Was Chinesen wirklich wollen
Ein Interview mit dem China-Experten Tom Doctoroff
Bitte keine großen Veränderungen: Die Chinesen stellen Konventionen und Hierarchien nicht in Frage. Menschen, die anders sind, werden als Bedrohung wahrgenommen. In diesem Klima entstehen keine Räume für bahnbrechende Innovationen. Auch Demokratisierung im westlichen Sinne ist nicht zu erwarten, allenfalls transparentere und effizientere Strukturen.
IP: Nach 30 Jahren beispiellosen Booms knirscht es im Gefüge des chinesischen Wirtschaftsmodells, viele sehen das Land derzeit an einem Wendepunkt. Sie auch?
Tom Doctoroff: China hat sich ganz sicherlich mit der Frage zu beschäftigen, wie es sich weiterentwickeln und sein Wachstum aufrechterhalten kann. Aber von einem Wendepunkt zu sprechen, halte ich nicht für angemessen. Das würde bedeuten, dass es einen Paradigmenwechsel geben muss, anstatt das jetzige Modell effizienter zu gestalten. Chinas wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung ist der Erhalt des bestehenden Wachstumsmodells, zu dem mehrere Elemente gehören: eine strikt von oben nach unten funktionierende Befehls- und Kontrollstruktur; Urbanisierung und die Entwicklung ländlicher Regionen – eine gewaltige Aufgabe, die im Ausland oft vergessen wird und im Grunde einem erfolgreichen „großen Sprung nach vorn“ gleicht; Menschen mit Jobs niedriger Produktivität zu solchen mit höherer zu verhelfen; Exportabhängigkeit, wobei die Binnennachfrage zulegen muss. Kurz: Ich denke nicht, dass ein radikaler Schwenk bevorsteht weg von dem, was Chinas Wachstum in den vergangenen 30 Jahren angetrieben hat. Es wird darum gehen, die „Middle Income Trap“ zu vermeiden, das Steckenbleiben auf mittlerem Niveau. Zugleich muss der Wohlstand, den die Mittelschicht schon genießt, auch die Ärmeren in der Gesellschaft erreichen – und dafür muss die Regierung sorgen. Damit dieser Wohlstandstransfer aber funktionieren kann, muss der Prozess der Urbanisierung weitergehen, und das bedeutet: Die Menschen, die in die Städte abwandern, müssen sich darauf verlassen können, dass sie einen fairen Verkaufspreis für ihr Land bekommen, und dafür wäre eine Bodenreform notwendig. Und sie müssen sich in der Stadt aufgehoben und sicher fühlen. Dafür wäre eine Reform des hukou, der Einwohner- und Niederlassungsgesetze, notwendig, die den Migranten anders als bislang vollen Zugang zu Sozialleistungen gewähren würde.
Um all das umsetzen zu können, muss eine breitere Mittelschicht heranwachsen, der ein besseres Gesundheitssystem zur Verfügung steht und die einen größeren Schutz ihres Eigentums genießt. Das wird nicht gehen ohne größere politische Transparenz, ohne Partei, die auf die Bedürfnisse der Bürger eingeht, und ohne unabhängigere Institutionen, die wirtschaftliche und zu einem gewissen Grad auch politische Interessen schützen können.
Wenn aber von Wendepunkt die Rede ist, dann geht es meist um einen Wandel hin zu echten demokratischen Strukturen. Ich glaube aber nicht, dass dies in China auf absehbare Zeit geschehen wird, jedenfalls nicht, wenn man Demokratie im westlichen Sinn als repräsentative Demokratie definiert. Den Chinesen schwebt eher ein System vor, in dem ihre Anliegen mehr Gehör finden, das transparenter und effizienter ist. Sie haben an ihren Regierungen schon immer technokratische Effizienz bewundert – die sich eben noch stärker in den Gemeinde- oder Provinzverwaltungen durchsetzen muss. Es geht also um Straffung, nicht um eine fundamentale Neuerfindung.
IP: Es gibt aber immer mehr Funktionsträger, die in Entscheidungsprozesse involviert sind oder sein wollen – seien es die Direktoren staatlicher Großbetriebe, Provinzfürsten der KP oder Gouverneure. Wäre hier nicht ein Modell ganz nützlich, das mehr institutionalisierte Partizipation erlaubt?
