruck (wirtschafts-) politisches Handeln unmöglich geworden ist. Eine Nation, die die Gestaltungskraft der Politik traditionell sehr hoch hält, muss dies als Übergriff empfinden, gegen den es sich zu wehren gilt.

Dieser Hintergrund hilft bei der Einordnung der französischen Verfassungsdiskussion. Seit der Ankündigung des Referendums durch Präsident Chirac haben die Befürworter kontinuierlich an Boden verloren, und das obwohl die beiden größten französischen Parteien, die neogaullistische UMP und die Sozialistische Partei den Vertrag unterstützen. Am 17. März zeigte eine Umfrage (CSA/Ifop) zum ersten Mal die Verfassungsgegner mit 51 Prozent in der Mehrheit. Seither hat sich das „Nein“ bei 54 bis 55 Prozent stabilisiert. Das spanische Referendum vom 20. Februar mit 77 Prozent Zustimmung hatte keine Wirkung auf die Stimmung in Frankreich.

Zum Nein-Lager gehören zum einen die traditionellen Integrationsgegner, die die Verfassung und jeden weiteren Integrationsschritt ablehnen. Diese „Nein-Nein-Sager“ stellen die nationale Souveränität über die europäische Integration und fordern seit langem einen Rückgang der Integration. Zu diesem Lager gehören extreme Rechte wie der Front National von Jean-Marie Le Pen und das Mouvement National Bruno Mégrets, aber auch gemäßigte Rechte, wie Nicolas Dupont-Aignan, Chef der souveränistischen Strömung Debout la République in der Regierungspartei UMP, oder auch das Rassemblement pour la France et de l’Indépendance de l’Europe von Charles Pasqua. An erster Stelle ihrer Propaganda gegen die Verfassung steht der Türkei-Beitritt zur EU. Obgleich kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem möglichen Beitritt und der Verfassung besteht, machen sich viele Verfassungsgegner die Ängste der Bevölkerung vor einer großen, unüberschaubaren und nicht mehr steuerbaren EU zunutze, um die Ablehnungsstimmung zu schüren.

Proeuropäisches Nein

Die einflussreichste Stimme unter den Gegnern sind aber die „Nein-Ja-Sager“. Sie werben für ein „Nein“ zur Verfassung, weil nur so eine „andere“, bessere Union als sie der Verfassungsvertrag entwirft, verwirklicht werden könne – ein Phänomen, das es im Vorfeld der Maastricht-Abstimmung in dieser Form nicht gegeben hat, da die Souveränisten den Ton angaben.6 Die „Nein-Ja-Sager“ kommen vor allem aus dem linken Lager, etwa aus der Parti Socialiste, der Parti Communiste, den Grünen7 und werden von dem Antiglobalisierungsbündnis Attac unterstützt, das sich erstmals in einer Referendumskampagne zu Wort meldet. Ihr Hauptkritikpunkt ist die ihrer Ansicht nach fehlende soziale und wirtschaftspolitische Dimension im Verfassungsvertrag, etwa ein europäischer Mindestlohn, eine EU-weite Steuerharmonisierung oder die Verpflichtung der EZB auf Wachstums- und Beschäftigungsziele.8 So kommt ein „konstruktives Nein“ zur Verfassung, bei einem gleichzeitigen „Ja“ zu mehr Europa zustande.

Beim „Nein-Ja“ verbinden sich zwei Diskussionsstränge: Da ist zunächst die Furcht vor einem Übergriff auf das französische Wirtschafts- und Sozialsystem, ausgedrückt in der Ablehnung der Globalisierungsdiskussion und eines neoliberalen Europas, die die soziale Sicherung à la française zerstören könnten. Hinzu kommt der Vorbehalt gegen die jüngste Erweiterung der EU, die Sehnsucht nach einem kleinen, überschaubaren Europa und einer großen Steuerungskraft aus Paris. Die Osterweiterung, die der frühere Staatspräsident François Mitterrand noch durch die Schaffung einer „europäischen Konföderation“ verhindern oder zumindest aufschieben wollte, bleibt in Frankreich unverdaut. Dies wird umso deutlicher, als die finanziellen Kosten, der wachsende Wettbewerbsdruck auf Unternehmen und das politische System und der Einflussverlust Frankreichs langsam absehbar werden.

Diese inhaltlich linke Argumentation zur EU vermischt sich natürlich mit innenpolitischen Kalkülen.9 Vor allem die Unzufriedenheit mit der Regierung Raffarin und ihrer Liberalisierungs- und (wenn auch zögerlichen) Reformpolitik spielt hier eine Rolle. Diese ist gepaart mit einem tief sitzenden Revanchewillen derjenigen Linken, die bei der letzten Präsidentschaftswahl in der Stichwahl zwischen dem neogaullisten Chirac und dem rechtsextremen Le Pen für Jacques Chirac gestimmt haben. Dennoch hat die „Nein-Ja-Kampagne“ dazu geführt, dass es in Frankreich salonfähig – wenn nicht in manchen Lagern sogar politisch wünschenswert – erscheint, den Verfassungsvertrag abzulehnen. Dazu haben auch namhafte Politiker wie Ex-Premier Laurent Fabius mit seinem Appell an das politische Verantwortungsgefühl der Bürger beigetragen.

