Unser täglich Brot gib uns auch morgen?
Drei Neuerscheinungen und die Suche nach einer effizienten Entwicklungspolitik
Trotz der Milliarden von Geldern, die in die Entwicklungshilfe fließen, sterben jährlich Millionen von Menschen an Unternährung. Wer ist daran schuld? Drei Autoren haben sich mit den Ursachen des Hungers, der Verteilung von Spenden und der Arbeit der Hilfsorganisationen auseinandergesetzt. Ihr Urteil fällt ernüchternd aus.
„Alle sechs Sekunden verhungert ein Kind. Tag für Tag sterben 25 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Unterernährung – neun Millionen im Jahr.“ Jean-Claude Juncker bringt die Dramatik im Vorwort zu Jean Feyders Bericht über die globale Ernährungskatastrophe auf den Punkt. Die Worte des luxemburgischen Premierministers bilden den Auftakt zu einer aufrüttelnden Reise durch die Elendsregionen der Welt. Regionen, in denen seit vergangenem Jahr erstmals mehr als eine Milliarde Hungernde leben. Wer trägt die Verantwortung? Der Westen? Die Industrieländer, die doch immerhin pro Jahr Entwicklungshilfe von hundert Milliarden Euro leisten?
Für einfache Antworten ist Jean Feyder nicht zu haben. Dafür kennt er die Realität der internationalen Beziehungen zu genau. Bevor er 2005 Botschafter und ständiger Vertreter Luxemburgs bei den UN und der WTO in Genf wurde, war er Direktor für Entwicklungszusammenarbeit im Außenministerium seines Heimat-landes. Seit 2007 ist er bei der WTO zudem Vorsitzender des Komitees für die am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Vergangenes Jahr wurde ihm auch die Präsidentschaft der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) anvertraut.
Wie komplex und mitunter widersprüchlich die Hungerproblematik ist, wird an einer Reihe von Fakten deutlich, die Feyder in seiner erhellenden Studie auflistet. So dürfte kaum bekannt sein, dass die Mehrzahl der Hungernden und Mangelernährten auf dem Land lebt – also paradoxerweise direkt an der Nahrungsquelle. Die naheliegende Vermutung, dass diese Menschen vor allem auf Grund von Kriegen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen an Hunger leiden, entspricht dabei nicht der Wirklichkeit. Vielmehr werden sie oftmals Opfer einer Marginalisierung und Ausgrenzung durch die nationalen Eliten. Macht, Wissen, Kapital – inklusive der Entwicklungsgelder – bleiben oder werden vornehmlich auf die städtischen Milieus konzentriert. So sank zwischen 1980 und 2004 der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe für den ländlichen und landwirtschaftlichen Bereich von 18 auf vier Prozent. Feyders Fazit: „Eine Kluft aus Gleichgültigkeit, Unverständnis und Herablassung trennt die Stadt vom Land.“
Was tun? Statt lediglich Symptome zu kurieren, so der Autor, müsse eine nachhaltige Entwicklungsstrategie vor allem die Ursachen der Armut bekämpfen. Im Mittelpunkt müssten dabei ein besserer Zugang zu Boden und Agrarreformen stehen – dies sind Voraussetzungen, um die Agrarproduktion auszuweiten und damit Armut zu verringern. Zwar räumt Feyder ein, dass die Frage nach der Bodenverteilung politisch heikel sei. Zugleich habe sich aber gezeigt, dass Bodenreformen in Ländern wie China, Südkorea oder Taiwan zu einem signifikanten Rückgang der Armut geführt hätten.
Aus der gegenwärtigen Ernährungskrise zieht Feyder eine weitere Lehre: Regierungen sollten der Förderung bäuerlicher Familienbetriebe wieder Priorität einräumen. Die Unabhängigkeit von Lebensmittelimporten liege unmittelbar im politischen Interesse der Staaten, ja sie sei sogar eine Frage der nationalen Souveränität. So habe nicht nur die EU mit dem Aufbau ihrer Gemeinsamen Agrarpolitik die Entscheidung zugunsten einer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit getroffen. Auch Länder wie China und Indien gingen diesen Weg.