Doctoroff: Absolut! Ich denke, dass mehr „enfranchisement“ – das Wort, das ich in diesem Zusammenhang am liebsten verwende, also eine umfassendere Übertragung von Stimmrechten – notwendig ist, was auch passiert. Schon vor etwa einem Jahrzehnt schwang das in Jiang Zemins Theorie „des dreifachen Vertretens“ mit: Die Regierung sollte die fortschrittlichsten Produktivkräfte, die fortschrittliche Kultur und die Interessen der breiten Massen einbeziehen, was wiederum ein Code dafür war, auch Unternehmer in die Partei aufzunehmen. Jenseits von Lippenbekenntnissen kam es allerdings kaum dazu. Es muss aber eine größere Verbindung zwischen allen Schichten der Gesellschaft und der politischen Führung und eine größere Rechenschaftspflicht der Politik geben – ein Konzept, das China im Übrigen nicht fremd ist. Wie das funktionieren könnte, weiß ich allerdings auch nicht; die Mechanismen, die nötig sind, um ein Chaos zu verhindern, sind mir nicht bekannt.
IP: Glücklicherweise müssen Sie sich diese Mechanismen ja nicht ausdenken, das ist die Aufgabe der chinesischen Regierung.
Doctoroff: Wohl wahr. Wie China weiter ohne Gewerkschaften auskommen soll, kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Sie wären natürlich in gewisser Weise gesteuert, und auch die Partei wäre repräsentiert. Dass gesellschaftliche Organe wie Gewerkschaften aber gänzlich unabhängig von der Regierung sein könnten, von dieser Vorstellung, meine ich, sollten wir uns verabschieden. Auch in der Art, wie die Regierung mit der digitalen Revolution umgeht, sehen wir eine Form der Partizipation: Man beobachtet die Aktivitäten der Bevölkerung im Internet oder via Sina Weibo, der chinesischen Variante von Twitter, sehr genau. Aber das dient nicht allein der Kontrolle, es ist auch ein Instrument der „Meinungsforschung“, mit dem die Regierung zu verstehen versucht, was die Menschen beschäftigt und was sie stört.
All das sind keine institutionalisierten Formen der politischen Partizipation, und um diese herzustellen, wäre eine Umgestaltung des Institutionengefüges notwendig, mit der den Bürgern gewisse Rechte eingeräumt würden. Dass sich dabei unabhängige Organe entwickeln werden, glaube ich nicht. Vielleicht könnte man damit in hoch reglementierten Geschäftsbereichen beginnen, aber auch das kann ich mir nicht vorstellen. Vermutlich sind deshalb viele Chinesen besorgt, die im Allgemeinen ja nicht zu Pessimismus neigen: Niemand weiß so richtig, was die Zukunft bringen wird. Das Beispiel Singapur allerdings zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, ein hohes Maß an gesellschaftlicher Kontrolle zu behalten und doch Transparenz, Effizienz und gewisse Mechanismen der Selbstkorrektur zu garantieren.
