Viel zu stemmen
Peking steht vor gewaltigen Aufgaben – Ausgang ungewiss
34 Jahre nach Beginn der von Deng Xiaoping in Gang gesetzten Wirtschaftsreformen stößt Chinas Wachstumsmodell an Grenzen. Dass Dengs Revolution unvollendet blieb, zeigt sich an vielen Bruchstellen. Die Bedingungen für Reformen werden schwieriger, und die immer rasantere gesellschaftliche Entwicklung droht der KPCh zu entgleiten.
China erlebt eine entscheidende Phase seiner Entwicklung. Die materiellen Erfolge, die es dank der 1978 begonnenen Wirtschaftsreformen verzeichnen konnte, haben das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und zu einer Großmacht aufsteigen lassen. Aber der letzte große Staat, der von einer Kommunistischen Partei regiert wird, muss heute Probleme stemmen, die erst mit seinem rasanten Wachstum entstanden sind. Wie China dies meistert, ist nicht nur für seine 1,4 Milliarden Bürger, sondern für die ganze Welt von großer Bedeutung.
Nun muss eine neue Generation anpacken, die beim 18. Parteitag der KP Ende des Jahres die Führung übernehmen wird. Die nur einmal alle fünf Jahre stattfindenden Kongresse sind Schlüsselereignisse in einer Nation, die nach dem leninistischen Prinzip geführt wird, dass die Partei mächtiger ist als die Regierung. Wegen der Geheimniskrämerei der Führungsriege wissen wir wenig über die Menschen, die nun an die Spitze des Systems rücken. Klar ist allerdings, dass das System, wie es der oberste Führer Deng Xiaoping nach dem Tod Mao Zedongs errichtete, nun an einen Wendepunkt gelangt ist. Die neue Führung kann sich für einen konservativen Weg entscheiden und somit die Elemente des Erfolgs der vergangenen 34 Jahre unberührt lassen – oder sie kann mit Reformen experimentieren. Setzt sie auf Bewahrung, würde China im politischen Stillstand verharren, könnten sich Gruppen mit ganz eigenen und nachdrücklich vertretenen Interessen mehr Einfluss verschaffen und würde die gesellschaftliche Fragmentierung immer weiter fortschreiten. Nicht auf Anhieb, aber mittelfristig würde sich das sicher auf Chinas Wirtschaftswachstum auswirken. Reformen hingegen würden kurzfristig das Wachstum hemmen, die Inflation stärken und den Einparteienstaat in Frage stellen, der China seit dem Sieg der Kommunisten über die Nationalisten Chiang Kai-sheks im Jahr 1949 ist.
Für einen konservativen Kurs spricht viel. Das existierende System hat es dem Land ermöglicht, endlich wieder einen Status als Großmacht zu erlangen, sich eines zweistelligen Wirtschaftswachstums zu erfreuen und mehr Menschen in kürzerer Zeit als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte zu mehr Wohlstand zu verhelfen. Das heutige China ist ein Land der Superlative: Es ist der größte Automarkt der Welt, verfügt über das größte Netz für Hochgeschwindigkeitszüge, über 538 Millionen Internetnutzer – und 55 Prozent des weltweiten Schweinebestands werden in China gezüchtet. China ist größter Hersteller und Exporteur der Welt und die globalisierte Macht schlechthin, deren Rohstoffbedarf es von Australien bis Angola, vom Persischen Golf bis Brasilien zu decken versucht. Seine Nachfrage nach hochwertigen Maschinen treibt die deutschen Exporte in die Höhe und das Verlangen der neuen Mittelklasse nach Luxusgütern macht das Land zu einem bedeutenden Markt für europäische Modedesigner. Jahr für Jahr ist die Volksrepublik enger mit der restlichen Welt verbunden, nicht nur durch Handel und Chinas ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, sondern auch durch mehr als 60 Millionen Chinesen, die jedes Jahr ins Ausland reisen. In Londoner Kaufhäusern gibt es heute Geldautomaten chinesischer Banken, und einige westliche Hotelketten servieren chinesisches Frühstück.
