Buchkritik

01. Juli 2017

Vom Angstreflex zur russischen Seele

Vier Neuerscheinungen beleuchten Russlands innere Verhältnisse

Je schwieriger das deutsch-russische Verhältnis wird, umso intensiver beschäftigen sich deutsche Buchautoren mit der inneren Verfasstheit und Psychologie Russlands. Damit reflektieren sie den Machtkonflikt mit dem System Putin unter Verweis auf seine inneren Logiken und Widersprüche und versuchen, ihn fassbarer zu machen.

Nach dem „Russland-Reflex“ von Irina Scherbakowa und Karl Schlögel (s. die Buchkritik in IP, 5/2016, S. 135 f.) ist jetzt ebenfalls in der Edition Körber-Stiftung das Buch „Russian Angst“ des Journalisten Thomas Franke erschienen. Franke lebte von 2012 bis 2016 in Moskau. Schon zuvor hatte er Russland immer wieder bereist und darüber in Reportagen für Deutschlandradio, die ARD und die BBC berichtet. Sein Buch gewährt Einblicke in die russische Gesellschaft, die der Autor auf Reisen nach Wolgograd, Perm, Nowosibirsk und Sotschi gewonnen hat.

Franke beschreibt nicht so sehr die Angst vor Russland, sondern die Rückkehr der Angst in Russland selbst. Den Einstieg bilden die Massendemonstrationen 2011/2012, die in Moskau und Petersburg sowie – kleiner, aber umso mutiger – in Regionalhauptstädten stattfanden. Franke zitiert eine russische Freundin, die davon überzeugt ist, dass die Demon­stranten und Gegendemonstrationen gekauft wurden.

Bei einer Reise mit Oppositionellen nach Nowosibirsk trifft Franke auf kräftige Typen, die sich ihm und seiner Begleitung mit der Frage entgegenstellen: „Wer hat euch geschickt?“ Reaktionen wie diese sind nicht ungewöhnlich, denn für viele Russen ist ein Handeln aus eigenständigen politischen Motiven offensichtlich nicht vorstellbar. Demonstrationen und öffentliche Kritik können demnach nur von außen organisiert sein und den Interessen bestimmter Gruppierungen dienen.

Die Angst vor dem Einfluss von außen, vor den Versuchen des Westens, Russland zu destabilisieren oder gar fremdzubestimmen, schürt das Regime ganz bewusst. Das gleichgeschaltete Fernsehen zeigt rund um die Uhr Spielfilme und Dokumenta­tionen über den Zweiten Weltkrieg und nährt damit sowohl den Eindruck der Bedrohung durch einen äußeren Feind als auch das Gefühl der Russen, ein ­Siegervolk zu sein. Gegner, ob in Russland selbst oder in der ­Ukraine, werden als Faschisten bezeichnet. Das ist ein von der Sowjetpropaganda übernommenes Motiv. Einige Beobachter gehen noch weiter: Sie vermuten, dass das Regime die Bevölkerung so auf einen Krieg vorbereite.

Die andere Seite der Angst ist die vor dem Regime, die mit der Wiederwahl Putins zum Präsidenten im Frühjahr 2012 und der repressiven Aufarbeitung der Massendemonstrationen durch die Sicherheitsorgane in Teile der Gesellschaft zurückgekehrt ist. Die öffentliche Diffamierung von Oppositionellen, Andersdenkenden, Intellektuellen und kritischen Medien als Volksfeinde spiegelt die unterdrückerische Seite der Sowjetunion wider, an die das heutige Regime in abgeschwächter Form anknüpft. Damit einher geht eine Förderung des Denunziantentums, an das sich viele Ältere nur zu genau erinnern. Am Beispiel einer Gruppe Kosaken, die als eine Art Bürgerwehr für Ordnung sorgen, zeigt Franke, wie weit die absurde Mobilisierung in der Gesellschaft gegen „kriminelle Elemente“ gehen kann. Deren Opfer sind dann schon einmal Rentner, die versuchen, durch den illegalen Verkauf von Kräutern etwas dazuzuverdienen.

Unterm Strich bietet Frankes Buch analytisch wenig Neues; es ist jedoch ein lesenswerter Einblick in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse des Putinschen Russlands.