IP: Sie haben das Internet erwähnt, von dem Sie in Bezug auf China geschrieben haben, auch dort sei zu beobachten, dass Individualismus westlicher Prägung unbekannt sei; vielmehr sei es in China die Norm, sich hinter Avataren oder Pseudonymen zu verstecken, wenn man sich online kritisch äußert. Ist das nicht auch ein Ausdruck von Individualismus? Zudem schwappt Online-Kritik immer öfter in die Realität über, Kritik in sozialen Netzwerken setzt sich in Demonstrationen auf der Straße um …
Doctoroff: Das stimmt. Und was mich an diesen – ich hasse dieses Wort, aber dennoch – „kollektiven Demonstrationen“ interessiert, ist, ob es eine einzelne, individuelle Führungspersönlichkeit einer solchen Bewegung gibt. Darauf habe ich bislang keine Antwort. Anfang Juli kam es zum Beispiel zu Demonstrationen gegen den Bau eines Kupferwerks in Shifang; die Leute fürchteten größere Umweltbelastungen und setzten sich erfolgreich zur Wehr. Die eigentliche Frage lautet aber: Wird es eine Kultur des Aktivismus geben? Und meiner Meinung nach wird die auf sich warten lassen. Das Internet ermöglicht es, aus kleineren Gruppen eine „kritische Masse“ wachsen zu lassen, und die geht dann hinaus und demonstriert. Kritik kann auf die Offline-Welt übergreifen, aber man muss seine Begriffe definieren. Wenn ich „individuell“ sage, meine ich, dass die Gesellschaft den Einzelnen dazu ermutigt, sich selbst unabhängig von der Gesellschaft zu sehen. Das Individuum stellt die Konventionen in Frage, und dafür erhält es Lob oder Zuspruch. China ist aber noch immer eine Gesellschaft, in der jeder, der die Konventionen in Frage stellt, gefährdet ist – oder sich zumindest emotional sehr unsicher fühlt. Und ich spreche nicht nur über Demonstrationen …
IP: China hat sich zur Werkbank der Welt entwickelt. Kann China – ein Land mit einer Kultur, in der Werte wie das Ehren der Eltern, der Familie und des Kollektivs tief verankert sind und nicht in Frage gestellt werden – im 21. Jahrhundert eine innovative Ökonomie hervorbringen?
Doctoroff: Ich denke, dass China die Wertschöpfungskette weiter hinaufklettern und aufgrund seiner grundlegenden Fähigkeiten in der Herstellung seinen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Schwellenländern behaupten wird. Deshalb finden immer mehr chinesische Güter unter chinesischen Markennamen ihren Weg in die Märkte der Schwellenländer. Sogar auf osteuropäischen Märkten wächst neuerdings die Nachfrage nach chinesischen Autos. China ist also sehr gut im Bereich „schrittweiser“ Innovation, die sich in einem unternehmerischen Umfeld und bei steigenden Standards vollzieht, jedenfalls solange es ein Paradigma gibt, mit dem diese Standards vereinbar sind. Ich denke außerdem, dass China im eigenen Land auch gut in Sachen „einfacher“ Innovation sein kann, und damit meine ich, dass es aus weniger Geld mehr Nutzen für mehr Menschen gewinnen kann. Das weicht von der indischen Definition „einfacher“ Innovation ab, weil sich diese dort oft mit großer Kreativität paart. Aber allein Chinas Möglichkeiten, schiere Masse zu nutzen, um die Kosten in der Wertschöpfungskette zu reduzieren, lassen einen doch immer wieder staunen. Also, ich glaube, dass China sowohl „schrittwei-
se“ als auch „einfache“ Innovation beherrscht. Was aber „bahnbrechende“ Innovationen angeht: Davon habe ich bislang noch kein Beispiel gesehen, selbst auf der untersten Stufe nicht. Und „bahnbrechender“ Innovation entspringen die starken Marken und neue Produktkategorien. Dies, denke ich, steht im direkten Zusammenhang nicht nur mit der Struktur der chinesischen Gesellschaft und ihrer Werte, sondern auch damit, wie Unternehmen und Betriebe diese Struktur und Kultur widerspiegeln. Wenn Sie mit einem chinesischen Unternehmen zusammenarbeiten, merken Sie schnell, dass Innovation im „bahnbrechenden“ Sinne ein Ding der Unmöglichkeit ist: Absatz steht über dem Marketing, Hierarchien sind hermetisch abgeschlossen, der Wettbewerb verläuft stark horizontal und nicht vertikal, die Rechte von Aktionären oder Anteilseignern sind nur schwach ausgeprägt und die Unternehmensführungen haben keinerlei Anreize, für eine langfristig positive Entwicklung des Aktienkurses zu sorgen. Menschen, die anders sind, werden als Bedrohung wahrgenommen. Die in Amerika geborenen Chinesen („American-Born Chinese“ oder ABCs) und Auslandschinesen, die nach China gekommen sind, werden nicht wirklich in die chinesische Wirtschaft integriert. Es gibt also viele strukturelle Faktoren, die wirkliche Innovation verhindern. Und solange China keine große Krise erlebt – und das scheint mir für die nächsten Jahrzehnte kaum der Fall zu sein –, werden wir nicht wissen, ob eine weltgewandtere Generation, die abstrakt, konzeptionell und auch quer denken kann, Veränderungen innerhalb der Unternehmen herbeiführen wird.