Die Partei als Heilmittel
Dennoch bleibt Deng Xiaopings Revolution unvollendet. Die Führungsriege hat sich mit entscheidenden Fragen zur Rolle der Partei auseinanderzusetzen – während sich China in rasantem Tempo von der ländlichen, traditionsgeprägten Gesellschaft, die es so lange war, zu einer urbanisierten Informationsgesellschaft mit all den dazugehörigen Fallstricken für die Partei entwickelt. Dies ist ein grundlegendes politisches Problem. Deng, der seit seiner Jugend treuer Parteianhänger war, hatte sich aus zwei Gründen für Wirtschaftswachstum als Ziel seiner Reformen entschieden: um seinem Land wieder Größe zu geben und um das Überleben der Kommunistischen Partei zu sichern. Er hatte genau erkannt, dass Maos Kulturrevolution die KP in einen miserablen Zustand gebracht hatte, und dass die Partei in den drei Jahrzehnten unter Maos Herrschaft ihrerseits entscheidend dazu beigetragen hatte, das Land zu zermürben und in die Armut zu treiben. Mit Dengs Reformen aber sollte sie nun zum Heilmittel werden: zum Vehikel eines wieder errungenen Großmachtstatus Chinas und Initiator eines neuen materiellen Wohlstands. Dass er den Machterhalt der Kommunistischen Partei mit allen Mitteln verteidigen würde, das zeigte Deng mit seinem brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989. Er war es, der das Zwangsjackensystem schuf, das bis heute in Kraft ist.
Es geht also nicht um Wirtschaft, sondern um Politik: Das Regime erlaubt keinen Wettbewerb bei Wahlen, braucht aber Wachstum, um sich Legitimität und die Unterstützung des Volkes zu sichern. Dementsprechend hat die Führungselite unter Hu Jintao, dem Generalsekretär der Partei und Staatspräsidenten, auf die Rezession von 2008 mit einem Konjunkturpaket reagiert, zu dem gewaltige Infrastrukturprojekte und massive Kreditvergaben gehörten. Das aber hatte ungesunde Folgen wie eine übermäßige Abhängigkeit von Investitionen und Kreditausfällen vor allem von Regionalregierungen. Angesichts des schwächer werdenden Wirtschaftswachstums, vor allem in Europa, wollen die Entscheidungsträger in Peking nicht in die Lage geraten, noch einmal das Gleiche tun zu müssen. Statt Exporten und Investitionen soll deshalb künftig die Inlandsnachfrage, die in China im Vergleich zum Westen gering ist, zum Konjunkturmotor werden – ironischerweise hat im kommunistischen Staat bislang das Kapital mehr vom Wachstum profitiert als die Arbeiterschaft. Nun will die Führung weg vom arbeitsintensiven Modell der achtziger Jahre hin zu hochwertigeren Produkten und besserer Technologie.
Das allerdings ist ein langfristiges Projekt, und die Bedingungen sind schwieriger geworden. Gehaltserhöhungen, die der Ankurbelung des Konsums dienen sollten, bringen das Niedriglohnmodell in Gefahr. Die heutigen Unwägbarkeiten der weltwirtschaftlichen Entwicklung führen dazu, dass sich Peking nicht wie in der Vergangenheit auf eine hohe Nachfrage nach seinen Produkten aus dem Westen als Ausgleich für die Mängel seines Binnenmarkts verlassen kann. Und es kann auch nicht darauf zählen, dass die Unterstützung für eine globale liberale Handelsordnung, die für China so außerordentlich nützlich war, weiterhin anhält. US-Präsidentschaftskandidat Mitt Romney hat bereits angekündigt, dass er im Fall eines Wahlsiegs China an seinem ersten Tag im Weißen Haus zum „Währungsmanipulator“ erklären werde. Die Tür zu Handelssanktionen wäre damit geöffnet.