Zwischen Militär und Mafia

Die inneren Treiber des Putin-Systems analysiert auch der erfahrene Russland-Journalist Manfred Quiring in seinem Buch „Putins russische Welt“. Quiring war zu DDR-Zeiten Redakteur der Berliner Zeitung und zweimal deren Moskau-Korres­pondent, bevor er 1998 bis 2010 für die Welt in Moskau tätig war. Sein Buch dokumentiert den Wandel eines langjährigen Beobachters, der zunächst vor allem westliche Aktivitäten in Russlands Nachbarschaft kritisch beobachtet hat und mittlerweile vornehmlich innerrussische Faktoren für die Entfremdung zwischen Russland und dem Westen verantwortlich macht.

Der Autor legt den Schwerpunkt auf die Rolle der Geheimdienste und des militärisch-industriellen Komplexes in der Ära Putin. Daneben zieht er aber immer wieder auch Verbindungen zu Entwicklungen am Ende der Sowjet­zeit, die im Nachhinein in Russland und teils auch in Deutschland neu interpretiert wurden. So weist Quiring in einem gut recherchierten Kapitel nach, dass die USA der Regierung Gorbatschow nie das Versprechen gab, es würde zu keiner NATO-Erweiterung kommen.

Manfred Quiring arbeitet den Aufstieg Putins zum ersten Mann im Staat auf, der einhergeht mit der wachsenden Rolle der Geheimdienste in Wirtschaft und Politik. Der Autor zitiert ausführlich aus Protokollen spanischer Ermittler und Interviews mit Insidern, die zeigen, wie eng der Kreis um Putin mit dem organisierten Verbrechen verbunden ist.

Das alles sind keine neuen Fakten; sie werden aber von einer breiteren deutschen Öffentlichkeit immer noch zu wenig wahrgenommen. Die Schwäche des Buches liegt darin, dass der Autor versucht, ein sehr breites Themenfeld auf 264 Seiten zu bearbeiten. Dadurch gerät der Abschnitt zum Zweiten Weltkrieg eher oberflächlich; die Kapitel zum Informationskrieg des Kremls sowie Russlands Krieg in der Ukraine gewähren wiederum gute Einblicke. Abgerundet wird das Buch durch kurze State­ments deutscher Politiker und Experten, denen analytisch sicher zuzustimmen ist. Antworten auf die Kapitelüberschrift „Wie weiter?“ bieten sie hingegen kaum. Insgesamt liegt hier eine gut lesbare Darstellung bekannter Fakten zur jüngsten Entwicklung in Russland vor.

Jugend auf der Suche nach Halt

Ein großer Wurf ist dem ehemaligen Moskauer Korrespondenten des ­Spiegel (2009–2016) Benjamin Bidder mit „Generation Putin“ gelungen. Bidder hat junge Menschen begleitet, die bisher vor allem Wladimir Putin als prägende politische Figur erleben. Zu dieser Generation gehören die Patriotinnen Lena aus Smolensk und Diana aus Sotschi, der Aktivist für Behindertenrechte Alexander aus Petersburg, der selbst im Rollstuhl sitzt, der Dachkletterer Marat aus Moskau, die Buchhalterin Taissa aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny sowie die Oppositionelle Wera aus Moskau. Sie alle wurden Anfang der 1990er Jahre geboren, als Boris Jelzin regierte, und sie wuchsen auf, während Putin Russland umbaute.

Diese sehr persönliche Analyse des heutigen Russlands kann durch die Auswahl der Protagonisten nur Ausschnitte zeigen. Sie verdeutlicht aber, wie pluralistisch sich die Gesellschaft seit Ende der Sowjetunion entwickelt hat und wie wichtig die gewonnenen Freiheiten für junge Menschen sind. Sie sind von den Widersprüchen des heutigen Russlands geprägt und damit von einer Konsumgesellschaft, die einen beträchtlichen Wohlstandsgewinn zwischen 2001 und 2008 erlebt hat, in der aber auch die Kluft zwischen Arm und Reich enorm gewachsen ist. So versuchen diese jungen Menschen, einen Platz zu finden zwischen Pa­triotismus und Opposition gegen das System Putin.

