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01. Aug. 2004

Völlig losgelöst

Neocons und kein Ende? Hinter vielen Beiträgen darüber in der amerikanischen Diskussion verbirgt
sich eine tiefer gehende Frage: Wie soll die Außenpolitik der USA im 21. Jahrhundert aussehen?
Anzeichen für ein Umdenken mehren sich.

Neocons und kein Ende – dieser Eindruck stellt sich ein, wenn man amerikanische Zeitschriften vor der Wahl liest. Doch einige Autoren nehmen die Neocons nur zum Anlass, um über die außenpolitischen Grundfragen des 21. Jahrhunderts nachzudenken.

Seit fünfzehn Jahren gehört Francis Fukuyama zu den interessantesten Stimmen der politischen Diskussion in Amerika. Bekannt wurde er, als eram Ende des Kalten Krieges das „Ende der Geschichte“ ausrief und die gesamte Welt auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft sah. In The National Interest (Sommer 2004) unterzieht er nun die außenpolitischen Ideen der Neocons und damit auch die Politik der Bush-Regierung einer umfassenden Kritik. Diese beginnt unscheinbar als nüchterne Analyse einer Rede von Charles Krauthammer, einem der bekanntesten neokonservativen Publizisten.

Während Fukuyamas neues Buch „State-Building“ keinen Kommentar zum Irak-Krieg enthält, wird der Autor nun deutlich. Er teilt die Prämissen Krauthammers und der Neocons – aber Fukuyama kommt als Ergebnis zu einer völlig anderen Außenpolitik. Das große Problem des neokonservativen Idealismus ist für ihn, dass dieser keine Grenzen kennt. Die Kriterien fehlen, nach denen über eine Intervention der USA entschieden werden könnte. Fukuyama legt diese Schwäche bloß mit den Mitteln der Sprachkritik und zeigt damit, dass diese Methode zur außenpolitischen Analyse dazugehört.

Denn was bedeute es, „Demokratie überall zu fördern“, wie Krauthammer formuliert? Scheinbar wägten die Neocons dann doch nach realpolitischen Kriterien ab, wenn sie auf „strategische Notwendigkeit“ verwiesen und auf eine „tödliche Gefahr“, die von einem „existenziellen Feind“ ausginge. Doch eine tödliche Gefahr für die Existenz der USA sei nur vom Nationalsozialismus und von der Sowjetunion ausgegangen. Weder Irak unter Saddam Hussein noch Al Khaïda falle in diese Kategorie, auch wenn beide eine ernsthafte Bedrohung amerikanischer Interessen darstellten. Krauthammers Begründung amerikanischer Interventionen sei letztlich das Szenario einer „globalen tödlichen Bedrohung der Freiheit“. Das ist alles und nichts, kein Feind oder eine endlose Liste von Feinden. Natürlich liege die Verbreitung der Demokratie im strategischen Interesse der USA, aber nach welchen praktikablen Kriterien solle man verfahren?

Der idealtypische Neocon Krauthammer bleibt die Antwort schuldig, er kann nur „besonnenes Urteilsvermögen“ nennen. Gerade daran aber fehlt es Fukuyama zufolge der Regierung. Er kann es kaum verstehen, dass ein so intelligenter Kommentator wie Krauthammer so „sonderbar losgelöst von der Wirklichkeit“ sei und behaupte, Irak sei ein reiner Erfolg. Am seltsamsten mutet Fukuyama das neokonservative Projekt an, den gesamten Nahen und Mittleren Osten im westlichen Sinne zu demokratisieren. Waren es nicht die Neocons, die früher vor der Hybris des „Social Engineering“ gewarnt hatten? Es ist nicht so, dass Fukuyama das Ziel eines demokratischen Orients nicht teilen würde. Aber Irak war ein besonders schwieriger Fall, womit man im voraus rechnen musste, sofern man ein wenig „besonnenes Urteilsvermögen“ besaß. Selbst die amerikanische Geschichte hätte skeptisch stimmen müssen: Von 18 „Nation-Building“-Unternehmen seit 1899 waren nur drei erfolgreich, zwei davon in bereits zuvor fest gefügten Staaten. Und Amerika hat sich solch langwierigen Aufgaben stets nur unwillig gestellt.