Was bisher nicht geschah
Wie unvollendet Dengs Revolution geblieben ist, zeigt sich an vielen Stellen: Die Märkte für Agrarerzeugnisse und Produkte der Fertigungsindustrie wurden liberalisiert – schwerer wiegt aber, was nicht unternommen wurde, um die umfassend kontrollierte Planwirtschaft der Mao-Ära zu beenden: Wichtige Sektoren, einschließlich Energie und Transport, werden von staatseigenen Unternehmen dominiert. Die Privatwirtschaft hingegen hat es oft schwer, von den großen Staatsbanken Kredite zu erhalten. In allen Unternehmen, egal welcher Größe, gibt es eine Zelle der KPCh, die bei wichtigen Entscheidungen ihr Veto einlegen kann. Besetzungen hochrangiger Posten bei Staatsunternehmen müssen von den zentralen Parteibehörden genehmigt werden. Wohl darf die Stadtbevölkerung Wohneigentum besitzen, landwirtschaftlich genutzte Grundstücke aber gehören dem Staat; sie können an Familien verpachtet werden, aber meist sind die Flächen zu klein, um effiziente Landwirtschaft zu ermöglichen. Um eine sichere Versorgung seiner Bevölkerung zu garantieren – die mit dem Entstehen einer wohlhabenderen Mittelschicht und damit einem größeren Verbrauch an Nahrungsmitteln anspruchsvoller wird – ist China also von guten Ernten abhängig. Die Freizügigkeit von Arbeitskräften wird durch das hukou genannte Registrierungssystem beschränkt. Sie bleiben in ihrem Geburtsort registriert: Arbeitsmigranten in den Städten haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe, den Schulbesuch ihrer Kinder oder den Erwerb von Eigentum. Kapitalmärkte werden ebenso kontrolliert wie die Währung, die Kreditvergabe wird von Darlehensquoten geregelt. Die Preise von Wasser und Energie, beides knappe Ressourcen, werden von der Verwaltung auf niedrigem Niveau festgesetzt und damit alles andere als effizient genutzt.
Von echter Rechtsstaatlichkeit kann keine Rede sein. Richter schwören ihren Amtseid nicht auf den Staat oder das Gesetz, sondern auf die Partei. Korruption ist weit verbreitet und reicht vom Polizisten, der kleine „Gefälligkeiten“ fordert, bis zum kürzlich entlassenen Bahnminister, dem vorgeworfen wird, sich beim Bau des Hochgeschwindigkeitsnetzes in selbst für chinesische Verhältnisse unverschämtem Maß bereichert zu haben. Als jüngst eine Zeitschrift chinesische Grundschüler nach ihren Berufswünschen fragte, gab eine Sechsjährige an, sie wolle Beamtin werden – „eine korrupte Beamtin, weil die all diese schönen Dinge haben“. Der Mangel an Vertrauen zieht sich durch die ganze Gesellschaft und reicht von der Nahrungsmittelsicherheit bis hin zu offiziellen Stellungnahmen. Eine weit verbreitete Redensart lautet: „Glaube nur das, was die Regierung bestreitet.“ Nicht Konfuzianismus oder Kommunismus ist die vorherrschende Ideologie, sondern der Materialismus. Eine junge Frau sagte es in einer Dating-Show so: „Ich würde lieber auf dem Rücksitz eines BMW heulen, als lachend auf dem Gepäckträger eines Fahrrads mitzufahren.“
Es würde enorme Anstrengungen kosten, nur einige dieser Probleme anzugehen – weshalb Staats- und Parteichef Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao dies auch unterlassen haben. Xi Jinping, der beim Parteikongress im Herbst die Führung übernehmen soll, gilt ebenfalls als eher vorsichtig. Tatsächlich zeigt der Sturz von Bo Xilai, dem populistischen Rockstar der chinesischen Politik, dass Vorsicht und Loyalität gegenüber der Partei unerlässlich sind, um in die konsensorientierte Führungsspitze vorzustoßen.