IP: Können Sie sich das bei der so genannten „Post 90“-Generation vorstellen – Sprösslinge der Ein-Kind-Politik und oft, entschuldigen Sie die Wortwahl, verwöhnte Balgen? Verhält sich diese Generation noch am ehesten individualistisch oder vielleicht sogar ein wenig provokant? Oder spürt sie ganz besonders eine Last, die Tradition weiterzutragen?
Doctoroff: Wohl eher letzteres. Dabei muss man beachten: Ego ist nicht gleich Individualismus. Die Egos sind bei der neuen Generation der Einzelkinder und den „kleinen Kaisern“ aus zwei Gründen gigantisch: Den ersten haben Sie bereits genannt: Sie tragen die Last aller Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft auf ihren Schultern. Das ist eine Belastung, und es gibt viele neurotische Kinder, die nicht gut sozialisiert sind, was zum zweiten Grund führt: Ihr Gefühl für die eigene Wichtigkeit ist überdimensioniert. Sie genossen die Vorteile eines guten, fordernden, aber nicht überlasteten Bildungssystems, sie wurden von der Großfamilie verwöhnt – alles blieb in einem sehr traditionellen Rahmen. Sie sind also sehr selbstgefällig, verharren aber in dieser Konvention. Ich sehe einfach nicht, wie sich ein stärkerer Individualismus entfalten soll, und das bestätigt sich auch in meiner persönlichen Beobachtung: Ich bin Chef einer Werbeagentur, die eigentlich die Avantgarde kreativer, individueller Selbstentfaltung und -erkundung sein sollte. Aber in der Hierarchie meiner Firma kommen die Leute nur genauso weit wie schon vor 15 Jahren – weil sie eben nicht individualistisch genug sind, Konventionen oder Hierarchien, inklusive des Chefs, in Frage zu stellen. Und ich bin ein ziemlich netter Chef!
IP: Weiwei Zhang, Autor von „The China Wave“, das in China enorme Verkaufserfolge erzielt, argumentiert in eine ganz andere Richtung: China sei ein Land sui generis, eine Zivilisation und kein Staat, die im Übrigen vom Westen nichts zu lernen, sondern ihm etwas beizubringen habe. Gerade in der Außenpolitik sollte es sich nicht scheuen, selbstbewusst aufzutreten. Spiegelt sich das gerade in Chinas reichlich bestimmtem Auftreten im Südchinesischen Meer wider?
Doctoroff: Ja und Nein. Lassen Sie es mich klar sagen: Die chinesischen Herrschaftsansprüche über das Südchinesische Meer sind lächerlich. Die Regierung hat sich selbst in eine dumme Lage gebracht, als sie diese als „sakrosankte Interessen“ definierte, weil die Ansprüche letztlich unhaltbar sind. Aber China hat seine Interessen immer energisch verfolgt und verteidigt und wird dies auch weiterhin tun. Das zeigt sich in Afrika oder bei den WTO-Verhandlungen. Die Chinesen haben eine penible Buchhalter-Mentalität, wenn es um eine Kosten-Nutzen-Rechnung geht. Als Konsumenten sind sie mit Abstand die preisbewusstesten Menschen der Welt. Allerdings ist China immer noch eine schutzbedürftige Gesellschaft. Chaos gilt als das ultimative Böse, und dem Land ist bewusst, dass es sein jetziges Wachstumsmodell nur durch Integration in das Gefüge von multinationalen und multilateralen Institutionen aufrechterhalten kann. Tief im Innersten haben die Chinesen Angst, keine Freunde, oder besser, keine Partner zu finden. Diese Taktik des ewigen Hin und Her wird weitergehen, denke ich. In dem Maße, in dem seine wirtschaftliche Macht wächst, wird auch Chinas außenpolitisches Auftreten auftrumpfender werden. Wir werden ein viel selbstbewussteres China erleben, eines, das sich auch mal kontraproduktive Fehltritte leistet. Aber es wird nie offen irgendwo intervenieren, es wird nicht ohne die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft handeln, weil es von ihr abhängig ist. Deshalb bin ich übrigens ein großer Fan von US-Präsident Barack Obama: Er hat es sehr gut verstanden, China zu vermitteln, dass wir kein Interesse daran haben, es in seinem Aufstieg zu bremsen, aber dass es rote Linien gibt, die nicht überschritten werden dürfen. Diese roten Linien können sich verschieben, aber China wird nie imstande sein, isoliert zu existieren, denn es hat einfach nicht die wirtschaftlichen Stärken, die dem Westen innewohnen. Niall Ferguson beschreibt es ähnlich in seinem Buch „Der Westen und der Rest der Welt“ …
IP: … in dem er von den Killer-Apps des Westens spricht?
