Verarbeiten, verurteilen, verhindern
Genozid und internationale Gemeinschaft
An ambitionierten Analysen und guten Ratschlägen zum Thema Völkermord herrscht kein Mangel. Eine schlüssige Idee, wie man ihn unterbinden kann, war bislang nicht dabei. Nur eines scheint sicher: Mit einer Übertragung der Verantwortung von den UN auf regionale Organisationen könnte auch nicht weniger unternommen werden, als es zurzeit der Fall ist.
Über Völkermord ist in den vergangenen Jahren viel geschrieben und gestritten worden. Wir kennen seine Ursachen und die Umstände, unter denen es zu einem Genozid kommen kann, besser als je zuvor – und doch bleibt es fraglich, ob wir bei der Verhinderung solcher Verbrechen wesentlich weiter gekommen sind. Mehr als mit allen anderen Fällen von Genozid haben wir uns dabei mit dem Holocaust, dem Mord an den europäischen Juden, auseinandergesetzt – nicht nur der systematischste und umfassendste Massenmord der Geschichte, sondern mittlerweile auch der am besten dokumentierte. Dennoch hatte es in Deutschland mehr als ein Jahrzehnt und in anderen Ländern sogar bis weit in die neunziger Jahre hinein gedauert, bis eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust begann. Eine Zurückhaltung, die sich nicht nur auf die arabischen oder kommunistisch regierten Länder beschränkte, wo politische Widerstände einen echten Diskurs verhinderten. Auch in den demokratischen Gesellschaften des Westens empfand man die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der europäischen Juden zunächst als unangenehm. Hinzu kommt, dass die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und die Notwendigkeit, einigermaßen normale Verhältnisse herzustellen, alle anderen Probleme überschatteten. Und was die jüdischen Gemeinschaften angeht, so wollten die meisten Überlebenden weder über das Erlebte sprechen – noch wollte man sie hören.
Verspätete Gerechtigkeit, verweigerte Gerechtigkeit
Die Beschäftigung mit dem Holocaust begann auf verschiedenen Ebenen, zu denen neben dem – zweifellos unzulänglichen – Versuch einer Entschädigung der Opfer die juristische Befassung mit den Tätern und eine historische Erforschung gehörte. All das war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. So wurden zwar einige Täter unmittelbar nach Kriegsende gefasst und bestraft. Doch auch wenn der Mord an den Juden Europas keineswegs der erste Genozid der Geschichte war, gab es im Völkerrecht keinen entsprechenden Tatbestand. Nach dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ (keine Strafe ohne Gesetz) war „nur“ eine Bestrafung wegen Kriegsverbrechen möglich. Erst 1951 trat die UN-Völkermord-Konvention in Kraft. Eine umfassendere juristische Auseinandersetzung begann in Deutschland 1958 mit dem „Ulmer Einsatzgruppenprozess“, dem 1961 der Eichmann-Prozess in Jerusalem und ab 1963 die Frankfurter Auschwitz-Prozesse folgten. Doch es waren nicht nur die Holocaust-Täter, die in ihrer Mehrheit so spät für ihre Verbrechen belangt wurden. Der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milosevic etwa wurde erst im April 2001, zwei Jahre nach der Anklageerhebung, vor das Den Haager Tribunal gestellt. Er verstarb während seines Prozesses, im März 2006. Radovan Karadzic, einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Srebrenica, konnte erst im Juli 2008 gefasst werden.
„Verspätete Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit“ – dieser Grundsatz findet sich in ähnlichen Worten bereits in der Magna Carta aus dem Jahr 1215. Die Ahndung von Verbrechen lange nach der Tat bringt eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Der größte Teil der Angeklagten ist in der Regel entweder geflohen oder verstorben, Zeugen sind schwer aufzutreiben, und wo das gelingt, bestehen Zweifel an ihrem Erinnerungsvermögen. Auch verfehlt die Bestrafung von alten und meist gebrechlichen Männern meist ihre Wirkung; ihr Erscheinen im Gerichtssaal ruft eher Mitleid als Empörung hervor. Dass sie zum Zeitpunkt ihrer Verbrechen keineswegs hinfällig oder bemitleidenswert waren, gerät in den Hintergrund.