Von der Höhle ins Politbüro
Xi Jinping, heute die führende Persönlichkeit unter Chinas „kleinen Prinzen“ – den Nachkommen der frühen KPCh-Führer –, zeigte trotz oder gerade wegen seiner schwierigen Geschichte ein außerordentliches Geschick, sich im politischen System zurechtzufinden: Er war zehn Jahre alt, als sein Vater, ein Minister unter Mao, 1963 verhaftet und als „Bewährungsmaßnahme“ zur Fabrikarbeit in Luoyang abkommandiert wurde; 1968, mitten in den Wirren der Kulturrevolution, wurde auch Xi „zur Bewährung“ auf einen Bauernhof in Shaanxi in Nordchina geschickt. Drei Jahre lebte er in einer Höhle; in dieser Zeit habe er „mehr Bitterkeit als die meisten Menschen zu schlucken“ gehabt. Aber damals habe er den Pragmatismus als Lebenshaltung entdeckt, und dieser Pragmatismus leite ihn noch immer. Nach der Rehabilitation seines Vaters durch Deng begann Xis politische Karriere. Er bekleidete einige Posten in den wirtschaftlich schnell wachsenden Küstenprovinzen, wurde zum Parteisekretär von Schanghai berufen und beim vergangenen Parteikongress 2007 in den Ständigen Ausschuss des Politbüros, Chinas oberstes Entscheidungsorgan, befördert. Er hatte dann eine Reihe leitender Positionen inne und war u.a. Vizepräsident, stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Militärkommission (an deren Spitze Hu steht) und Vorsitzender der Parteihochschule. Ihm wurde die Verantwortung für die Olympischen Spiele in Peking 2008, die Beziehungen zu Hongkong und Macao und 2009 für die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Bestehen der Volksrepublik übertragen. Er reiste häufig zu Staatsbesuchen ins Ausland und verbrachte vier Tage mit US-Vizepräsident Joe Biden, als dieser 2011 China besuchte, um die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und ihrem größten Gläubiger zu intensivieren. Xi gilt als Vermittler – er wird sich wahrscheinlich nur auf ernste Reformen einlassen, sollten eine Mehrheit des Politbüros dafür stimmen und die Prognosen für China und die Partei dies erfordern.
Li Keqiang, ein Protegé Hu Jintaos, der voraussichtlich Wen Jiabao als Ministerpräsident ablösen wird, hat hingegen die Notwendigkeit von Veränderungen angesprochen; er und andere prominente Persönlichkeiten wie Wang Yang, der für die reichste Provinz Guangdong verantwortlich ist, erkennen, dass Reformen erforderlich sind. Aber die konservativen Kräfte gerade in den Staatsunternehmen sind stark und die Risiken von Veränderungen groß. Strukturelle Wirtschaftsreformen würden die Wachstumsrate kurzfristig um einige Prozentpunkte drücken und die Inflation anheizen – ein Wagnis, das die neue Führung wahrscheinlich nicht wird eingehen wollen. Wenn sie dieses Risiko aber nicht auf sich nimmt, besteht die Gefahr, dass Chinas Wachstum Schritt für Schritt zum Erliegen kommt, sich das Land in der „Middle Income Trap“ verfängt, d.h. in der „Falle“, in der Schwellenländer bei steigenden Einkommen an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen und dadurch auf mittlerem Niveau stagnieren. China würde dann sein Potenzial nicht ausschöpfen können.
Dabei geht es nicht nur um die atemberaubenden wirtschaftlichen Entwicklungen. Die neue Führung hat auch einen enormen Migrationsstrom vor allem junger Menschen zu bewältigen, die vom Land in die Städte ziehen – und nicht nur nach Peking und Schanghai, sondern auch in die Metropolen im Landesinneren. Mit ihrem Programm „Öffnung des Westens“ fördert die Regierung diese Städte, allen voran Chongqing, dessen Bürgermeister Bo Xilai bis zu seinem Sturz war. Mit ihren 32 Millionen Einwohnern, der großen Geschwindigkeit ihrer Entwicklung und ihren von multinationalen Unternehmen gegründeten Fabriken sollte die Stadt Bos Sprungbrett in den Ständigen Ausschuss des Politbüros werden.
