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01. Sep 2014

Unverzichtbar, trotz allem

Warum Deutschland und die Vereinigten Staaten Verbündete bleiben müssen

Das Bündnis mit Amerika ist für Deutschland in vielfacher Hinsicht strategisch nicht nur wichtig – es ist unersetzlich. Denn es steht für ein pluralistisch-liberales Lebensmodell, das in vielen Teilen der Welt unter Druck gerät, selbst in Europa. Allerdings braucht die Partnerschaft eine Erneuerung. Und dazu sollte Berlin selbstbewusst beitragen.

In welcher Welt leben wir eigentlich? Und was, wenn wir das gar nicht wissen? Die Politikprofessoren Walter Russell Mead und G. John Ikenberry trugen unlängst einen eindrucksvollen Streit aus. Mead zeichnet in der Zeitschrift Foreign Affairs ein poetisches Bild für eine große Besorgnis. Wir lebten im „Dämmerlicht der Geschichte“, schrieb er. In bestimmten Regionen der Erde stehe „die Sonne der Geschichte“ noch hoch am Himmel, dort sei der unruhige Tag nicht zu Ende; in Russland etwa, in China, im Iran und im Mittleren Osten. In anderen Teilen – Mead nennt sie die „posthistorischen“ Weltgegenden – sehe man den friedlichen Mond am Himmel stehen; das Zeichen, die Tagesmühen zu beenden und sich sanft zu betten.1

Es möge zwar stimmen, so Mead, dass die Geschichte sich unaufhaltsam in Richtung des liberalen, kapitalistischen Demokratiemodells bewege. Aber es gebe Gegenkräfte: „Während die Schatten länger werden und die ersten Sterne erscheinen, werden Herrscher wie Putin weiter über die Weltbühne schreiten. Sie werden sich nicht sanft in die Nacht verabschieden, sie werden wüten, wüten gegen das sterbende Licht.“ Tiefe politische Analyse oder Angstprosa von eher belletristischer Qualität?

Auf Mead antwortet ebenfalls in Foreign Affairs der Princeton-Professor G. John Ikenberry. China und Russland, konterte er, seien doch wohl allenfalls „part-time spoilers“, aber keine ernsthaft revisionistischen Mächte. Die liberale, regelbasierte Weltordnung entwickle sich weiter, überall, unaufhaltsam. Schließlich strebe alle Welt nach einer wohl­habenden Mittelschicht, und die sei ohne internationale Verflechtung und ohne akzeptierte Friedensordnung nun einmal nicht zu haben. Weder Moskau noch Peking hätten „das Interesse, die Ideen, die Fähigkeiten oder die Verbündeten, um die bestehenden globalen Regeln und Institutionen umzustülpen“. Putin möge gerade ein paar kleine Schlachten gewinnen, aber er verliere den Krieg.2

Es gibt jetzt drei Möglichkeiten. Entweder Mead hat recht, und die Geopolitik ist zurückgekehrt in eine Welt, in der sie zu ihrer Freude westlich des Urals auf einen Haufen Naivlinge trifft. Oder wir erleben, nach Ikenberry, nur ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen des Expansionismus.
Oder aber, Möglichkeit drei, Mead und Ikenberry haben beide recht, und Staaten wie Russland bedienen sich mal aggressiver Machtpolitik, mal internationaler Kooperation – je nachdem, was im Einzelfall mehr Erfolg verspricht.

Das Entscheidende an dieser Auswahl ist: Wie immer es kommt, die deutsche Außenpolitik sollte angesichts des Zweifels für den ungünstigsten Fall aufgestellt sein. Genau deswegen ist die Westbindung, ist die Partnerschaft mit Amerika für Deutschland weiterhin unerlässlich.