Bei der Beschäftigung mit dem Holocaust kam der Erforschung der historischen Tatsachen erhebliche Bedeutung zu. Wie alle Verbrechen großen Ausmaßes war auch der Mord an den Juden geheim gehalten worden, so weit es in Anbetracht des Ausmaßes der Gräuel und der Anzahl der daran Beteiligten möglich war. Nun galt es, die gesamte Dimension des Genozids einer in weiten Teilen uninformierten Öffentlichkeit mit Hilfe von Büchern, Dokumentationen, Filmen oder Lehrplänen zugänglich zu machen. Im Jahr 2005 erklärte man den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, den 27. Januar, zum Holocaust-Gedenktag. Damit wolle man, so der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, „die Erinnerung wach halten, um künftige Völkermorde zu verhindern“. Man darf bezweifeln, dass dieses Ziel erreicht wurde. In den meisten Ländern wird dieser Gedenktag ignoriert; wo er begangen wird, ist er meist nur eine Pflichtübung.
Museen und Ausstellungen erfüllen diese Aufgabe vermutlich besser. Das Washingtoner Holocaust-Museum weist die höchsten Besucherzahlen in dieser an Museen nicht armen Stadt auf. Seit seiner Eröffnung vor 17 Jahren zählte es 28 Millionen Besucher. Nur wenige Bücher erreichten ein Massenpublikum – das „Tagebuch der Anne Frank“ ist hier sicherlich eine Ausnahme, vor allem, weil es eine Identifizierung jüngerer Leser ermöglicht. Auch der Erfolg von Filmen wie Claude Lanzmanns „Schoah“, einer immerhin neunstündigen Dokumentation, die auf Interviews mit Überlebenden beruht, oder Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ ist darauf zurückzuführen, dass sie die Gefühle der Betrachter ansprachen. Ähnliches gilt für den Film „Hotel Ruanda“, der mehr Menschen beeinflusst hat als jeder Zeitungsbericht über den Völkermord an den Tutsi. Und doch lässt sich feststellen: Je weiter das Trauma in die Vergangenheit rückte, desto größer wurde die Gleichgültigkeit.
Hehrer Anspruch
Den Bemühungen seit dem Zweiten Weltkrieg, Völkermord zu verhindern, war nur wenig Erfolg beschieden. Internationale Gremien haben zwar zahllose Beschlüsse gefasst; ein neu entstandener Zweig der Wissenschaft widmet sich der Erforschung von Genoziden und hat sogar Modelle zu ihrer Entstehung entwickelt. Doch so anerkennenswert all das auch ist: Der Anspruch, Genozide wissenschaftlich gleichsam voraussagen zu können, war kaum einlösbar. Natürlich hat es in der Geschichte immer wieder Situationen gegeben, in denen ein Völkermord wahrscheinlicher war als in anderen. Sehr weit führen solche Feststellungen aber nicht. Genozide fanden unter gänzlich unterschiedlichen Bedingungen und aus völlig unterschiedlichen Gründen statt. Zuweilen waren sie einer Ideologie geschuldet, zuweilen dem Macht- und Expansionswillen.
Als wenig hilfreich erwies sich auch die Politisierung dieses jungen Wissenschaftszweigs. Neben einer liberalen Theorie des Völkermords existiert eine „kritische“, antiimperialistische Schule, die sich in erster Linie auf die Missetaten des Kolonialismus konzentriert. Die meisten Völkermorde jedoch – und ganz gewiss jene, die im 20. Jahrhundert begangen wurden – gehören nicht in diese Kategorie. Wie häufig in den Politikwissenschaften wurden aus einer großen Anzahl von Fällen Beispiele herausgesucht, die in ein bestimmtes politisches Konzept passten und dann wurde der Versuch unternommen, daraus ein allgemeingültiges Modell zu entwickeln. Überdies ist die Beschäftigung mit dem Völkermord fast ausschließlich auf Nordamerika und, in einem geringeren Maße, auf Europa beschränkt. Rufe nach einem Eingreifen hat es zwar von allen Seiten gegeben. Von einem politischen Willen, etwas zur Verhütung oder Beendigung von Völkermorden beizutragen, war im Westen allerdings nur wenig und in Afrika und Asien fast gar nichts zu spüren.
