IP

01. März 2021

Virtuelle Machtspiele

Sie vermitteln Weltbilder, sind Innovationstreiber, aber auch Sicherheitslücken – Videospiele bieten Chancen und Risiken für die Außen- und Sicherheitspolitik.

Bild
Bild: Szene aus dem Computerspiel "The Division 2"
In der Beschreibung von „The Division 2“ heißt es, Washington D.C. stehe am Rand des Zusammenbruchs – es gebe Gerüchte über einen Staatsstreich im Kapitol. Der Hersteller Ubisoft sagt, das Spiel enthalte keinerlei politische Botschaft.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Computerspiele sind nicht nur das meistgenutzte Kulturmedium der Gegenwart, auch ihre außenpolitische Bedeutung nimmt immer mehr zu. Beim Staatsbesuch von Barack Obama in Polen 2011 betraten sie die diplomatische Weltbühne: Damals überreichte Ministerpräsident Donald Tusk dem US-Präsidenten die polnische Videospielserie The Witcher als Gastgebergeschenk.



Weltweit werden bis 2023 voraussichtlich mehr als drei Milliarden Menschen regelmäßig Videospiele spielen: von Pokémon GO auf dem Smartphone über League of Legends am PC bis zur Fußballsimulation FIFA auf Konsolen. Hinzu kommen die aktiven Zuschauenden – in den USA beispielsweise 47 Millionen im Monat – auf Streaming-Plattformen wie Twitch, die Videospiele live übertragen und vielerorts das lineare Fernsehen an Reichweite überholt haben.



Zudem sind Videospiele technische Innovationstreiber und ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor: Künstliche Intelligenz, Cloud-Computing und virtuelle Realität werden von der Videospielindustrie massiv vorangetrieben. Ihre Reichweite und ihr Einfluss machen Videospiele  nicht nur kultur- und innovationspolitisch relevant, sie bergen auch große Chancen und Risiken für die Außen- und Sicherheitspolitik.



Laut Josep Borrell, dem Hohen Beauftragten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, befindet sich Europa in einem „Kampf der Narrative“, der eine künftige Welt(un)ordnung maßgeblich mitbestimmen wird. Für die Bundesregierung stellte die Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik, Michelle Müntefering, 2018 fest, dass wir „uns mitten in einem Wettbewerb der Narrative etwa mit den USA, Russland oder China“ befinden.



Dass hier insbesondere Videospiele als neues Spielfeld berücksichtigt werden müssen, hat nicht nur mit ihrer Reichweite zu tun. Denn auch wenn nicht alle Spiele eine intendierte politische Botschaft haben, vermitteln sie doch immer politische Werte und Weltbilder, sagt der Videospielforscher Eugen Pfister. Viele Videospiele sind an reale (außen-)politische Situationen angelehnt und erzählen diese neu, oft im Sinne des aktuell vorherrschenden Zeitgeists. So erschienen laut dem Medienwissenschaftler Alfie Bown in der Bush-Ära viele Spiele, die eine aggressive US-Außenpolitik unterstützten; außerdem propagieren seit dem Brexit britische Spiele vermehrt Isolationismus und eine Nostalgie für das vergangene britische Weltreich.



Wettbewerb der Narrative

„Washington, D.C. steht am Rande des Zusammenbruchs. Gesetzlosigkeit und Instabilität bedrohen unsere Gesellschaft und Gerüchte über einen Staatsstreich im Kapitol vergrößern nur das Chaos. (…) Rüste auf, rette Washington, D.C. Du bist Mitglied (…) einer Gruppe von zivilen Agenten, die als letzte Verteidigungslinie aufgestellt wurde (…) Also wird es Zeit, (…) dich (…) der neuen Gefahr zu stellen.“ So bewirbt die Firma Ubisoft ihr 2019 erschienenes Spiel The Division 2. Dort bekämpfen Geheimagentinnen und -agenten politische Unruhen, die von Biowaffenanschlägen und der daraus folgenden Epidemie ausgelöst wurden. Dabei schießt man sich durch Washington, kämpft um Weißes Haus und Kapitol. Man agiert im Auftrag der Regierung – gleichzeitig wird nahegelegt, dass Regierungskreise in die Anschläge involviert sind.



Nach der Radikalisierung von Bewegungen wie QAnon in der Corona-Krise und dem echten Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 kommt man nicht umhin, in dem Spiel im besten Fall einen hellsichtigen Kommentar zum politischen Zeitgeist zu erkennen. Im schlimmsten Fall aber wurden hier an über zehn Millionen Bildschirmen gefährliche antidemokratische Verschwörungstheorien verbreitet. Ubisoft hingegen erklärte, dass The Division keinerlei politische Botschaften enthalte.