Erst auf dieser Grundlage hätte man sich verantwortungsvoll für einen Krieg entscheiden können, erklärt Fukuyama. Mögliche Probleme einfach zu ignorieren hält er für kein Zeichen von „Urteilsvermögen“. Einen weiteren entscheidenden Fehler begingen die Neocons: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, könnten sie nicht eingestehen, dass Amerika an einem Legitimitätsdefizit leidet, das seine Macht untergräbt. Die Legitimitätskrise rührt laut Fukuyama nicht daher, die UN umgangen zu haben. Das haben die Europäer im Falle der Kosovo-Intervention selbst getan, als es angebracht erschien; die UN haben selbst ein Legitimitätsproblem. Es gelte auch nicht, zur Kompensation auf die breite Koalition in Irak zu verweisen, wo nur wenige Staaten einen substanziellen Beitrag leisten. „Obwohl das Verhalten von Deutschlands Kanzler Schröder enttäuschend war“, so Fukuyama, „hätte ich dennoch lieber Deutschland an meiner Seite als eine schwache und korrupte Ukraine“.

In Fukuyamas Augen offenbart sich hier das Grundproblem der amerikanischen Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Die Parameter der internationalen Politik haben sich seit Ende des Kalten Krieges verschoben – aber die US-Außenpolitik hat sich immer noch nicht ganz darauf eingestellt, meint Fukuyama. Die sowjetische Bedrohung, die die Verbündeten einte, ist weggefallen. Damit hat sich auch die Notwendigkeit erledigt, einem potenziell gleichstarken Gegner die amerikanische Machtüberlegenheit zu demonstrieren, was in Washington nicht klar verstanden wurde. Zuletzt hat sich der Brennpunkt von Europa auf den Nahen und Mittleren Osten verschoben, auf eine Region, die früher schon scharfe Meinungsgegensätze unter den Verbündeten hervorrief.

Die Lösung für dieses außenpolitische Denkproblem, die Krauthammer und andere Neocons forcieren, ist aber untauglich. Fukuyamas Analyse gelangt hier zu einer wichtigen Einsicht: Die Reaktion der Regierung und ihrer Vordenker auf die neue globale Gefahr des Terrorismus überträgt die Situation Israels auf die Situation der USA. Damit verlieren die außenpolitischen Kategorien ihren Sinn. Denn wie Fukuyama betont, befinden sich die USA anders als Israel nicht in einem „erbitterten und erbarmungslosen Krieg mit einem unversöhnlichen Feind“, wie Krauthammer den Krieg gegen den Terrorismus bezeichnet. Die strategische Doktrin eines kleinen, verwundbaren und von unversöhnlichen Feinden umgebenen Landes kann keine Anwendung auf die Supermacht Amerika finden, auch wenn diese Begriffsverwirrung im Gefolge des 11. September nahe lag. Anders als Israel seien die USA nicht strategisch gezwungen, jede Bedrohung aggressiv und präemptiv zu bekämpfen. Sie könnten auch abwarten und so ihren guten Willen beweisen.

Al Khaïda ist ein unversöhnlicher Gegner, aber keiner, der die Existenz der USA gefährdet. Den Krieg gegen diesen Feind müsse man als einen klassischen „counter-insurgency war“ führen, allerdings in globalem Maßstab. Aber auch politisches Feingefühl sei nötig, um die „Köpfe und Herzen“ der 1,2 Milliarden Muslime zu gewinnen, von denen viele zwar Amerika hassen, aber nur wenige unversöhnliche Feinde seien. Hier falle der auswärtigen Kulturpolitik eine Schlüsselrolle und strategische Bedeutung zu.