Warum ist es nur in ganz wenigen Fällen zu einer Intervention gekommen? Nun, Intervention bedeutet Gewalt – oder doch die Drohung damit –, und Gewaltanwendung ist nach dem herrschenden Völkerrecht untersagt, es sei denn, sie wird vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ausdrücklich gebilligt. Dabei ist die ohnehin schon gewaltige Kluft zwischen Völkerrecht und politischer Wirklichkeit in jüngster Zeit immer größer geworden. Nur selten in der Geschichte der Vereinten Nationen ist es gelungen, sich auf die Notwendigkeit einer Intervention zu einigen. Gelingt es einmal, Einhelligkeit zu erzielen, so dauert der Prozess der Entscheidungsfindung meist viel zu lange – und das in einer Situation, in der täglich Menschen sterben. Ist die Intervention einmal beschlossen, fehlt es an den notwendigen Instrumenten und an einem robusten Mandat. UN-Eingreiftruppen hat es immer wieder gegeben, einige davon verfügten auch durchaus über beträchtliche Truppenstärken; der UNPROFOR auf dem Balkan gehörten 25 000 Soldaten an, der UNOSOM in Somalia 37 000. Allerdings wurden die Zuständigkeiten dieser Truppen darauf beschränkt, die Einhaltung eines Waffenstillstands zu überwachen oder Berichte an das UN-Hauptquartier zu schicken, ohne selbst Gewalt anwenden zu dürfen. Forderten die Länder, in denen sie stationiert waren, ihren Abzug, so mussten sie gehen. Und oft genug zogen sich Eingreiftruppen zurück, wenn sie, wie in Srebrenica oder Somalia, angegriffen wurden.
Sollen Interventionen erfolgreich sein, müssen diese Befugnisse bedeutend erweitert werden. Es muss eine Schnelle Eingreiftruppe geben, die nicht aus Kompanien verschiedener Länder besteht, sondern unmittelbar den UN untersteht. Sie muss innerhalb weniger Tage, wenn nicht Stunden mobilisierbar sein. Um Wirkung erzielen zu können, müsste sie aus acht bis zehn Brigaden bestehen, die ausgerüstet und in der Lage sind, Verbrechen zu verhindern, statt Berichte zu schreiben, wenn sie geschehen sind. Dass auch solche Truppen nichts gegen Staaten ausrichten können, die über starke Armeen verfügen – darüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Und als über die Schaffung einer UN-Streitmacht verhandelt wurde, da war es die Blockadehaltung einer Reihe von Ländern, die das verhinderte. Es steht zu vermuten, dass sich die Einstellung erst ändern könnte, wenn auch weniger starke Mächte oder gar nichtstaatliche Gruppen über Massenvernichtungswaffen verfügen und diese womöglich auch einsetzen. Erst nach einer größeren Katastrophe könnte sich ein gemeinsamer Wille entwickeln, weitere Katastrophen zu verhüten.
Eine Analyse der Fälle, in denen die Vereinten Nationen einer Intervention zugestimmt haben, offenbart ein beunruhigendes Muster: In das Visier geriet keiner der mächtigeren Staaten, keiner der schwächeren, aber in Allianzen wie der Organisation Islamischer Staaten (OIC) eingebundenen Länder und keines der etwa aufgrund ihrer Ressourcenvorkommen strategisch wichtigen Staaten. Ins Visier der UN gerieten meist kleine, schwache und isolierte Länder.