Wie Bücher und Filme generieren Videospiele mit gekonntem Storytelling Sympathien und Antipathien für bestimmte politische Akteure und Systeme. Anders als in linearen Medien gestalten die Spielenden jedoch Handlung und Umwelt im Spiel aktiv mit: Sie müssen Zivilisationen aufbauen, Kriege gewinnen, Katastrophen verhindern und Missionen erfüllen. Dabei werden bestimmte Verhaltensweisen belohnt und andere abgestraft. Neben der Erzählebene wirken Videospiele so auf der Ebene der Spielmechanik, also in der programmierten Verbindung von Spielentscheidung und -konsequenz.



Civilization, eine der erfolgreichsten Spieleserien überhaupt, stellt totalitäre Systeme wie Faschismus und Kommunismus als erfolgversprechende Staatsformen dar: Wenn im Spiel eine Hungersnot droht, hat man als demokratische Regierung mit Unruhen zu kämpfen – die Spielmechanik belohnt hier einen pragmatischen Wechsel in den Totalitarismus mit dem sofortigen Verstummen der Proteste. Anno 1800, eines der meistverkauften Computerspiele in Deutschland, bietet an, obrigkeitskritische Zeitungsartikel per Mausklick durch Propaganda zu ersetzen. Wenn demokratische Nachbarländer fordern, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen, kann man diese Bedenken wiederum mit einem Klick wegwischen – ohne Konsequenzen.



Videospiele sind ein perfektes Medium zur Vermittlung politischer Narrative, da weder die Spielenden darauf vorbereitet sind, mit ideologischen Inhalten konfrontiert zu werden, noch die Spieleentwickler den notwendigen kritischen Apparat zur Selbstreflexion entwickelt haben.



Welche Weltbilder in Videospielen vermittelt werden, hängt derzeit allein von Nachfrage und Angebot in der privaten Spielewirtschaft ab – und von den Interessen von Staaten, die Videospiele als Battleground im Wettbewerb der Narrative erkannt haben, wie das Beispiel China zeigt. Seit fast zwei Jahrzehnten agiert das Land machtstrategisch in der Sphäre des Gaming. Das 2005 erschienene Spiel Anti-Japan War Online, eine Militärsimulation, finanziert vom Kommunistischen Jugendverband Chinas, verfolgt das Ziel der Erziehung zur Japan-Feindlichkeit. Neben der Verbreitung von Feindbildern dienen Videospiele Peking auch zur Zensur politischer Meinungsäußerungen. So gab es 2019 zahlreiche Berichte, dass im Spiel Genshin bestimmte politische Begriffe zensiert werden, u.a. Hongkong, Taiwan und Falun Gong.



Diese Vorfälle sind auch deshalb besorgniserregend, weil sich Chinas Digitalgigant Tencent in den vergangenen Jahren relevante Anteile großer westlicher Spielefirmen wie Activision Blizzard (USA), Ubisoft (Frankreich) und Yager (Deutschland) gesichert und damit seinen Einflussradius beträchtlich vergrößert hat. Und tatsächlich: Im Rahmen der Hongkong-Krise verhinderte Activision Blizzard die Teilnahme eines bekannten Hongkonger Hearthstone-Profigamer an Turnieren, nachdem dieser sich mit der Demokratiebewegung solidarisiert hatte. Während diese Einflussnahme im US-Kongress parteiübergreifend verurteilt wurde, blieben deutsche Akteure der Außen- und China-Politik weitgehend passiv.



Zur Einordnung: Ginge es um Zensur und Berufsverbot nicht für einen Gamer, sondern für einen Sportler oder eine Sportlerin, hätte der Vorfall wohl auch hierzulande außerhalb der Gamingszene politische Bedeutung erlangt. Dem Politikwissenschaftler Nigel Lian zufolge ist die Beeinflussung vermittels Videospielen die jüngste und vielversprechendste Herangehensweise in Chinas Bemühungen um globalen Einfluss durch den Einsatz von Soft Power. Möchten im Gegenzug westliche Spielefirmen Zugang zum großen chinesischen Computerspielmarkt, müssen sie Partnerschaften mit chinesischen Firmen wie Tencent bilden.