Wie auf diese Weise die internationale Kooperation unter amerikanischer Führung, die den Kalten Krieg prägte, wiederhergestellt werden könnte, überlegen viele Autoren – darunter auffallend oft Neokonservative, die sich von Hardliner-Positionen verabschieden. So erklärt in Foreign Affairs (Juli/August 2004) Eliot Cohen, mit dessen Werk „Supreme Command“ sich Präsident Bush 2002 zeigte, dass die USA de facto eine imperiale Macht seien und sich darum besonders rhetorisch zügeln müssten. Er empfiehlt eine Rückkehr zur Kunst der Diplomatie, die den anderen Mächten die eigene Schwäche nicht so sehr vor Augen führe. David Brooks ruft in der New York Times (24. Juli 2004) zum ideologischen Gegenangriff gegen den islamistischen Terrorismus auf. Damit meint er, in der islamischen Welt Schulen zu bauen und unter Intellektuellen Partner für ein Forum in der Art des Kongresses für kulturelle Freiheit zu suchen – verbunden mit dem Aufruf an amerikanische Regierungsstellen und Philanthropen, all das zu finanzieren. Auch der Vorsitzende des National Intelligence Council, Robert L. Hutchings, schlägt in Foreign Policy (Juli/August 2004) eine Strategie der Einbeziehung vor. Ein Sieg sei nur durch eine auf lange Sicht angelegte Großstrategie zu erreichen – nach dem Vorbild der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Fukuyama sieht die Mittelost-Initiative der Bush-Regierung als einen ersten Schritt in die richtige Richtung an. Wie lauten weitere Vorschläge? Er beginnt bei der Forderung nach einem intellektuellen Wandel in der außenpolitischen Kultur der USA; man müsse lernen, in der Machtausübung sowohl sachkundiger als auch subtiler vorzugehen. Erster Schritt dazu sei die Rückkehr zum mühsamen Geschäft der Diplomatie und der Pflege der Verbündeten. Zweitens sei es nicht zu vermeiden, dass die USA auch in Zukunft intervenieren und direkt Verantwortung für Länder übernehmen müssten. Doch das „Nation-Building“ müsse sorgfältiger geplant und realistischer durchgeführt werden. Das erfordere die Einrichtung einer ständigen und verantwortlichen US-Behörde, die solche Operationen planen und koordinieren kann. Drittens sollten sich die USA wieder als „Institution-Builders“ hervortun. Wo die UN scheitern, stehe wie im Fall Kosovo die NATO als legitime Organisation bereit. Auf globaler Ebene könne man die im Jahr 2000 von mehr als 100 Staaten gegründete „Community of Democracies“ ausbauen, die als Clinton-Initiative bisher von den Republikanern ignoriert wurde. Auch auf regionaler Ebene, vor allem in Asien, würden neue oder erweiterte multilaterale Organisationen die Zusammenarbeit erleichtern und die Stabilität fördern.

Diese Grundsatzanalyse berührt die Diskussion um die imperiale Rolle Amerikas. Einer der glühendsten Befürworter der Idee eines amerikanischen Imperiums ist der britische Historiker Niall Ferguson. In Foreign Policy (Juli/August 2004) hält er erneut Amerika an, seine imperiale Mission zu erfüllen. Denn was ist die Alternative zur unipolaren Welt der amerikanischen Hegemonie? Weder eine multipolare Welt noch eine globale Verwaltung durch internationale Organisationen, wie sie manche Europäer und linke Amerikaner erträumen, schreibt Ferguson, sondern eine apolare Welt von Anarchie und Chaos. Von den potenziellen Konkurrenten, die derzeit genannt werden, ist laut Ferguson auf Dauer nichts zu erwarten: Die EU werde bald ein abgeschottetes Altersheim sein und China von Wirtschaftskrisen erschüttert werden.

Eine Gegenposition bezieht in derselben Nummer John Judis. Er stellt die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Politik. Denn sowohl die Bush-Regierung als auch ihre neokonservativen Berater bewegen sich Judis zufolge völlig losgelöst von historischem Wissen, das für die Politikplanung nützlich wäre. Dabei könne man die Feindschaft, die Amerika im Nahen und Mittleren Osten entgegenschlägt, nur so verstehen. Die USA wurden von Anfang an als  Nachfolger der verhassten britischen Kolonialmacht angesehen, und diese Sicht hat sich verstärkt durch die Unterstützung Israels, das in den Augen der arabischen Welt als Produkt des europäischen Kolonialismus gilt, so Judis.

In Judis’ Lesart versuchten am Ende des Kalten Krieges der ältere Bush und Clinton, Führung auszuüben, ohne Widerstand hervorzurufen, was nur durch multilaterale Kooperation erreicht wurde. Von seinen historischen Beispielen Philippinen und Mexiko mit jeweils katastrophalem Ausgang ist es für Judis nicht weit nach Irak, was er auch durch die Gegenüberstellung irritierend ähnlicher Bilder unterstreicht. Judis sieht einen Ausweg nur darin, dass die USA ihre imperiale Mission aufgeben und stattdessen das Ziel globaler Demokratisierung auf dem Weg kollektiver Zusammenarbeit langfristig anstreben.

Auch wenn oft von den Neocons die Rede ist – die amerikanische Diskussion ist offenbar in eine Phase des Umbruchs eingetreten.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2004, S. 111-114

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