Eine Überraschung ist das nicht. Das Sprichwort „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“ gibt es in vielen Sprachen, und es hat durchaus seine Berechtigung. Hier ließe sich einwenden, dass es besser ist, selten zu intervenieren als nie. Und natürlich kann man sich damit abfinden, dass es im internationalen Völkerrecht eben kein gleiches Recht für alle gibt und in der Zukunft auch nicht geben wird, es sei denn, es fänden grundlegende Wandlungen im internationalen System statt. Doch das zuzugeben hat bis jetzt niemand gewagt.
Zu wenig, zu spät
Die blutigsten Völkermorde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich in Afrika und Asien ereignet. Über einige von ihnen sind wir gut informiert, obwohl sie meist in abgelegenen Gegenden stattfanden und nur selten eine direkte Berichterstattung möglich war. So wurden in Burundi 1972 zwischen 100 000 und 300 000 Hutu – vermutlich gezielt – von der Armee getötet. Unter der Regierung Pol Pots brachten die Roten Khmer in Kambodscha in den Jahren 1978 bis 1979 zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Menschen um, die sie als „bourgeoise Feinde“ aus den Städten zwangsevakuiert und in Konzentrationslager verschleppt hatten. Weithin bekannt wurde der von Hutus hauptsächlich an Tutsis begangene Genozid in Ruanda, dem 1994 zwischen 800 000 und 900 000 Menschen zum Opfer fielen. In der sudanesischen Provinz Darfur wurden im Zuge des Krieges gegen verschiedene Rebellengruppen vermutlich etwa 200 000 Menschen von arabischen Reitermilizen umgebracht, die von der Regierung in Khartoum unterstützt wurden. Andere Völkermorde entgingen der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit oder wurden seither wieder vergessen. Etwa die gezielte Ermordung von Angehörigen der bengalischen Elite durch das pakistanische Militär im Zuge des Krieges, der 1971 zur Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan führte, oder die Massaker, die der irakische Diktator Saddam Hussein zwischen 1986 und 1988 an der kurdischen Bevölkerung verüben ließ. Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien dagegen zog trotz der vergleichsweise geringeren Opferzahl sehr viel größere Aufmerksamkeit auf sich, da er gleichsam in Europas Hinterhof stattfand.
Nur in wenigen Fällen ist es zu einer Intervention und einer Bestrafung der Schuldigen gekommen. Unter Federführung der Vereinten Nationen wurden 1993 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag und 1994 der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda mit Sitz in Arusha (Tansania) geschaffen. Bis heute wurden vor letzterem Tribunal 31 Täter verurteilt, eine in Anbetracht der Opferzahl bescheidene Bilanz. Sehr viele der Drahtzieher kamen davon. Die Verfahren gegen die Verantwortlichen für den Genozid in Kambodscha begannen erst etwa 30 Jahre nach den Massenmorden, Pol Pot selbst entging einem Prozess. Er wurde schließlich von den eigenen Leuten verhaftet und zu lebenslänglichem Hausarrest verurteilt, nachdem er seinen Stellvertreter hatte ermorden lassen, und starb 1998, in der Nacht, bevor er ausgeliefert werden sollte. Saddam Hussein wurde nach der amerikanischen Invasion 2003 aufgespürt, von einem irakischen Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschheit zum Tode verurteilt und im Dezember 2006 hingerichtet. Die Exekution wurde jedoch von vielen führenden Politikern in der arabischen Welt, in Europa und anderswo verurteilt, sei es, weil man generell gegen die Todesstrafe war, das gerichtliche Verfahren missbilligte, mit Saddam sympathisierte oder den Krieg gegen sein Regime verurteilt hatte.
Nicht wenige Massenmörder entgingen ihrer Strafe ganz. Der äthiopische Diktator Haile Mariam Mengistu etwa, 2006 von einem äthiopischen Gericht unter anderem wegen Völkermord verurteilt, befindet sich im Exil in Simbabwe und wird wohl nicht ausgeliefert werden. Idi Amin, dessen Gewaltherrschaft in Uganda von 1971 bis 1979 zwischen 250 000 und 500 000 Menschen zum Opfer fielen, fand im saudischen Dschidda Exil, wo er 2003 verstarb. Nur in einem einzigen Fall wurde ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ein noch regierendes Staatsoberhaupt erlassen, im Juli 2008 gegen den sudanesischen Staatschef Omar Hassan Ahmad al-Baschir. Eine Entscheidung, die allerdings so lange ohne praktischen Wert bleibt, wie sich die Arabische Liga und die Afrikanische Union mit al-Baschir solidarisieren.
