Unerträgliche Ungerechtigkeit
Im Grunde scheint der Fall einfach: Vor allem der Globale Süden leidet unter den Folgen des Klimawandels, vor allem der Norden hat ihn verursacht und ist in der Pflicht, ihn zu bekämpfen. Nur: Wird er dieser Verantwortung gerecht?
Es ist 2023. Extremwetterereignisse zerstören Lebensgrundlagen, Häuser, Felder, Straßen. Menschen sterben. Ertrinken in schlammigen Überflutungen. Kommen im Feuer zu Tode. Verhungern nach Ernteverlusten auf staubigen Feldern. Kinder, alte Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen, die mit beiden Beinen im Leben standen, Menschen mit Vorerkrankungen. Menschen mit Träumen.
Das Bilderbuch der Klimakrise 2023 hat viele Schauplätze. Massive Sturmschäden und berstende Dämme in der libyschen Hafenstadt Darna. Waldbrände auf den griechischen Inseln, Überschwemmungen in Slowenien, Österreich, Norwegen und Norditalien. Straßen in chinesischen Großstädten, die zu Flüssen werden, Hitzewellen in Chile und Argentinien, mitten im südamerikanischen Winter. Massive Korallenbleichen in Zentralamerika. Eine Hitzewelle in Ostasien, die in Südkorea für das vorzeitige Ende eines internationalen Pfadfindercamps sorgt. Kanadische Waldbrände und Smog in den USA, die Trauminsel Maui in Flammen – das sind nur einige der Desasterzonen.
Noch besorgniserregender als die Extremwetterlagen sind die wissenschaftlichen Beobachtungsdaten. Diese belegen in akribischer Genauigkeit die in die Höhe schnellenden Temperaturen der Luft- und Meeresoberflächen. Sie verzeichnen das Ausmaß des Verlusts von antarktischem Meereis. Eine Meereisfläche, die zusammengenommen so groß wie Grönland war, verschwand durch die Erwärmung – like ice in the sunshine.
Die diesjährigen Anomalien entfernen sich immer weiter von vorherigen Jahren. Der Juli 2023 etwa war der heißeste jemals gemessene Monat. Wahrscheinlich reicht der Rekord sogar weit über den Beginn der Temperaturaufzeichnungen zurück. Ersten Abschätzungen zufolge gab es seit 120 000 Jahren keinen so heißen Monat. Die Messwerte lagen zudem unglaubliche 0,33°C über dem Rekord vom Juli 2019.
Bitte nicht jetzt, bitte nicht wir
Derweil wurde in Deutschland über das Einbauen neuer Gasheizungen gestritten, wurden Fristen verlängert. Man debattiert über ein Tempolimit auf den Autobahnen, um Energie und damit Emissionen zu sparen, nichts passiert. Es wird über Autoantriebe diskutiert, Ausnahmen werden gesucht und geschaffen. Rechtsextreme Klimaleugner werden in Kommunalämter gewählt. Sektorziele für Emissionsminderungen werden verwässert. Klimaaktivisten verhaftet und verurteilt.
Die Koalitionspartner der Bundesregierung – und nach Umfragen auch ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger – befürworten mehr Klimaschutz. Doch sobald es konkret wird, lautet die Devise viel zu oft: bitte nicht jetzt, bitte nicht wir, bitte nicht hier. Bei den wichtigen Debatten rund um die Umsetzung von Klimazielen wird der Zusammenhang zwischen den zögerlichen Maßnahmen und den auftretenden Extremereignissen und damit einhergehenden wirtschaftlichen Schäden, menschlichen Todesopfern und kulturellen Verlusten vernachlässigt. Denn die Vielzahl und Intensität der heute auftretenden Wetterextreme lässt sich zurückführen auf das Monumentalversagen im globalen Klimaschutz der vergangenen Dekaden.
Zwar wird über soziale Gerechtigkeit in Bezug auf die Lastenverteilung innerhalb Deutschlands debattiert. Doch die Schäden, die Deutschland als größter Emittent Europas daheim und im Ausland anrichtet und die auch durch neue Gasheizungen und schlecht gedämmte Häuser mitverursacht werden: Die kommen in der Diskussion kaum vor.