Folgen des „Neins“

Lehnt Frankreich am 29. Mai die Verfassung ab, könnten drei Tage später auch die Niederländer „Nein“ sagen. Regierungen anderer Staaten, insbesondere die britische, könnten dar-aufhin ihre Referenden absagen. Der erste Versuch, die europäischen Verträge in einem offenen Prozess weiterzuentwickeln und demokratisch zu legitimieren, wäre gescheitert. Die Verfassung wäre tot.

Fiel bei früheren Referenden ein EU-Vertrag in einem Land durch, wurde er mit nationalen Ausnahmeregeln für einzelne Politikbereiche nachgebessert und den Wählern erneut vorgelegt. Auf diese Weise bekam Dänemark 1992 im Zuge der Maastricht-Ratifikation sein Opt-Out aus der Währungsunion. Die Iren ließen im Herbst 2001 den Nizza-Vertrag durchfallen und erhielten daraufhin eine Ausnahmeregelung für die GASP, in der Irlands militärische Neutralität anerkannt wurde.10

Der Verfassungsvertrag reformiert aber im Gegensatz zu den Verträgen von Maastricht und Nizza vor allem Institutionen und Entscheidungsverfahren und dehnt weniger die Zuständigkeit der EU auf weitere Felder aus. Es gibt daher keine offensichtlichen Ansatzpunkte für Ausnahmeregeln.

Noch unwahrscheinlicher ist, dass sich die nun 25 Staaten auf einen neuen Vertrag einigen können, der die nationalen Referenden im zweiten Anlauf unbeschadet übersteht. Die gültige Vertragsgrundlage der EU bliebe also der Nizza-Vertrag, der den Verfassungskonvent erst politisch erforderlich gemacht hat. Mit Nizza bliebe die EU mit 25 Mitgliedern nach innen politisch schwerfällig und vergäbe die Chance, ihre internationalen Interessen effektiv durchzusetzen. Damit können viele Länder, einschließlich Frankreichs, nicht zufrieden sein.

Für die Führungsspitze in Paris wäre ein „Nein“ ein enormer politischer Rückschlag. Innenpolitisch wäre damit zu rechnen, dass Premierminister Raffarin abgelöst wird. In der Parti Socialiste hätte Parteichef François Hollande, der die Verfassung befürwortet, deutlich an Gewicht gegenüber seinen Stellvertreter Fabius eingebüsst; er würde wohl zurücktreten. Die außenpolitische Kompetenz läge bis 2007 nach wie vor in den Händen Chiracs, dessen vorzeitiger Rückzug aus dem Präsidentenamt höchst unwahrscheinlich ist. Allerdings schrumpfen mit einem „Nein“ seine Chancen, 2007 als einziger Präsidentschaftskandidat für die UMP ins Rennen zu gehen. Zudem müsste er sich bis zu den Wahlen mit einer Sozialistischen Partei auseinander setzen, die seine Europa-Politik stärker kritisiert als bisher. Dies erhöht die Chancen, dass sich Chirac die Argumente der „Nein-Ja-Sager“ stärker zu Eigen macht.

In der EU hätte er allerdings zunächst einen sehr schwierigen Stand.11 Welche Glaubwürdigkeit hat ein Staatschef, dessen Bevölkerung eine Verfassung ablehnt, die er selbst uneingeschränkt unterstützt? Um sich aus dieser Starre zu lösen, könnte Frankreich nach einer längeren Denkpause die Flucht nach vorn antreten. Ein aktiver Versuch, mit ausgewählten EU-Partnern politische Prioritäten Frankreichs zu verwirklichen, wäre eine logische Konsequenz aus dem „Nein“, hinter dem sich der Wunsch nach einer politisch starken EU verbirgt. Welche Schritte dies sein könnten, ergibt sich, wenn man die Gründe für die Ablehnung der Verfassung vor dem Hintergrund Frankreichs europapolitischer Konstanten reflektiert.

Für ein sozialeres Europa

Frankreich hat stets dafür gekämpft, dass die EU und insbesondere die Europäische Währungsunion mehr sind als ein gemeinsamer Markt mit einer gemeinsamen Währung. So forderte Frankreich bei den Maastricht-Verhandlungen die Einrichtung eines „Gouvernement économique“, einer Wirtschaftsregierung, die das politische Gegengewicht zur Europäischen Zentralbank (EZB) darstellen sollte. Frankreich akzeptierte zwar die EZB in ihrer Unabhängigkeit. Doch ist es vielen Spitzenpolitikern noch immer ein Dorn im Auge, dass sie vor allem auf den Erhalt der Preisstabilität verpflichtet ist. Aus Paris kommt daher regelmäßig die Forderung, die EZB auch auf die Förderung von Wachstum und Beschäftigung festzulegen.