Gibt es Hoffnung, dass in der näheren Zukunft effektivere Maßnahmen ergriffen werden, um Völkermord zu verhindern? Die Chancen dafür stehen schlecht; und die Zusammensetzung des UN-Menschenrechtsrats lässt Optimismus kaum aufkommen. Er ist eine Interessenvereinigung von in der Mehrzahl nichtdemokratischen Staaten, denen zum einen an der Verurteilung und Bestrafung der eigenen politischen Gegner gelegen ist, zum anderen an der Immunität jener Mitglieder des Rates, die selbst Täter sind. Das hat sich zuletzt wieder im Fall Darfur gezeigt. Ein Drittel der Mitglieder dieser Gruppe gehört der Organisation Islamischer Staaten an, die darauf beharrt, dass das Rechtssystem dieser Länder unantastbar und jeder Kontrolle und Einmischung von außen entzogen sei. Bislang hat sich der Rat nur mit einem einzigen Land sehr ausführlich beschäftigt – mit Israel. Sollten tatsächlich nur in einem einzigen Land der Erde sämtliche Verbrechen gegen die Menschheit begangen werden, dann könnten wir wohl von einem paradiesischen Zustand sprechen.
Regional statt kolonial
Westliche Demokratien bringen in Verhandlungen mit anderen Staaten oft das Thema Menschenrechte zur Sprache. Das ist lobenswert, doch es ist zu einem Ritual verkommen. Schließlich verhindern diese Erklärungen keineswegs eine Politik des business as usual. Denn immer noch ist Europas Energieversorgung vom Nahen Osten oder Russland abhängig. Und seine Außenhandelsbilanz mit Ländern wie China möchte sich der Westen auch nicht verderben. Die Zahl der Staaten, die Menschenrechte respektieren, ist zurückgegangen, wie der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Günter Nooke bemerkt, und die Stellung Amerikas und Europas in der Welt ist geschwächt.
Was sollen Staaten tun, die nicht oder nicht mehr über die Macht verfügen, ihre Forderungen durchzusetzen? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Es wäre falsch, die Tatsachen zu verschweigen. Ein öffentliches Anprangern der Verbrechen, ein „naming and shaming“ mag eine abschreckende Wirkung haben. Leere Drohungen allerdings sind kontraproduktiv und tragen nur zu einem Klima des Zynismus bei. Wesentlich sinnvoller wäre es vermutlich, wenn sich regionale Organisationen um die Verhinderung oder die Beendigung von Völkermorden kümmern würden – im Falle Afrikas etwa die Afrikanische Union. Das hätte den Vorteil, dass die immer wiederkehrenden Beschuldigungen von einer imperialistisch-kolonialistischen Einmischung hinfällig würden. Natürlich ließe sich nun einwenden, dass selbst Europa nicht fähig war, dem Morden auf dem Balkan aus eigener Kraft ein Ende zu setzen. Dennoch wäre eine Neuordnung erwägenswert: Mit einer Übertragung der Verantwortung auf regionale Organisationen könnte auch nicht weniger unternommen werden, als es zurzeit der Fall ist.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine solche Neuordnung ein Ansporn für afrikanische und asiatische Ordnungsmächte sein würde, sich wenigstens um ein Minimum an Sicherheit und Ordnung in ihrer Umgebung zu bemühen. Jedenfalls scheint es aussichtsreicher, sich auf das Eigeninteresse solcher Länder zu verlassen als auf humanitäre Motive. Frieden auf Erden wird daraus nicht entstehen, aber das Schlimmste mag in manchen Fällen verhindert werden.
Prof. WALTER LAQUEUR war u.a. Direktor des Institute of Contemporary History in London. Zuletzt erschien von ihm „Mein 20. Jahrhundert“.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 10 - 16