In dieser so rasend sich verändernden Gesellschaft genießen immer mehr Chinesen immer mehr Freiheiten – nur nicht im politischen Bereich. Dieser Gegensatz zwischen „individueller Freiheit“ und der brutalen Unterdrückung der politischen Opposition macht es immer schwerer, die Gesellschaft zu kontrollieren. Jedes Jahr kommt es zu rund 150 000 Protesten; oft sind die Behörden dazu gezwungen, Demonstrationen zuzulassen, um den sozialen Frieden zu erhalten. Der explosionsartige Zuwachs bei den sozialen Medien überwältigt die Zensoren mit ihren 30 000 „Cyber-Polizisten“. Während Beobachter normalerweise auf Wirtschaft und Politik blicken, könnte die rasante Entwicklung einer modernen Gesellschaft, die der traditionell restriktiven Politik der KPCh immer mehr entgleitet, zum tatsächlich größten Test für die Regierung werden.
Konfrontationen auf hoher See
Auch in ihrer Außenpolitik wirkt die Führung nicht besonders sicher. Dengs wirtschaftsgetriebene Reformen erforderten gute Beziehungen zu reichen Ländern, deren Nachfrage nach chinesischen Produkten die Schwäche des heimischen Konsums kompensieren sollte. Also stellte der Patriarch die Regel auf, dass sich China in Zurückhaltung üben und auf Wachstum konzentrieren sollte. Aber nun, als weltweit zweitgrößte Wirtschaftsmacht mit starkem nationalistischen Druck und dem Bedürfnis, sich in der restlichen Welt Respekt zu verschaffen, benimmt sich China weniger zurückhaltend, zumindest in seiner unmittelbaren ostasiatischen Nachbarschaft.
Seit 2010 geriet Peking auf hoher See wiederholt mit Ländern wie Japan, Südkorea, Vietnam und den Philippinen aneinander. Der Grund dafür sind Fischereirechte und vermutete Bodenschätze im 2,6 Millionen Quadratkilometer großen Südchinesischen Meer, auf welche die Volksrepublik unter Verweis auf eine Karte aus den vierziger Jahren Anspruch erhebt. Nur sind die Nachbarstaaten in Reaktion auf das Auftrumpfen Chinas unter Washingtons Schutzschirm geschlüpft (siehe den Beitrag von David Shambaugh, S. 38 ff.). Ein Zeichen geschickter Diplomatie war das nicht. Auch wenn Peking seine Marine ausbaut, bleibt China den USA militärisch unterlegen. Es besitzt lediglich einen von der Ukraine gekauften Flugzeugträger, auf dem allerdings noch keine Flugzeuge landen können. Die USA könnten gleich eine ganze Reihe von Flugzeugträgerkampfgruppen entsenden, sollten sie sich dazu entschließen.
Dies wird Pekinger Befürworter eines Ausbaus der Marine nicht von ihrem Traum abhalten, die „Inselkette“ amerikanischer Stützpunkte zu durchbrechen, die von Südjapan über Taiwan bis zu den Philippinen reicht. Chinas drei regionale Flotten hielten vergangenes Jahr zum ersten Mal gemeinsame Manöver im Südchinesischen Meer ab. Im Norden, wo sich Peking und Tokio um die Ryukyu-Inseln im Gelben Meer streiten, haben Japan, Taiwan und die USA chinesische U-Boote in immer größerer Distanz zum Festland gesichtet. Chinas Marine entsandte zehn Kriegsschiffe durch die Meerenge zwischen den Inseln Okinawa und Miyako zu Übungen im Pazifischen Ozean, und das Verteidigungsministerium in Peking kündigte im November 2011 an, dass die Marine regelmäßig Manöver im westlichen Pazifik durchführen werde. Die Schiffe der chinesischen Küstenwache haben ihre Patrouillen in den umstrittenen Gewässern intensiviert und Aufklärungsdrohnen überfliegen das Ostchinesische Meer nahe der koreanischen Küste. Im September 2011 schickte Peking ein „Fischereischutzboot“ zu den umstrittenen Paracel-Inseln, um seine „maritime Souveränität und die Interessen der Fischerei“ zu schützen.