Nach mehr als 30 Jahren internationaler Klimaschutzverhandlungen, nach Tausenden Seiten von Berichten des Weltklimarats wird noch immer von „Klimaschutz mit der Brechstange“ gesprochen, werden Minimalforderungen nach Dekarbonisierung mit dem Satz „Wir können nicht über Nacht aus den fossilen Energien aussteigen“ quittiert.
Diese jahrzehntelange Umnachtung des Diskurses ist gewollt, denn die Risikoanalysen belegen gleich einer dystopischen Wiederholungsschleife, wie gefährlich ein weiteres Hinausschieben der Emissionsminderungen ist. So zeigt eine kürzlich im Fachblatt Nature Communications erschienene Studie, dass die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) in akuter Gefahr ist. Hinter diesem sperrigen Namen verbirgt sich ein komplexes Strömungssystem, das warmes und kaltes Wasser im Atlantik in verschiedenen Tiefen umwälzt. Ein System, dessen Bestandteil der Golfstrom ist und dem Europa sein mildes Klima verdankt. Ohne eine schnelle und tiefgreifende Reduzierung des globalen Treibhausgasausstoßes könnte es schon Mitte des Jahrhunderts zusammenbrechen.
Dieser Kollaps könnte für ein Land wie Deutschland eine Abkühlung von mehreren Grad Celsius bedeuten und ginge mit katastrophalen Schäden einher. Zwar beinhaltet die genannte Studie einige Unsicherheiten, dennoch wären Entscheidungsträgerinnen gut beraten, wenn sie sich auf die Seite der Vorsicht schlügen. Denn selbst wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses geringer wäre als in der Studie angenommen, wären doch die potenziellen Schäden so immens, dass man unbedingt Vorkehrungen zur Verhinderung treffen müsste. Das entspräche unserem individuellen Risikoverhalten, etwa beim Tragen eines Autogurts oder beim Auferlegen von Regeln für Kinder zum Schutz vor Gewaltverbrechen.
Die Ungleichheitskaskade der Klimakrise beginnt bei der Verursachung, dem globalen Treibhausgasausstoß, der maßgeblich von oberen Einkommensgruppen angetrieben wird. Weiter geht es mit den naturräumlichen und ökonomischen Folgen des Klimawandels, die sich geografisch, zwischen den Generationen sowie sozioökonomisch ungleich verteilen.
Schließlich stehen auch bei der Bewältigung der Krise die Fragen im Raum, wer die Lasten bei der Transformation des Wirtschaftssystems tragen muss, wer die Anpassung an die bisherige Erwärmung finanziert und wer für Verluste und Schäden aufkommt.
Versprochen, gebrochen
Die Antworten darauf sollten sich eigentlich vorrangig aus dem Verursacherprinzip ergeben; doch bestehende Machtverhältnisse haben das bislang größtenteils verhindert. Das Versprechen, zwischen 2020 und 2025 jährlich 100 Milliarden US-Dollar Klimafinanzierung für bedürftige Staaten bereitzustellen, wurde gebrochen. Bisher kamen die Industriestaaten in keinem Jahr auf diese Summe. Auf allen Ebenen dieser Ungleichheitskaskade scheint somit immer mindestens eine Gruppe auf der Verliererseite zu stehen: Menschen mit niedrigem Wohlstand und Einkommen.
Die Klimakrise ist in ihrem Kern eben auch eine Gerechtigkeitskrise unterschiedlicher Dimensionen. Würde unmittelbar vor den Augen des Verursachers ein Mensch durch das Anschalten einer Gasheizung zu Schaden kommen, dann wären wohl die wenigsten Menschen bereit, das in Kauf zu nehmen. Doch der Klimawandel wirkt tückischerweise indirekt, sodass es die Verursacher der Emissionen in vermeintlicher Unwissenheit über die Auswirkungen ihres Handelns vermeiden können, Verantwortung dafür zu übernehmen.
Nach Jahrzehnten klimawissenschaftlicher Forschung und immer gravierenderer Extremereignisse kann sich allerdings keine Regierung mehr glaubhaft der Erkenntnis entziehen, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Und dieser liegt insbesondere bei den Industriestaaten. Die G20-Länder sind zusammen für über 80 Prozent des globalen Treibhausgasausstoßes verantwortlich. Deutschland liegt als einziger Mitgliedstaat der EU unter den Top 10-Ländern mit den weltweit höchsten CO2-Emissionen.