Um die Renaissance des bäuer-lichen Kleinbetriebs zu ermöglichen, hält Feyder nationale wie internationale Finanzierungshilfen für notwendig. Sie sollen die ländlichen Infrastrukturen verbessern und den Bauern Zugang zu Rohstoffen, Krediten und Know-how erleichtern. Nach -Berechnungen der Weltbank können Investitionen in die Landwirtschaft Armut dreimal so schnell verringern wie Investitionen in andere Wirtschaftsbereiche.
Auch vor dem Hintergrund des Klimawandels betrachtet Feyder den bäuerlichen Kleinbetrieb als Modell der Zukunft. Mit seiner Hilfe ließe sich nicht nur Gefahren wie Bodenerosion, schwindender Artenvielfalt, Verschmutzung von Gewässern und Ausbreitung von Wüstengebieten adäquat begegnen. Die ökologisch orientierte Landwirtschaft weise zugleich den Weg in eine ausgeweitete, verbesserte und dabei effizientere Produktion.
Im Interesse der Ärmsten will Feyder außerdem die Ziele der WTO neu definiert sehen. Der Fokus müsse auf einer Verbesserung des Lebensstandards liegen – durch Maßnahmen, die Beschäftigung und Kaufkraft für die untersten Einkommensgruppen schaffen. Ergänzend soll das Programm der Doha-Runde dem gewaltigen Produktivitätsgefälle in der globalen Landwirtschaft Rechnung tragen: Statt einer weiteren Liberalisierung benötigten die ärmsten Entwicklungsländer einen Schutz ihrer Märkte. Dumpingpreisen müsse mit der Einführung von transparenten und klaren Regeln Einhalt geboten werden.
Moloch Mitleidsindustrie
Da diese Mahnungen und Anregungen nicht von einem theoriegeleiteten Idealisten, sondern von einem Mann der politischen Praxis stammen, sollten sie nicht nur ernst genommen, sondern auch in die Tat umgesetzt werden. Andernfalls dürfte sich eine Entwicklung fortsetzen, wie sie Linda Polman beschreibt: das unaufhörliche Wachsen der „Mitleidsindustrie“ internationaler Hilfsorganisationen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gibt es weltweit mittlerweile mehr als 37 000 Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs). In welche ökonomischen Dimensionen das führt, hat die amerikanische Johns Hopkins University berechnet: Wenn sämtliche NGOs und INGOs – von lokalen Suppenküchen bis hin zu internationalen Not-hilfeorganisationen – zusammen eine Volkswirtschaft bildeten, so wären sie eine „Fünfte Ökonomie“ der Welt.
In seltener Deutlichkeit weist die niederländische Publizistin auf den Schwachpunkt globaler Hilfsbereitschaft: „Müssen INGOs stur weiterhin helfen, wenn kämpfende Parteien in humanitären Räumen die Hilfe für sich selbst und gegen den Feind gebrauchen und ihren Krieg damit verlängern? Oder müssen sie abziehen? Was ist auf die Dauer das Grausamere?“ Oder in einem historischen Vergleich zugespitzt formuliert: „Nehmen wir einmal an, es ist 1943. Sie sind Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Das Telefon klingelt. Es sind die Nazis. Sie dürfen Hilfsgüter in ein Konzentrationslager bringen, aber die Lagerverwaltung darf bestimmen, wie viel davon ans eigene Personal und wie viel an die Gefangenen geht. Was tun Sie?“
Nach heutigen Maßstäben würden diese Hilfsgüter wohl geliefert werden. Wie konnte es dazu kommen? Als langjährige Korrespondentin bei den Truppen der UN-Friedensmissionen in Somalia, Haiti, Ruanda und in Sierra Leone hat Polman die geradezu perverse Entwicklung humanitärer Missionen hautnah miterlebt. Während des Kalten Krieges waren Konfliktgebiete mehr oder weniger unzugänglich für private Hilfsorganisationen, denn ihre Grenzen wurden von den beiden konkurrierenden Supermächten kontrolliert. INGOs kamen daher in der Regel nicht näher an die Konfliktherde heran als in die Flüchtlingslager an der Peripherie der Kriegsgebiete.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich das. Aus vielen Konfliktregionen zogen die Sowjet-union und die Vereinigten Staaten sich zurück. Lokale Kriegsparteien legten von nun an fest, wann und wie Hilfsorganisationen Zugang zu den Opfern erhielten. Zugleich stieg die Zahl dieser Organisationen in Kriegsgebieten enorm an. Arbeiteten in den achtziger Jahren noch rund 40 INGOs in den Flüchtlingslagern Kambodschas an der Grenze zu Thailand, so waren es 15 Jahre später 250. Heute können „populäre“ Krisengebiete mit dem Einsatz von durchschnittlich zehn verschiedenen UN-Hilfsorganisationen und unzähligen lokalen NGOs rechnen. Nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes sind 1000 nationale und internationale Hilfsorganisationen bei jeder größeren Katastrophe der Durchschnitt. Aber auch die doppelte Summe – wie 2004 in Afghanistan – kommt vor.
