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01. Mai 2007

Dokumenta ohne Dogma

Kultur

Vom Fortschrittsglauben kuriert: Die Kunst nimmt Abschied von der Avantgarde

Die Dokumenta in Kassel, die zwölfte Weltkunstausstellung unserer Gegenwart, wird dieses Jahr, wenn nicht alles täuscht, zum ersten Mal mit dem Dogma der Avantgarde brechen und eine tiefe Verbeugung vor der Aktualität alter Kunst wagen. Eine persische Miniatur aus dem 14. Jahrhundert wird das geheime Zentrum ausgerechnet einer Leistungsschau moderner Kunst bilden. Das wäre, nähme man die europäische Kunstgeschichte früherer Jahrhunderte zum Maßstab, nichts Außergewöhnliches. Die Einführung des Neuen ging immer mit einer Verbeugung vor dem Alten einher. Erst das 20. Jahrhundert wollte von den ästhetischen Traditionen nichts mehr wissen; das Moderne in der Kunst galt dem Modernen in Gesellschaft und Technik nur dann angemessen, wenn es von der Vergangenheit nichts mehr verriet – so wie in der totalitären Massengesellschaft und vollelektrisierten Maschinenwelt scheinbar nichts mehr an die überkommenen Maße und Maßstäbe erinnerte.

Das war das „Dogma der Avantgarde“, wie es der Frankfurter Kunsthistoriker Eduard Beaucamp genannt hat: keinen ästhetischen Rückgriff zu dulden, weil ein solcher zugleich als politischer, sozialer, womöglich moralischer Rückschritt gegolten hätte. Es bedurfte erst des Elends und langen Sterbens der sozialistischen Staatenwelt, um die Idee des Fortschritts zu ruinieren, die der Sozialismus für sich reklamiert hatte, und sich langsam an den Gedanken eines Rückschritts in die bürgerliche Welt zu gewöhnen, ja überhaupt die Idee des Rückschritts als eine humane Option zu erwägen. So geschah es aber tatsächlich, auch in den Gesellschaften des Westens, die auf andere Weise vom Fortschritt ernüchtert wurden. In der Gesellschaft erwies sich der Mensch stärker als der totalitäre Imperativ des Neuen; nicht aber in der Kunst. Ihr blieb der Imperativ des Neuen, die hegelianische Vorstellung eines unaufhörlichen Voranschreitens, bis in jüngste Zeit erhalten. Die Gesellschaft nach Hitler und Stalin wurde, indem sie sich rehumanisierte, wieder altmodisch, während die Kunst einsam den Fortschritt behauptete. Blieb sie dem Inhumanen verpflichtet?

Darum geht seit einigen Jahren ein zähes und erbittertes Ringen in der Kunstwelt. Die Frage nach dem politisch Reaktionären lässt sich nicht mehr so leicht mit der Frage nach dem ästhetisch Reaktionären verknüpfen, wie das noch bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts geschah. Der Dualismus von Fortschritt und Reaktion überhaupt ist strittig geworden, oder besser gesagt: Die Menschen haben nicht mehr den Eindruck, ihn am Werk sehen zu können. Die Geschichte bewegt sich für sie nicht erkennbar und schon gar nicht in irgendeine Richtung.

Das ist neu. Heinrich von Treitschke, der die Menschheitsentwicklung im preußischen Staat kulminieren sah, hatte durchaus noch Nachfolger in der alten Bundesrepublik – nicht wenige ihrer Historiker sahen die BRD als glücklichen Schlusspunkt, wenn nicht der Menschheits-, so doch der deutschen Geschichte (von dem Wurmfortsatz der DDR wurde dabei als historisch verirrter Wucherung großmütig abgesehen). Wer das Bonner Haus der Geschichte besucht, kann sich noch einen Eindruck von dieser teleologischen Geschichtsauffassung verschaffen: Hier kulminiert die Nachkriegsgeschichte, als sei ein Treitschke der Bundesrepublik am Werk gewesen, in VW Golf und der Wiedervereinigung, das heißt im Sieg von Wolfsburg über Wartburg und im glücklichen Absterben des sozialistischen Wurmfortsatzes.

Das sollte mitbedenken, wer von dem wieder entflammten Berliner Parteienstreit um die Treitschkestraße hört, in dem es zunächst nur um den Antisemitismus Treitschkes geht. Tatsächlich ist jedoch der Hass auf Minderheiten, Klassen, Weltanschauungen stets der natürliche Begleiter teleologischer Geschichtsbilder gewesen. Wo etwas siegt (Preußen, die Bundesrepublik), muss auch etwas untergehen (die Juden, der Kommunismus). Ein Sieg ist überhaupt nicht denkbar ohne eine Niederlage, und ein wirklicher Sieger muss an ihr auch mitgearbeitet, also den Untergehenden beim Untergehen geholfen haben. Und in der Tat haben die Fortschrittsfreunde immer geholfen; die Bolschewisten beim Untergang der bürgerlichen Klassen, die Treitschke-Schüler beim Untergang minderwertiger Rassen. Es ist dieses historische Paradigma, das den Fortschrittsglauben in der Kunst fragwürdig machte, ihm jedenfalls den Anspruch auf eine humane Botschaft bestreiten musste. Es liegt keine Entlastung darin, dass Kunstfortschritt und Gesellschaftsfortschritt im 20. Jahrhundert spiegelverkehrt siedelten: die traditionelle Kunst im progressiven Sozialismus, die progressive Kunst im reaktionären Kapitalismus. Denn jede Gesellschaft sucht die Kunst zur Camouflage – oder umgekehrt: Die Kunst braucht die umgebende Gesellschaft als Maske. Nur weil im Kapitalismus die bürgerlichen Freiheiten überlebten, konnte die abstrakte Westkunst von ihrem ästhetischen Totalitarismus ablenken.

Von diesem ideologischen Hokuspokus hat uns die Jahrtausendwende erlöst, und es ist daher nur konsequent, wenn die Dokumenta darauf reagiert – nachdem ihre Vorgänger noch die Nachhutgefechte schlagen mussten, die 10. Dokumenta auf dem Felde der Theorie und die 11. sogar noch, indem sie die soziale Nützlichkeit der Kunst nachzuweisen suchte, als sei eine neue Erziehungsdiktatur schon in Sichtweite, der sich die Künstler beizeiten andienen sollten.  

JENS JESSEN, geb. 1955, war Feuilletonredakteur der FAZ, Feuilletonchef der Berliner Zeitung und ist seit dem Jahr 2000 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 108 - 109.

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