Die Entwicklung der Emissionen wird von den oberen Einkommensgruppen angetrieben. Wie groß die Disparitäten schon sind, legt ein Blick in die Zahlen offen. Im Herbst 2022 veröffentlichte der französische Wirtschaftswissenschaftler Lucas Chancel im Fachblatt Nature Sustainability eine umfassende Studie über die ungleiche Verteilung des globalen Treibhausgasausstoßes. Seinen Berechnungen zufolge war die ärmere Hälfte der Menschheit für nur 12 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen im Jahr 2019 verantwortlich, die reichsten 10 Prozent hingegen für satte 48 Prozent. Dass die Unterschiede zwischen den Ländern so groß sind, weist darauf hin, wie wichtig die politische Lenkungswirkung hin zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem ist. So verursachen die ärmsten 50 Prozent der Amerikaner ähnlich hohe Emissionen wie die europäische Mittelschicht, obwohl sie deutlich weniger Kaufkraft besitzen.
Noch stärker als die Differenz zwischen Staaten schlagen Lucas Chancel zufolge in dieser Rechnung die Einkommensunterschiede innerhalb von Ländern zu Buche. Das zeigt er etwa anhand von Daten aus den USA und China. So müsste die ärmere Hälfte der Amerikaner zur Erreichung der 2030-Klimaziele unter dem Pariser Abkommen ihre Emissionen quasi kaum senken (um nur 5 Prozent), in China wäre für die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung sogar noch ein Emissionswachstum möglich. Hingegen müssten die reichsten 10 Prozent in den USA ihre Emissionen um 86 Prozent und in China um 74 Prozent senken, um die Klimaziele zu erreichen. In den vergangenen Jahren haben jedoch obere Einkommensgruppen immer mehr Emissionen verursacht und somit das verbleibende CO2-Budget für alle Bevölkerungsgruppen verkleinert.
Derzeit übernutzen die reichsten Menschen der Welt nicht nur die Ressourcen, sie zahlen nicht einmal für diese Übernutzung, da es keinen angemessen hohen CO2-Preis gibt. Das Umweltbundesamt berechnete anhand der Schäden für 2022 einen Preis von 237 Euro pro Tonne Kohlenstoffdioxid. Wenn zukünftige Schäden durch das langlebige Gas gleiche Berücksichtigung in der Kalkulation fänden, läge der Betrag bei 809 Euro. Im EU-Emissionshandelssystem, dem lediglich ein Teil der europäischen Emissionen unterliegt, wird ein Zertifikat für eine Tonne CO2 derzeit für etwa 85 Euro gehandelt. In Deutschland, wo seit 2021 auch komplementär der Wärme- und Verkehrssektor über die Bepreisung von CO2 aus fossilen Energieträgern abgedeckt ist, kostet eine Tonne CO2 zurzeit 30 Euro. Eine schrittweise Erhöhung ist bereits beschlossen – bis dahin werden die anfallenden Umweltkosten weiterhin auf die Allgemeinheit umgelegt.
Das Konsumverhalten im Luxussektor gibt Anlass zur Klimasorge, denn allein in Europa stiegen etwa die durch die Nutzung von Privatflugzeugen verursachten Emissionen zwischen 2005 und 2019 um knapp ein Drittel an, ein deutlich stärkerer Anstieg als in der kommerziellen Luftfahrt. Zudem gelten Ausnahmeregeln vom europäischen Emissionshandel für Kleinbetreiber von Privatflugzeugen.
Aber nicht nur der individuelle Konsum treibt den CO2-Ausstoß an. Auch das Investitionsverhalten des reichsten einen Prozent wirkt sich immer mehr auf seinen ökologischen Fußabdruck aus und übertrifft in der Schadensbilanz sogar die negativen Auswirkungen seines Konsumverhaltens. So stärkt die globale Elite über ihre Investments in Kohle-, Öl- oder Gasunternehmen sowie andere emissionsintensive Wirtschaftszweige das fossile System und ermöglicht mehr Treibhausgasausstoß.
Der Bock als Gärtner
Bei den internationalen Klimaschutzverhandlungen in Dubai übernimmt derweil der Chef des staatlichen Ölkonzerns, der Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC), Sultan Al Jaber, die Präsidentschaft für die 28. Runde der Beratungen. Es scheint, als würde im realen Drehbuch zur Rettung oder Beendigung der menschlichen Zivilisation keine noch so absurde Wendung ausgelassen werden.