Die Geberländer, vereinigt in der OECD, stellen gemeinsam rund 120 Milliarden Dollar pro Jahr für allgemeine Entwicklungszusammenarbeit bereit. Für humanitäre Nothilfe bei Kriegen und Katastrophen waren es allein 2008 noch einmal 11,2 Milliarden Dollar – zusätzliche Mittel für die Opfer des Tsunami im Indischen Ozean oder des „Krieges gegen den Terror“ nicht mitgerechnet. Weitere Hunderte Millionen Dollar kommen aus Spendenaktionen in Kirchen, Betrieben, Vereinen und Haussammlungen und diversen spontanen lokalen Initiativen hinzu.
Um diese Spendenmaschinerie herum ist nach Polmans Recherchen eine wahre Industrie humanitärer Hilfe entstanden: Ob die Operationen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz am Horn von Afrika, die der Flüchtlingsorganisation UNHCR jenseits der Sahara, die Frontinterventionen der unabhängigen Hilfsorganisation Oxfam in Afghanistan und die von den Ärzten ohne Grenzen in Äthiopien oder die mobilen Kliniken der Mercy Ships aus Texas, die im Namen Christi in den Bürgerkriegsregionen Westafrikas anlegen – eine Karawane humanitärer Hilfsorganisationen zieht von einem internationalen Brennpunkt zum nächsten, und ihre Vertreter konkurrieren miteinander um einen Anteil an den milliardenschweren Hilfsströmen.
Doch nicht nur für die Hilfsorganisationen geht es hier um lohnende Geschäfte. Polmans Reportagen zeigen eines: Für die Konfliktparteien sind die Hilfsgelder und Hilfsgüter ebenfalls „business“. Sie sind sogar zu einem festen Bestandteil der Kriegsstrategien geworden. Die Kontrahenten sorgen dafür, dass der Gegner so wenig wie möglich von der Hilfe profitiert – und sie selbst so viel wie möglich. In den asymmetrischen Kriegen von heute werden Hilfsgelder nicht selten zum entscheidenden Kapital und der Handel mit Hilfsgütern zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor. Dabei werden die Rotkreuz-Regeln des Humanitären regelmäßig verletzt, und zwar von allen Beteiligten: Warlords, Generälen, Rebellen, Unruhestiftern, Aufständischen, Splittergruppen, Militärchefs, Terroristen, Diktatoren, Söldnern und Freiheitskämpfern. Für den zwangsläufigen Missbrauch ihrer Hilfeleistung übernehmen die NGOs und INGOs jedoch keine Verantwortung, obwohl sie häufig unfreiwillige Kollaborateure sind.