Der russische Staat ist noch weit davon entfernt, öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, um die Lebensbedingungen gerade behinderter Menschen zu verbessern. Aber auch in diesem Bereich ist eine „Verwestlichung“ und damit eine langsame Normalisierung zu beobachten. Der Rollstuhlfahrer ­Alexander bringt den Wandel auf den Punkt: „Oft geht es zwei Schritte vor und einen zurück. Bedauerlicherweise ist es manchmal auch umgekehrt: einen vor, zwei zurück.“ Als Beispiel kann der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin genannt werden, der seit seinem Amtsantritt 2013 viel für die Lebensqualität der Moskauer Bürger getan hat – durch Modernisierung und Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, durch die Renovierung von Parks, durch die Einrichtung von Fußgängerzonen. Derzeit steht er aber unter massiver Kritik, weil er altersschwache Wohnblöcke aus den 1960er Jahren abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Die Angst der Russen vor Amtsmissbrauch und Korruption ist größer als das Vertrauen darauf, dass Veränderungen ihre Lebensqualität verbessern könnten.

Benjamin Bidder ist ein unaufgeregter, sachlicher und zum Teil berührender Einblick in den Alltag junger Russen gelungen. Anhand dieser Mikrokosmen zeigt der Autor ein widersprüchliches und komplexes Russland fern der Macht und fern der typischen Darstellung vieler deutscher Medien. Ein kleiner Wermutstropfen bleibt allerdings: Die Versuche, Fakten und Statistiken in die Porträts einfließen zu lassen, wirken oft etwas holprig und deplatziert im Lesefluss. Sie sind dennoch hilfreich, bestimmte Aus­sagen einzuordnen.

Kollektivistisch, neoimperialistisch

Auch Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, widmet sich in seiner kultur- und geisteswissenschaftlichen Studie zur „Technologie der Seele“ der Befindlichkeit der russischen Gesellschaft und ihrer Instrumentalisierung durch die politische Führung. Während der Kreml unter Wladimir Putin seit 2000, so die These Schmids, systematisch nationalistische und antiwestliche Strömungen unterstützt, erleben wir mit der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 und insbesondere mit dem Konflikt um die Ukraine eine Radikalisierung der politischen Kultur.

Dabei hat das System Putin sukzessive eine nationalistische Staats­ideologie aufgebaut und grenzt sich explizit von der postheroischen Kultur des Westens ab. Das Regime vertritt jedoch nicht nur eigene Interessen, sondern eben auch eigene Werte in klarer Abgrenzung von Europa und vom liberalen Westen. Laut Schmid bilden Neoimperialismus, Orthodoxie und Eurasianismus das ideologische Narrativ, das die Staats- und Gesellschaftsordnung stützen soll. Staatliche Medien spielen dabei eine zentrale Rolle: Die Gesellschaft absorbiert „die von den Medien (und letztlich vom Kreml) geschaffene Wirklichkeitsdeutung“.

Putin und seine ­Polittechnologen stützen sich auf gesellschaftliche Werte, die zum Teil noch auf Sowjettradition beruhen. Populärkultur, so Schmid, wird in die sowjetische Argumentationslinie einer „Faschismusabwehr“ eingebettet. Dabei geht es jedoch nicht um eine Restaura­tion des Kommunismus, sondern um die geschickte Verbindung von postsozialistischem Kollektivismus und neoimperialem Bewusstsein.

So wird eine ­neue Ideologie geschaffen, mit der die Sowjetnostalgie von der scheinbar gerechteren Gesellschaft mit dem Gefühl imperialer Größe in der Tradition des Zarenreichs verbunden wird. Dem Autor gelingt es durch die Auswertung eines enormen Schatzes an philosophischer Literatur, die historischen Wurzeln des heutigen Russlands aufzuzeigen.

Dieses Buch zeugt von umfangreichem Wissen über die russische Geistesgeschichte. Wenn es jedoch darum geht, dem weniger kundigen Leser Auswahl und Gewichtung zu bieten, ist es nicht sonderlich hilfreich. Es bleibt unklar, ob sich der Leser mit all den zitierten Texten und Geistesgrößen gleichwertig beschäftigen muss, um Russland besser verstehen zu können. Aber Schmids Buch entfaltet immer wieder eine große analytische Kraft, mit deren Hilfe sich Aussagen und Argumentationslinien des Systems Putin und seiner Vertreter besser einordnen lassen. Angst gehört wohl zur russischen Seele – das Spiel der Machthaber mit den Ängsten aber ebenso.

Dr. Stefan Meister leitet das Robert Bosch-Zentrum für ­Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentral­asien im Forschungs­institut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2017, S. 134 - 137

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