Zwar ist eine Reform der EZB-Statuten derzeit keine realistische Option. Frankreich könnte aber seine EU-Partner drängen, die wirtschafts- und sozialpolitische Komponente in der EU weiter zu stärken. Dies stünde in der Tradition französischer Europa-Politik – und würde einige Vorbehalte der „Nein-Ja-Sager“ zerstreuen.

Eine nahe liegende Ländergruppe für eine derartige Initiative wären die Mitglieder der Eurozone, sofern es dem nach einem „Nein“ politisch geschwächten Frankreich gelänge, die anderen elf Mitglieder von einer gemeinsamen Initiative zu überzeugen. Mit Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern sind hier die Gründungsstaaten der EG versammelt. Mit dabei sind zudem Spanien, Portugal, Finnland, Griechenland, Österreich und Irland, die wohl allesamt die Verfassung ratifizieren werden. Die zwölf Länder sind de facto Mitglieder derselben Volkswirtschaft. Nicht nur deren Auflösung, auch ein Verlust ihrer Glaubwürdigkeit wäre mit hohen wirtschaftlichen und politischen Kosten verbunden. Sie müssten also ein großes Interesse haben zu retten, was zu retten ist. Zudem verfügen zumindest die Wirtschafts- und Finanzminister über sehr intensive Kooperationserfahrung in der Eurogruppe, einem Gremium, das Frankreich als Vorläufer eines Gouvernement économique weiterzuentwickeln versuchen könnte.

Für ein „Europe puissance“

Es gehört weiterhin zu den traditionellen Zielen französischer Außenpolitik, seinen eigenen internationalen Rang, seine Unabhängigkeit und seine Einflussmöglichkeiten zu erhalten. Dies ist aus französischer Sicht vor allem in einer multipolaren Weltordnung zu erreichen. Seit den siebziger Jahren ist sich Frankreich zudem bewusst, dass es diese Ziele nur durch ein starkes Europa verwirklichen kann.12 Auch jenseits des Zieles einer Aussöhnung mit Deutschland und einer gewissen Kontrolle über den Nachbarn war Europa immer das entscheidende Forum, in dem Frankreich seine Interessen durchzusetzen versuchte.

Folglich gehört die Stärkung der Außenvertretung der EU, insbesondere gegenüber den USA, und die Schaffung einer europäischen Verteidigungsunion zu den wichtigen französischen Zielen. Diese werden von der Bevölkerung, wie Umfragen belegen, geteilt. L’Europe puissance ist möglicherweise einer der attraktivsten Wege, den Franzosen das Ziel einer weitergehenden europäischen Integration schmackhaft zu machen.13 Zwar haben die Verfassungsbefürworter in der französischen Referendumsdiskussion nicht deutlich machen können, dass die Verfassung in dieser Hinsicht einige Fortschritte bringen würde. Doch könnte ein symbolstarker Akt mit einigen ausgewählten Partnern im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik große Zustimmung finden.

Für ein überschaubares Europa

Wie eine wirtschafts- und sozialpolitische Initiative wären auch Schritte in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur mit ausgewählten Ländern zu machen. Dies kommt dem französischen Interesse an einer überschaubaren Gemeinschaft, in der Frankreich mit Deutschland als Richtungsweiser wirken kann, entgegen.

Scheitert die Verfassung, kann nicht länger geleugnet werden, dass die EU ein Europa abgestufter Integration ist. Im Falle Frankreichs kann sich das Land, in dem die Verfassung scheitert, paradoxerweise als Motor für weitere Integrationsschritte entpuppen. Scheitert die Verfassung aber zum Beispiel in Großbritannien, während sie in Frankreich durchkommt, kann das Gegenteil der Fall sein. Das Land könnte von seinen Partnern vor die Wahl gestellt werden, sich aus Teilen der Gemeinschaft zurückzuziehen, damit die verfassungswilligen Staaten die Verfassung anwenden können.