Partner mit vielen Fähigkeiten

Gut, in solchen Zweifelszeiten einen Bündnispartner zu haben, der mehrere Spielarten beherrscht. Die ungünstigste Entwicklung, die sich in Russland abspielen könnte, wäre, dass Putin ehrgeizig an dem Ziel festhält, ein imperiales Gegengewicht zur Supermacht USA aufzubauen, sowohl geografisch wie auch ideell. Sollte er seine Politik der Autokratie im Innern, des ethnischen Nationalismus und der Destabilisierung nach außen und der Propaganda gegenüber dem Westen fortsetzen, könnte Europa als strategische Antwort am Ende nur eine Neuauflage der Eindämmungs­politik übrigbleiben, um die weitere Erosion von Grenzen in Europa aufzuhalten. Deren klassische (und erfolgreiche) Version nach George F. Kennan hat zwei Komponenten: militärische Abschreckung und ideologische Anziehung. Für die Abschreckungskomponente liegt auf der Hand, warum Europa die Vereinigten Staaten braucht.
Viel wichtiger ist jedoch die Soft-Power-Komponente. Für sie gilt in noch stärkerem Maße das Kooperationsgebot mit den Vereinigten Staaten. Europa und Amerika sind mehr denn je aufeinander angewiesen, um ein attraktives Gegenmodell zum russischen „Closed-shop“-Modell zu bilden. Die anziehende Wirkung von Demokratie, Freiheit und dem steten Versuch, die Lebensqualität zu optimieren, wird sich im selben Maße verstärken, wie Europa und Amerika diese Qualitäten verteidigen und entfalten. Nach einem Bonmot des Wirtschaftshistorikers Niall Ferguson bestand die vielleicht größte Tragik der Arbeiter- und Bauernstaaten des Ostblocks darin, dass sie es nie fertigbrachten, ein anständiges Paar Jeans zu produzieren. Will sagen: Wächst der Unterschied der Lebensqualitäten, die zwei Systeme bieten, steigt auf der benachteiligten Seite der ­gesellschaftliche Druck nach Veränderungen. Die Anziehungskraft des Westens hat schon einmal eine anti­liberale Ideologie kollabieren lassen, und sie kann es wieder, auch gegenüber einem chauvinistischen Russland, das sich „Neurussland“ einverleibt. Ersetze Jeans durch iPhone. Das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA liegt deswegen nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im strategischen Interesse Europas und Deutschlands.

Spätestens seit seiner Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 setzt Putin darauf, die Einheit des Westens zu schwächen, indem er gezielt den Antiamerikanismus in Europa anheizt. Die monopolare Welt führe dazu, „dass sich schon niemand mehr in Sicherheit fühlt“, rief er damals mehrmals vom Rednerpult.

Besonders in Deutschland verfängt diese vermeintliche Sorge um eine ausgeglichene Weltordnung. Sie nährt das hierzulande verbreitete Gefühl, sich nach Ende des Kalten Krieges endlich von den Vereinigten Staaten emanzipieren zu müssen. Der Vergleich mit pubertären Ablöseprozessen ist sicher nicht überzogen. Anders ist kaum zu erklären, warum „der Ukraine-Konflikt mit Russland für Teile der deutschen Bevölkerung ein Konflikt mit Amerika ist“, wie es der Kollege Sebastian Fischer treffend formuliert hat – und falsch. So richtig nämlich sämtliche Hinweise auf Fehler und Exzesse in Amerikas „war on terror“ sind, sie dürfen den Westen nicht spalten. Meinungsverschiedenheiten sind nicht notwendig Werteverschiedenheiten; sie müssen deshalb im Binnenverhältnis der transatlantischen Partnerschaft besprochen und gelöst werden.

Es gibt sie noch: geteilte Werte

Aber teilen wir denn noch gemeinsame Werte? Ist das Zerwürfnis darüber nicht schon viel zu tief? Der Irak-Krieg, die Folterbilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, Guantánamo, Entführungsflüge der CIA, die Strategie der gezielten Tötungen per Drohnen, die Massendatensammlung der NSA, die Spionage von US-Agenten bis ins Handy der Bundeskanzlerin hinein werfen die Frage auf, ob sich Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Außenpolitik überhaupt noch auf einem gemeinsamen moralischen Fundament bewegen.

Für viele Einzelfälle, um es deutlich zu sagen, ist diese Frage mit Nein zu beantworten. Sowohl bei der Schwelle zu militärischer Gewalt wie bei der präemptiven Gefahrenabwehr als auch beim Datenschutz haben sich in Amerika andere Güterabwägungen durchgesetzt als in Deutschland. All das hat mit unterschiedlicher Geschichte genauso zu tun wie mit Unterschieden in der Rechtskultur und gesellschaftlichen Einstellungen. Seit dem weltpolitischen Stressmoment „11. Sep­tember“ treten diese Unterschiede gleichsam katalytisch hervor.