Neben China lohnt sich ein Blick nach Russland, wo das Spiel The Truth About 9th Company unter Verwendung echter Satellitendaten und Einbeziehung von Augenzeugenberichten eine vermeintlich „objektive“ Darstellung der sowjetischen Militäroperation in Afghanistan 1988 bietet mit dem Ziel, den Patriotismus der russischen Jugend zu steigern. Ähnliche Ziele verfolgen auch die Iran Computer and Video Games Foundation und das Iran National Game Development Institute, die dem Ministerium für Kultur und islamische Führung unterstehen.



Videospiele als Sicherheitslücke

Doch Videospiele bergen in Zeiten hybrider Kriegführung noch viel greifbarere Sicherheitsrisiken. Während eine mögliche Radikalisierung von Spielenden im Lichte der Anschläge von Christchurch und Halle breit diskutiert wurde, sind andere Risiken in Deutschland eher unbeachtet geblieben. So wies das britische Verteidigungsministerium 2018 darauf hin, dass Künstliche Intelligenz mithilfe von Video-Strategiespielen wie StarCraft II im Lösen taktischer Kampfentscheidungen trainiert werden kann. Das Ministerium warnt davor, dass so trainierte KI-Programme für Cyberattacken eingesetzt werden können, zum Beispiel um kritische Infrastruktur zu zerstören. Aufgrund der günstigen Trainingsmöglichkeit mit im Handel verfügbaren Videospielen könne seit 2020 ein wachsender Kreis nichtstaatlicher Akteure verheerende Cyberattacken ausführen. Staatliche Sicherheitsbehörden seien auf entsprechende Angriffe nicht vorbereitet.



Wie das Wall Street Journal kürzlich berichtete, besteht ein weiteres Sicherheitsrisiko im Zugang, den chinesische Geheimdienste durch die millionenfache Installation von Videospielen auf heimische Computer und Spielerdaten erhalten könnten. So müssen Spielende in den meisten Online-Spielen ihre Klarnamen, Geburtsdatum und Zahlungsdaten angeben; viele Handyspiele ermitteln laufend den Standort. Zudem erstellen Spielende durch ihre Unterhaltungen in Spiele-Chats konstante Stimmproben. Mit heutiger Technologie reichen Stimmproben von zehn Minuten, um täuschend echte Voice Deepfakes herzustellen, die Familie und Freunde hinters Licht führen können.



Chinas Vormachtstellung auf dem Videospielmarkt bedeutet, dass viele dieser Daten auf chinesischen Servern von Firmen wie Tencent gespeichert werden. Laut Verfassungsschutz werden dort gespeicherte Daten von chinesischen Geheimdiensten ausgewertet und können beispielsweise für das Sozialkreditsystem zweckentfremdet werden, welches Menschen auch nach deren Verhalten in verschiedene Kategorien einsortiert. Hinzu kommt verpflichtende Anticheat-Software, die in neueren Spielen eingebaut ist und nach der Installation die gleichen Rechte wie ein Antivirus-Programm erhält. Dieses Einfallstor könnten Geheimdienste nutzen, um sensible Daten zu transferieren oder kompromittierendes Material unterzuschieben. Das Wall Street Journal nannte Videospiele aus diesen Gründen die „dringendste Sicherheitslücke unter chinesischen technischen Konsumgütern“.



Bildungspotenziale von Videospielen

Neben Risiken bergen Videospiele aber auch Chancen für die Außenpolitik. Eine Studie des Global Public Policy Institute zeigt, dass sich die Einstellungen der Generationen Y und Z zu außenpolitischen Grundsatzfragen von denen älterer Generationen unterscheiden. Um die Jüngeren zu erreichen, kann Außenpolitik deren Kulturtechnik, das Videospiel, für Bürgerdialog und Public Diplomacy nutzen. So erklärten deutsche Diplomatinnen und Diplomaten ihre Arbeit beim Spielen auf Twitch, und Außenminister Heiko Maas eröffnete im August 2020 die weltgrößte Computerspielmesse Gamescom. Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft entwickelte das Auswärtige Amt das Handyspiel Pathways, um die Stärken Europas – Vielfalt, Frieden und Zusammenhalt – zu vermitteln: Die Spielenden bereisen Europa aus der Sicht von fünf Charakteren verschiedener EU-Länder.



In Zeiten, in denen Schüleraustausch, Erasmus-Semester und Bildungsreisen durch die Corona-Pandemie ausgebremst sind, haben Videospiele großes Potenzial für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Sie können Menschen grenzüberschreitend in Dialog bringen und erlauben, die Welt vom heimischen Sofa aus zu bereisen. Das Potenzial reicht über die Pandemie hinaus, als klimaschonende Alternative zu internationalen Begegnungen oder zum Austausch mit Ländern, in denen die Sicherheits- oder politische Lage schwierig ist. Gut gemachte digitale Spiele können sogar zu Friedensbildung und Konfliktlösung beitragen, wie eine Studie des UNESCO Mahatma Gandhi Institute of Education for Peace 2016 zeigte.