Die nicht ratifizierenden Staaten könnten in einer „ehrlichen Koexistenz“14 als Teilmitglieder ihre bisherigen Stimmrechte in Rat und Parlament sowie ihre Nominierungsrechte für Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof auf den von ihnen weiter mitgetragenen Integrationsbereich beschränken. Weitergehende Mitsprache- und Vertretungsrechte müssten neu ausgehandelt werden. Die längst praktizierte Trennung von formeller Vollmitgliedschaft und nationalen Ausnahmeregeln wäre explizit anerkannt – und eine Alternative zum einfachen Austritt.15

So sehr die Idee eines Kerneuropas in Frankreich gefällt, so stark ist die Ablehnung gegenüber weiteren Beitrittsrunden, insbesondere der Türkei.16 Zwar befürwortet Präsident Chirac die Beitrittsverhandlungen. Doch alle Politiker, die derzeit als mögliche Nachfolger gelten, wie etwa der UMP-Parteichef Nicolas Sarkozy, haben sich gegen den Beitritt ausgesprochen. Sie werden im Falle des bereits angekündigten Referendums kaum als aktive Befürworter versuchen, die Stimmung im Lande umzudrehen. Schon jetzt äußern sich führende Regierungspolitiker sehr zurückhaltend dazu.17

Dem deutsch-französischen Tandem kann im Falle eines französischen Neins eine besondere Rolle zu kommen: Die Bundesrepublik könnte Frankreich dabei helfen, europapolitische Alternativen zu entwickeln und seine Rolle in Europa zu redefinieren. Allerdings müssen beide Länder in ihrem eigenen Interesse dabei jeden Anschein von Exklusivität vermeiden. Solche Alleingänge haben in der Vergangenheit für viel Missstimmung gesorgt.

Deutschland wie Frankreich sind sich seit einiger Zeit bewusst, dass sie den Dialog auf andere Hauptstädte ausdehnen müssen, um diese als Partner einer gemeinsamen deutsch-französischen Sache zu gewinnen. Außenminister Michel Barnier sagte vor kurzem: „Die Franzosen müssen verstehen, dass sie in dieser Union von nun an überzeugen, mitreißen und erklären müssen.“18 Im Falle eines Neins zur Verfassung erhält diese Aufgabe eine neue Dimension.

1 Ulrike Guérot: Frankreich in Europa. Versäumnisse und Chancen, Dokumente, März 2002, S. 20–23.

2 Daniela Schwarzer: Frankreich und der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Paris und Berlin sägen an den Budgetregeln der Währungsunion, Dokumente, Oktober 2004, S. 28–34.

3 Diese stellen einige Bücher anschaulich dar. Das wohl am meisten diskutierte ist von Nicolas Bavarez: La France qui tombe. Un constat clinique du déclin français, Paris 2003.

4 Henrik Uterwedde: Raffarins Wirtschaftspolitik, ein mühsamer Neuanfang, Dokumente, August 2002, S. 52–59.

5 Yves Boyer: France and the European Project: Internal and External Issues, in: Kjell A Eliassen (Hrsg.): Foreign and Security Policy in the European Union, London/Thousand Oaks/New Delhi 1998, S. 94–106.

6 Analyse des Meinungsforschungsinstituts Ipsos: La fronde du Non, 4.4.2004, http://www.ipsos.fr/CanalIpsos/articles/1551.asp?rubId=19.

7 Der Dissens über die Verfassung hat in einigen Parteien für tiefe Risse gesorgt, etwa in der PS und bei den Grünen, die bei Mitgliederbefragungen lediglich mit 59 bzw. 53 Prozent mit „Ja“ gestimmt haben.

8 Vergleiche etwa Laurent Fabius: Mes arguments en faveur du non, Le Monde, 30.11.2004.

9 Analyse des Meinungsforschungsinstituts Ipsos: La fronde du Non, 4.4.2004, http://www.ipsos.fr/CanalIpsos/articles/1551.asp?rubId=19 (Anm. 6)

10 http://www.foreignaffairs.gov.ie/Press_Releases/20020619/977.htm

11 Thierry de Montbrial: 29 mai: les mirages du non, Le Monde, 6.4.2005.

12 Hans-Dieter Heumann: Multipolarität und „Europe puissance“. Auf der Suche nach der Logik der französischen Außenpolitik, Internationale Politik, April 2005, S. 116–123.

13 Yves Boyer (Anm. 5)

14 Andreas Maurer (im Erscheinen): Exit und Voice im Verfahren der Verfassungsannahme. Politische Szenarien im Falle eines Scheiterns des Verfassungsvertrages, in: Waldemar Hummer (Hrsg.): Der Europäische Verfassungsvertrag, Baden-Baden 2005.

15 Ebenda.

16 In einer am 10.2.2005 veröffentlichten Umfrage von CSA waren 28 Prozent der Befragten für den Beitritt der Türkei zur EU, 57 Prozent dagegen und 18 Prozent unentschieden.

17 Wie etwa Außenminister Michel Barnier bei der Pressekonferenz nach dem Allgemeinen Ratstreffen der EU in Brüssel am 13.12.2004 sagte: „Die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, heißt noch nicht über den Beitritt zu entscheiden.“

18 Michel Barnier im Interview mit der Zeitung Le Republicain Lorrain am 24.3.2005.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 62 - 69.

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Daniela Schwarzer

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