Eine klare Aussprache über alles Trennende zwischen Europa und Amerika ist deshalb lange überfällig. Wir müssen über alles neu und offen streiten, von der Killerdrohne bis zur Facebook-Überwachung. Die Deutschen glauben mehrheitlich nicht daran, dass es „gerechte Kriege“ geben kann. Die Amerikaner denken das schon. Die Deutschen sind eine postheroische Gesellschaft. Die Amerikaner glauben noch an tatsächliche Helden – und an tatsächliche Antihelden, die man, eben weil sie es sind, per Joystick „ausschalten“ könne. Der Datenschutz, zweites Beispiel, gilt in Deutschland (auch aufgrund der Erfahrungen mit Gestapo und Stasi) als unmittelbar an die Menschenwürde gekoppelt. In Amerika wird er aus dem Eigentumsrecht abgeleitet. Es bedarf hier einer neuen, gemeinsamen Begründung, oder jedenfalls eines Minimalkonsenses, mit dem beide Seiten leben können. Schließlich sind alle Unterschiede noch graduell, nicht kategorial. Diesseits von Auslegungs- und Rechtfertigungspraktiken besteht Konsens über die grundlegenden Werte. Es gilt, diese Unterscheidung zu wahren. Damit das gelingt, ist es, wie in jeder guten Partnerschaft, an der Zeit, sich die „basics“ in Erinnerung zu rufen:

Rechtsstaatlichkeit: Hinsichtlich der „Rule of Law“ hat Deutschland mit Amerika noch immer mehr gemein als mit manchem europäischen Land, mit Ungarn, Rumänien oder Bulgarien etwa. Das starke Bewusstsein dafür, dass die Herrschenden sich dem Gesetz zu unterwerfen haben, statt das Gesetz dem Herrschenden zu unterwerfen, speist sich in Deutschland aus der Aufklärung, in Amerika aus dem Gründungsmythos der anti-feudalistischen Nation.

Demokratie: „Government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the Earth.“ Wer würde das berühmte Lincoln-Gebot bis heute mit dickerer Tinte unterschreiben als die Bewohner Westeuropas?

Pluralismus, Meinungs- und Gewissensfreiheit: Die Überzeugung, dass der Staat sich aus allen Kirchen, Redaktionen und sozialen Medien her­auszuhalten hat, wird von Berlin aus gesehen nach Westen hin stärker, nach Osten hin schwächer.

Arbeitsethos: Ja, auch die gemeinsame religiöse Grundierung spielt eine Rolle. Der Protestantismus hat beide Gesellschaften, die deutsche und die amerikanische, produktiver als andere gemacht. Die Deutschen arbeiten und beten zwar heute weniger als die Amerikaner, aber dass beide eher leben, um zu arbeiten, als arbeiten, um zu leben, dieser alte Befund stimmt auch über hundert Jahre nach Max Webers berühmter Recherchereise durch die Vereinigten Staaten noch. Vielleicht sollte man die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstkritik ebenfalls zum atlantischen Erbe zählen, da sie eng mit diesem Ethos verbunden ist.

Nicht weniger, mehr Westbindung

Deutschland ist eine kleine Großmacht geworden. Genau deswegen darf es seine Westbindung nicht schwächen, sondern muss sie stärken. Der ehemalige US-Präsidenten-Berater David Frum schrieb Ende Juli in der ZEIT (31/2014): „Deutschland hat seinen berechtigten Platz unter den Großmächten wieder eingenommen. Es hat sich dabei allerdings gleichzeitig von der Bündnisstruktur der Nachkriegszeit wegbewegt.“ Diesen Befund mag man für übertrieben halten, aber richtig ist sicher, dass ein wachsender Anteil der Deutschen mit der wiedergewonnenen Souveränität des Landes dessen Emanzipation von der Schutzmacht Amerikas unter Beweis gestellt sehen möchte. Deutschland solle eine „mittlere Position“ zwischen Russland und dem Westen einnehmen, sagten 49 Prozent der Befragten im ARD-Deutschlandtrend vom April 2014.

Nehmen wir für einen Moment die Position dieser Beinahe-Mehrheit ein. Welche außenpolitische Grundausrichtung wäre dann statt der transatlantischen aus ihrer Sicht die richtige? Sich auf die Stärkung Europas konzentrieren, lautet eine häufige Entgegnung. Wäre das nicht die logische Weiterentwicklung der Rolle, die Deutschland, jedenfalls in der Währungspolitik, schon innehatte? Die kleine Großmacht, der Primus inter Pares der Europäischen Union?