Peking unterbrach 2010 zeitweilig den diplomatischen Kontakt zu Tokio und stellte die Lieferung Seltener Erden nach Japan ein, nachdem der Kapitän eines chinesischen Fischtrawlers nach einem Disput mit der japanischen Küstenwache verhaftet worden war. Und direkt, nachdem der japanische Ministerpräsident Yoshihiko Noda vergangenen September sein Amt angetreten hatte, „begrüßte“ ihn die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua mit der Veröffentlichung einer Liste von Anweisungen: Dazu gehörte, Chinas Interessen vor allem im Fall der umstrittenen Inseln zu achten, „Chinas legitimen Anspruch auf militärische Modernisierung“ anzuerkennen, damit es „seine wachsenden nationalen Interessen verteidigen“ könne. Außerdem möge Noda „aufhören, China als Gefahr zu betrachten“ und nicht länger der „gefährlichen Angewohnheit nachgeben, Chinas Aufstieg als Ausrede zu benutzen“. Auch die Philippinen und Vietnam wurden von Peking scharf verwarnt. Es forderte – allerdings vergeblich –, dass die beiden Länder amerikanischen Kriegsschiffen keine Erlaubnis erteilen, in ihren Häfen zu ankern.
Präzise Definition der Ziele – wenig Mittel
Wer die Außenpolitik in Peking wirklich bestimmt, ist unklar. Außenminister Yang Jiechi scheint über keine große Autorität zu verfügen. Staatskommissar Dai Bingguo, der dem Stab Auswärtige Angelegenheiten der KPCh angehört, steht in der Hierarchie über dem Außenminister. Daneben sind zahlreiche und in ihren Interessen äußerst unterschiedliche Akteure involviert, zu denen das wichtige Handelsministerium, die großen Staatsunternehmen, „Lobbyisten“ für mehr Soft Power, die Volksbefreiungsarmee, die Energie- und Metalllobby und nicht zuletzt der Sicherheits- und ideologische Arm der Partei gehören, dessen Aufgabe es ist, „schädliche“ ausländische Einflüsse fernzuhalten.
China definiert seine „zentralen“ außenpolitischen Interessen präzise: die Bewahrung des existierenden politischen und wirtschaftlichen Systems und der territorialen Einheit, die Tibet, die muslimisch geprägte Provinz Xinjiang und den Anspruch auf Taiwan einschließt. In logischer Konsequenz verficht China das Prinzip der Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten souveräner Staaten. Es verfolgt eine „Ressourcendiplomatie“, die darauf abzielt, die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen. Als kohärente Außenpolitik einer Supermacht ist das nicht zu bezeichnen. Eher schon fragt man sich, ob Peking eine ganze Reihe verschiedener Absichten zu verschiedenen Zeiten auf verschiedenen Wegen mit verschiedenen Akteuren verfolgt. Wie kann es den Status eines ständigen Mitglieds im UN-Sicherheitsrat im Rang einer globalen Großmacht einfordern, wenn es sich wiederholt weigert, die Verantwortung zu übernehmen, die damit verbunden ist? Seine schwankende Politik in Sachen Libyen, als es gegen die Flugverbotszone kein Veto einlegte, dann aber Frankreich vorwarf, Maßnahmen gegen Gaddafi zu ergreifen, ist nur ein Beispiel für die Probleme, mit denen sich Peking konfrontiert sieht. Syrien liefert ein weiteres Beispiel für Chinas zögerliche Diplomatie.
