Hass der Hymnen
Schwer zu begreifen, warum die Zivilisationsmaschine EU zu laute Staubsauger verbietet, aber sowas nicht: „Zu den Waffen, Bürger! / Schließt die Reihen, / Vorwärts, marschieren wir! / Das unreine Blut / Tränke unserer Äcker Furchen!“
Auf Twitter würde solcher Rassismus als Hatespeech geblockt. In Frankreich singt man es als Nationalhymne. Gut, möchte man zur Rechtfertigung vorbringen, der Zweck heiligte im historischen Kontext die Mittel; wo schließlich hätte die Französische Revolution ohne ein paar abgeschlagene Köpfe hingeführt, und wo wäre Europa gelandet ohne Französische Revolution?
Aber warum müssen auch die Belgier nach Bluttränke rufen? Sie singen: „O liebes Land, o Belgiens Erde, (...), / Dir unser Blut, dem Heimatherde.“ Und wessen Herzen glauben die Portugiesen zu erobern mit: „An die Waffen, die Waffen, / Zu Land und zur See“?
Gewaltfantasien aus vermutlich homerischem Erbe frönt bis heute die griechische Hymne: „Ich erkenn’ dich an der Klinge / deines Schwerts, der furchtbaren.“
Laut der ungeschriebenen EU-Kulturgrundverordnung unterscheidet sich (erlaubter) Patriotismus vom (verbotenen) Nationalismus dadurch, dass der Patriot die Liebe anderer Bürger zu einem anderen Land durchaus anerkennt, während der Nationalist sich durch Herabsetzung abgrenzt.
Das kriegen auch die ansonsten durchgezähmten Iren noch nicht ganz hin. Keine Frage, sie sind gebeutelt und haben allen Grund, schwere Melancholiker zu sein. Aber seien wir froh, dass sie in WM-Stadien eher zum romantischen „Fields Of Athenry“ neigen als zu ihrem offiziellen Nationallied, dem märtyrerverliebten „Soldier’s Song“: „Soldaten sind wir, unser Leben gehört Irland!“ Und in der dritten (meist ungesungenen) Strophe: „Out yonder waits the Saxon foe“ (da draußen wartet der angelsächsische Feind).
Kelten und Romanen sind offenbar Geistesverwandte in nationaler Opferbereitschaft. Wir hören Italien: „Wir sind bereit zum Tod, / Italien hat gerufen!“ Und Rumänien: „Priester, geht voraus, mit den Kreuzen, denn das Heer ist christlich, / Die Devise heißt Freiheit, und der Zweck ist hochheilig, / Lieber glorreich in der Schlacht sterben, / Als wieder Sklaven auf unserem alten Boden zu sein!“ Beim Eurovision Song Contest hätte all das wenig Chancen.
Wir lernen: Im EU-Hymnen-Kapitel ist noch reichlich Harmonisierungsplatz nach oben. Irgendwann, wenn der letzte Staubsauger runtergeregelt ist, wird ein unterbeschäftigter EU-Kommissionsbeamter die Sache entdecken – und schaudern.
Jochen Bittner ist Redakteur der ZEIT.
Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 144