Diese Position übersieht zwei wesentliche Einwände. Wollen die anderen Europäer ein solches Europa? Und sollten es die Deutschen selbst wollen? Die Südeuropäer haben deutlich kein Interesse an einem noch dominanteren Deutschland. Und Balten und Polen würden ihr Schicksal niemals einer militärischen Schutzmacht EU allein anvertrauen. Für sie war und ist die NATO-Mitgliedschaft Garant ihrer Souveränität.

Auch für Deutschland selbst schafft die immer tiefere Integration in die EU, anders als manch romantische Theorie, keineswegs durchgehend mehr Souveränität. Die EU-Mitgliedschaft schränkt die nationale Souveränität zunächst einmal ein, allerdings mit der Chance auf Souveränitätsgewinne im Verbund. Wie souverän aber war Deutschland bei der Gewährung der Milliardenkredite für die EU-Krisenländer?

Die EU schafft eben nur im besten Fall mehr außenpolitische Schlagkraft, in der Handelspolitik etwa. Im Regelfall schafft sie Sachzwänge. Diese, wie etwa Normenharmonisierung, rentieren sich in volkswirtschaftlicher Hinsicht zwar häufig. Aber sie führen auch zu Politiken des kleinsten gemeinsamen Nenners. Dasselbe minimierende Prinzip gilt für die Außenpolitik. Selbst wenn also Europa durch eine integrierte Rüstungspolitik und eine gemeinsam zu entsendende Europäische Armee zu den Fähigkeiten der USA aufschließen und sich dadurch von der NATO entkoppeln könnte – Deutschlands sicherheitspolitische Gestaltungsmöglichkeiten würden in einem solchen Verbund kleiner.

Alternativen? Fehlanzeige!

Mit wem denn also sonst? Oder: Warum sich aber überhaupt für eine strategische Gemeinschaft entscheiden? Ist die Idee, sich quasi lebenslang an eine Partnernation zu binden, faktisch nicht genauso anachronistisch wie die lebenslange Ehe? Warum sollte sich Deutschland nicht in seiner Nachbarschaft nach Alternativen umsehen? Tun wir das einfach mal.

Auf wen also sollen sich die Deutschen im Ernstfall verlassen? Zwei andere ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats bieten sich an. Frankreich wäre die (jedenfalls geografisch) am nahesten liegende Antwort – allerdings nur dann, wenn man die „Freundschaft“ zwischen den beiden Ländern noch immer nicht für bloß eine freundliche Fiktion hält. Unser Nachbar ist zentralstaatlich und ­etatistisch, die Führungsschicht ein einziges Beziehungsgeflecht, der Arbeitsmarkt und die Industriepolitik protektionistisch, die Außenhandelspolitik opportunistisch. Sicher, opportunistisch sind auch deutsche Waffenexporte. Aber wer nach der Krim-Annexion und dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Passagierflugzeugs auf Flug MH17 noch Hubschrauberträger an Russland verkauft, demonstriert auf geradezu dünkelhafte Weise, dass ihm der individuelle nationale Nutzen weit vor strategischen Gemeinschaftszielen geht. Dasselbe gilt im Zweifel für Großbritannien. Der Insel ist das Schicksal der Europäischen Union so gleichgültig wie noch nie, und im Konfliktfall würde London seine eigenen Interessen nicht für europäische Ziele aufs Spiel setzen.

Kurzum: Die Partnerschaft mit Amerika ist strategisch wichtig, weil sie für ein pluralistisch-liberales Lebensmodell steht, das unter Druck gerät, selbst innerhalb Europas. Die Partnerschaft braucht allerdings eine Erneuerung, einen aufgefrischten Konsens über die Reichweite gemeinsamer Werte. Im europäischen Verbund allein werden Deutschlands ­außenpolitische Gestaltungsmöglichkeiten eher abnehmen. Zur Verteidigung einer Partnerschaft gehört aber auch die Verteidigung der eigenen Position. Deutschland darf sich dabei mehr Selbstbewusstsein erlauben. Schließlich ist unseren Freunden längst klar, wer in Europa die „indispensible nation“ ist.

Dr. Jochen Bittner ist Redakteur der ZEIT.

 

  • 1Walter Russell Mead: The Return of Geopolitics, Foreign Affairs, Mai/Juni 2014, S. 69–79.
  • 2G. John Ikenberry: The Illusion of Geopolitics, Foreign Affairs, Mai/Juni 2014, S. 80–90.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2014, S. 50-55

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