Da Polman es zur Recht für wenig wahrscheinlich hält, dass die Hilfsindustrie in ganz naher Zukunft beginnen wird, sich selbst zu kontrollieren, will sie diese Aufgabe den Steuerzahlern und Spendern als den Financiers der Hilfsorganisationen übertragen. Sie sollen fragen: „Wem wird mit genau diesen Lebensmitteln, mit genau diesen Medikamenten geholfen? Unschuldigen Opfern, Warlords oder beiden?“ Zu fragen sei auch, ob die Organisationen selbst bestimmen dürfen, wer die Hilfe bekommt; und nicht zuletzt: Ob es vielleicht besser sei, nichts zu tun. Wer Hilfsorganisationen bezahle, sollte verlangen, dass sie nicht nur erklären können, was sie erreichen wollen, sondern auch, wie sie es erreichen wollen. Damit hat Polman einen entscheidenden Punkt getroffen: In Zeiten, in denen von Politik und Militär des Westens verlangt wird, detailliert Rechenschaft über ihre Militärinterventionen abzulegen, sollte dies auch für die zivilen Einsätze gelten.
Unvollkommenes Angebot
Ebendies versucht James Orbinski. Der ehemalige Präsident der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen spricht schon im Titel seiner bewegenden Erinnerungen an unzählige Einsätze in den Krisenregionen dieser Welt von einem „unvollkommenen Angebot“, das die humanitäre Hilfe im 21. Jahrhundert machen könne. Der Friedensnobelpreisträger und außerordentliche Professor an der Universität von Toronto gibt offen zu, dass er, als er sich bei Ärzte ohne Grenzen bewarb, „naiv“ den Mantel des unpolitischen Arztes akzeptierte. Er sei der festen Überzeugung gewesen, humanitäres Handeln müsse über jede Politik erhaben sein, biete gewissermaßen eine Möglichkeit, ihrer „unschönen“ Kehrseite aus dem Weg zu gehen. Doch schon bald wurde ihm klar, dass eine humanitäre Gesinnung keineswegs von der Politik zu trennen, sondern im Gegenteil eng mit ihr verwoben ist, und dass, wer im humanitären Einsatz tätig ist, unweigerlich jene politischen Entscheidungen in Frage stellen muss, die ohne Weiteres den Tod von Menschen in Kauf nehmen.
Ob Somalia, Afghanistan oder Ruanda – Orbinski hat wiederholt selbst erleben müssen, dass Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen nicht in der Lage sind, das Töten in den Kriegsgebieten zu stoppen. Gerade deshalb will er mit seinem Buch einen Weg finden, wie man mit dem menschlichen Leid umgehen kann. Auch er sieht eine der größten Herausforderungen für humanitäres Handeln darin, dass die Grenzen zwischen den Hilfsleistungen aus Mitmenschlichkeit und den Machtinteressen der Konfliktparteien immer fließender werden.
An eine rasche Lösung des Problems glaubt Orbinski nicht. Dafür schöpft er Hoffnung aus der Geschichte: Schon in früheren Jahrhunderten hätten soziale Bewegungen sich geweigert, das Inakzeptable zu akzeptieren. Die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung, der Kampf gegen die Sklaverei, die Umweltbewegung – sie alle hätten sich bemüht, die menschliche Würde ins Zentrum ihres politischen Engagements zu rücken. Visionen könnten viel bewirken und seien nicht selten mächtiger als Armeen oder Wirtschaftssysteme. Denn ihre Macht basiere nicht auf Waffen oder Geld, sondern auf Menschen, die im gemeinsamen Einvernehmen agierten.
Nach der parallelen Lektüre von Orbinskis Erinnerungen und Polmans Analyse der Dilemmata der globalen „Mitleidsindustrie“ schleicht sich jedoch der Verdacht ein, dass Orbinski seinen Kollegen bei den Hilfsorganisationen Hoffnung machen will auf eine Zukunft, die nach seinen eigenen Erfahrungen in den Krisengebieten so schnell nicht kommen wird. Somit steht Orbinski stellvertretend für die internationale Hilfe: Sie tut vermeintlich Gutes in dem Wissen, damit auch Schlechtes zu fördern. Und findet sich nicht schon in beinahe jedem Küchenkalender die Weisheit „Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut gemeint“?
Dr. THOMAS SPECKMANN lehrt am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 134-138