Peking fordert eine Reform des internationalen Finanzsystems und entrüstet sich über die Dominanz des Westens. Alternative Modelle hat es allerdings noch nicht vorgebracht. Es wendet viel Geld für „sanfte Diplomatie“ auf, finanziert spektakuläre Shows und die Gründung von Konfuziusinstituten, die, staatlich gelenkt, der Verbreitung der chinesischen Kultur dienen sollen. Aber es fällt dem Land schwer, andere für sich einzunehmen.
Das Vertrauen in den „friedlichen Aufstieg“ Chinas wird auch durch die stetige Ausweitung des Verteidigungshaushalts mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten nicht gerade gefestigt. Wenngleich sich die Rüstungsausgaben der Volksrepublik nur auf 8 Prozent der globalen Aufwendungen belaufen (die Ausgaben der USA liegen bei 41 Prozent), arbeitet China an Tarnkappenbombern, Antisatellitenraketen und verbesserten Kommunikationssystemen ebenso wie an seinem primären Ziel der maritimen Expansion. Derzeitig besitzt es nur 80 Überwasserschiffe (einschließlich des einen Flugzeugträgers) und 70 U-Boote. Hu Jintao unterstrich im Dezember 2011 aber die Bedeutung der Marine, als er forderte, dass sie „umfassende Vorbereitungen für Kampfhandlungen treffen“ solle. Ein Stützpunkt für atomar angetriebene, mit ballistischen Raketen bestückte U-Boote, der auch für Offensiven genutzt werden kann, wurde bereits in Sanya auf der Insel Hainan errichtet. Zudem gibt es Berichte über einen Seezielflugkörper, den die NATO „Sizzler“ nennt, der von tauchenden U-Booten aus abgefeuert werden kann, eine Reichweite von 200 Meilen besitzt und mit dreifacher Schallgeschwindigkeit fliegt. Auch ein „Dongfeng“ genannter weiterer Raktentypus wird derzeit entwickelt, der angeblich in der Lage ist, einen 2000 Meilen entfernten Flugzeugträger zu versenken. Die Marineluftwaffe wird auf 200 Flugzeuge ausgebaut.
Die Falken in der Volksbefreiungsarmee geben sich kriegerisch. General Liu Yuan, politischer Kommissar der logistischen Abteilung und Mitglied des Zentralkomitees der KPCh, erklärte 2011, die Geschichte werde eben „mit Blut und Schlachten geschrieben“. Die wichtigste nationale Stimme, die Boulevardzeitung Global Times, nannte Vietnam und die Philippinen „kleine Länder“, die sich „auf den Klang von Kanonendonner“ gefasst machen könnten, falls sie die Souveränität Chinas über das Südchinesische Meer anzweifelten. Die Überschrift eines Leitartikels lautete: „China kann nicht nur auf Verhandlungen setzen – wir müssen, falls nötig, einen töten, um hundert abzuschrecken.“
Dies brachte einige amerikanische Kommentatoren dazu, China als expansionistische Macht zu beschreiben, in Analogie zu Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Es setze auf den Niedergang der USA, um seiner eigenen Macht weltweit Geltung zu verschaffen. Tatsächlich aber weiß China um seine militärischen Grenzen und um den wirtschaftlichen Nutzen sanfter Diplomatie. Peking ziele darauf, so der ehemalige Generalstabschef der USA, Admiral Mike Mullen, den Zugang amerikanischer Streitkräfte in der Region einzuschränken, anstatt die Konfrontation zu suchen. Den Nationalisten in der chinesischen Gesellschaft mögen die martialischen Töne gefallen. Die politische Klasse hingegen weiß: Die USA werden auf absehbare Zeit die bedeutendste Militärmacht in Ostasien bleiben. Und jeder ernsthafte Versuch, dies in Frage zu stellen, wird andere Länder nur noch weiter in Amerikas Arme treiben.
JONATHAN FENBY war Chefredakteur des Observer und der South China Morning Post; er ist Autor des China-Buches „Tiger Head, Snake Tails“ (2012).
Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 8-16