Auch die klassische Diplomatie könnte von Videospielen lernen. Durch die Corona-Pandemie wurden zahlreiche EU-Gipfel, Sitzungen von UN-Sicherheitsrat und NATO sowie Staatsbesuche durch Videokonferenzen ersetzt. In der Videodiplomatie bleibt derzeit viel auf der Strecke: Effizienz, Vertraulichkeit und vor allem die persönliche Kommunikation am Rande offizieller Konferenzen, die schwierige Entscheidungen oft erst ermöglichen. Hier könnte die klassische Diplomatie von Videospielen lernen: Games vermögen es, Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen, die sich noch nie getroffen haben, zu Teams zusammenzuschweißen, welche über lange Zeitperioden und -zonen hinweg gemeinsam an einer Mission arbeiten. Geeignete Spielmechaniken fördern Empathie, Vertrauen und Kooperation – Qualitäten, die wir in der internationalen Politik derzeit so schmerzlich vermissen. Videospiele könnten die oft noch improvisierten und eindimensionalen Ansätze der Videodiplomatie in Zeiten von Infektions- und Klimaschutz unterstützen.



In Teilen der Wirtschaft ist das schon angekommen: So beschrieb eine Unternehmerin im Mai 2020 in einem vielbeachteten Tweet ein Meeting, das sie statt bei Zoom am Lagerfeuer von Red Dead Redemption 2 abhielt. Warum also nicht die Staats- und Regierungschefs zum nächsten EU-Gipfel am virtuellen Lagerfeuer versammeln, wenn dies der europäischen Handlungsfähigkeit dient?



Erste Handlungsempfehlungen

Gaming-Expertise und Monitoring-Kapazitäten aufbauen: Die deutsche Außenpolitik einschließlich der zivilgesellschaftlichen außenpolitischen Community muss professionelle Kapazitäten aufbauen, die ihr erlauben zu verstehen, wie Videospiele, die Gaming-Community und -Industrie funktionieren – und monitoren, wie autoritäre Staaten diese für ihre Interessen nutzen. Wer das Thema zunächst mit Bordmitteln angehen möchte, hat Glück: Die Erfahrung zeigt, dass viele Organisationen im eigenen Haus Spielende haben. Ein organisationsweiter Aufruf kann ein guter Startpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Thema sein.



Sicherheitslücken schließen: Die EU sollte einen besseren Datenschutz für Spielerdaten einfordern, z.B. das Speichern der Daten auf europäischen Servern, sowie zukünftige Firmenbeteiligungen im Computerspielmarkt stärker prüfen. Die Datenstrategie der Bundesregierung muss Videospiele berücksichtigen. Zudem sollten die Sicherheitsbehörden aufmerksam verfolgen, welche militärischen Fähigkeiten KI durch Computerspiele erlangen kann, und Abwehrstrategien für entsprechende Cyberattacken entwickeln.



Gaming für (Public) Diplomacy: Handelsübliche Videospiele statt Marke Eigenbau: Das liberale Wertemodell sollte proaktiv in der Gaming-Welt verteidigt und die Kompetenz zur Spielanalyse in der Bevölkerung gestärkt werden. Die entscheidende Arena dafür sind Triple A-Blockbuster, die Narrative an Millionen von Spielenden vermitteln. Wer also Videospiele für die außenpolitische Kommunikation in Betracht zieht, sollte, statt selbst „Serious Games“ mit politikdidaktischem Profil zu entwickeln, lieber handelsübliche Spiele kritisch begleiten, auf Plattformen wie Twitch und Discord mit Spielenden diskutieren oder selbst zu transnationalen Gaming-Turnieren einladen. Die Lehre aus den bis dato von politischen Akteuren entwickelten Spielen ist, dass überpädagogisierte Spiele oft nicht die erwünschte Reichweite haben und die erhofften Bildungs- und Kommunikationsziele nicht realisieren. Im Gegenzug sollte die Videodiplomatie von den kooperationsfördernden Mechaniken erfolgreicher Games lernen.

 

Claire Luzia Leifert ist Leiterin des Impact & Innovation Lab der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Manouchehr Shamsrizi, M.P.P. FRSA ist Co-Founder des gamelab.berlin der Humboldt-Universität und beschäftigt sich als Fellow der DGAP mit Gaming in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 92-98

Teilen

Mehr von den Autoren