Doctoroff: Genau, wenngleich die Formulierung Killer-App natürlich nur eine Verkaufstaktik ist. Mir gefiel seine grundlegende Betrachtung des mehrdimensionalen Institutionalismus des Westens – was China völlig fehlt. All die Vorteile, die aus unparteilichen Institutionen im Westen resultieren – von der Konsumgesellschaft hin zur Innovationsfähigkeit – wird China auf Jahrzehnte nicht haben, wenn es sie je haben wird. Schanghai, wo unsere Niederlassung angesiedelt ist, ist eben nicht gleich China. Bestünde das Land nur aus Schanghai, würde es sich entweder ähnlich wie Taiwan oder Hongkong in einer Blase entwickeln oder dem Weg Singapurs folgen. Aber China als Gesamtheit wird mit einer Menschenwelle nach der anderen konfrontiert sein, Generation auf Generation wird vom Land in die Stadt streben; das muss organisiert werden und deshalb wird es ein patriarchalisches Kommando- und Kontrollsystem geben müssen. Ja, mehr Partizipation und mehr Transparenz werden notwendig sein; letztendlich aber sind die gesamte Mittelschicht und sogar die wohlhabendsten Chinesen davon abhängig, dass die Zentralregierung die öffentliche Ordnung aufrechterhält, denn China muss diese Evolution quer durch eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen bewältigen. Kurz: China wird stets mit Kulturen und Gesellschaften zusammenarbeiten müssen, die Stärken haben, die es selbst nicht besitzt.
IP: Sie haben Chinas Verhalten auf der Weltbühne als passiv-aggressiv beschrieben. Sehen Sie eine Zukunft, in der China eine konstruktivere Haltung einnehmen könnte?
Doctoroff: Nein. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Es wird auf pragmatische Weise konstruktiv sein, aber hauptsächlich im Sinn seiner eigenen Interessen handeln. Die chinesische Politik in der Finanzkrise ist konstruktiv. Während der asiatischen Finanzkrise 1997 verhielt sich China auch sehr konstruktiv. Selbst in Syrien wird es am Ende tun, was getan werden muss. Aber wird China je Teil einer Völkergemeinschaft sein, als Bruder unter gleichen, durch gemeinsame Werte verbunden, und Dinge tun, einfach weil es richtig ist, sie zu tun? Nein!
IP: Kann China als Entwicklungsmodell für andere Länder dienen?
Doctoroff: Chinas Weltbild ist Chinas Weltbild. China ist kein Ziel für andere Nationen. Es repräsentiert eben kein neu entstehendes Wirtschaftsmodell, weil das Modell von heute zeitlosen kulturellen Imperativen entspringt, die zutiefst chinesisch oder zumindest konfuzianisch sind.
IP: Das heißt: Es ist zu wenig universell, um ein Vorbild für andere Länder zu sein?
Doctoroff: Es wird eine gewisse Vorbildfunktion einnehmen, die sich aus seinem Wohlstand ergibt. Manche verweisen auf China, um auf die angeblichen Vorteile eines „gelenkten Kapitalismus“ zu verweisen – oder wie immer man das Modell nennen will. Wenn man sich aber ansieht, was an der industriellen Basis geschieht, wie dort Wirtschaftskraft entsteht, wie es um das Vertrauensverhältnis zur Spitze der Unternehmen und zur Zentralregierung steht, dass es so gut wie keinen demokratischen Impuls gibt – dann kann ich nicht erkennen, was daran für andere so erstrebenswert sein könnte. Wirklich nicht.
Die Fragen stellten Henning Hoff und Sylke Tempel
Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 24-30