Schon auf dem vergangenen Klimagipfel in Sharm-El-Sheikh 2022 wurde Kritik laut, dass immer mehr Vertreter der fossilen Industrien die Verhandlungen zu beeinflussen versuchten. Bei diesem Gipfel waren über 630 Lobbyisten der Öl- und Gasbranche akkreditiert, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit stellten die Lobbyisten zusammengenommen fast die größte Delegation auf der COP27.
Nun sollen die Verhandlungen unter der Führung des CEO des elftgrößten staatlichen Ölunternehmens ablaufen, das eine massive Expansion seiner Ölförderung für die nächsten Jahre plant. Eine solche Erweiterung würde den vereinbarten Klimazielen zuwiderlaufen, die eine sofortige und steile Treibhausgasminderung erfordern. Zwar haben die Emirate angekündigt, ihre Emissionen bis 2030 um mindestens 14 Prozent reduzieren zu wollen. Doch das wird angesichts der fossilen Pläne wohl nur ein Lippenbekenntnis bleiben.
Auch wenn Al Jaber gleichzeitig der staatlichen Erneuerbaren Energiebehörde vorsitzt, so ergibt sich aus seiner Tätigkeit für ADNOC doch ein erheblicher Interessenkonflikt. Und die Glaubwürdigkeit von Al Jaber und seinem Team nimmt weiter Schaden. Etwa durch eine Desinformationskampagne über Fake-Accounts auf Twitter, die über KI-generierte, angeblich weibliche Avatare lief, die unentwegt Al Jaber und die emiratische COP-Präsidentschaft lobten. Diese bestritt sogleich ihr Zutun zu diesem Social-Media-Schauspiel. Daneben wurden Wikipedia-Einträge über Al Jaber von seinen Mitarbeitern mehrfach beschönigt, um sein Engagement in Sachen erneuerbare Technologien hervorzuheben. Und Presseanfragen der britischen Zeitung The Guardian an die Email-Adresse des COP28-Büros wurden über die Server der staatlichen Ölfirma beantwortet, was darauf hinweist, dass diese Zugang zum Emailverkehr um den Gipfel hat.
Die Vereinnahmung der internationalen Klimaschutzverhandlungen durch fossile Industrien verhöhnt die teils ehrlichen Bemühungen der Delegierten um Fortschritte im Klimaschutz, die jahrzehntelange Erdsystemforschung, das Engagement der Klimaschutzaktivisten und nicht zuletzt die Todesopfer der Klimakrise. Dieser Zustand ist unerträglich.
Das sahen auch einige Abgeordnete des EU-Parlaments und des amerikanischen Kongresses so. In einem ungewöhnlichen transatlantischen Zug unterzeichneten mehr als 130 Entscheidungsträgerinnen und -träger einen Brief an den amerikanischen Präsidenten, die EU-Kommissionspräsidentin, den UN-Generalsekretär und den Exekutivsekretär der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) mit der Aufforderung, den Einfluss der fossilen Industrie auf der COP einzudämmen. Die kraftlose Antwort auf die Kritik der Parlamentarier und vieler zivilgesellschaftlichen Organisationen: Die Lobbyisten der fossilen Industrie müssen sich als solche bei der Registrierung für den Gipfel identifizieren. Zwar erhöht diese längst überfällige Maßnahme die Transparenz, beendet jedoch nicht den Einfluss der Gruppe.
Die Präsidentschaft der Vereinigten Arabischen Emirate für den diesjährigen COP-Prozess und die steigende Anzahl von Lobbyisten auf dem Verhandlungsgelände sind nicht der einzige Erfolg der fossilen Industrie im Kampf ums Weltklima. Die jahrzehntelange mutwillige Irreführung der Öffentlichkeit hat wichtige Reformen hinausgezögert und der Industrie weitere Profite ermöglicht. Besonders hervorstechend ist das Beispiel des Mineralölkonzerns Exxon oder ExxonMobil, das kürzlich in der Fachzeitschrift Science diskutiert wurde. Das Unternehmen finanzierte seit den späten 1970er Jahren inhäusig Forschung zu den Auswirkungen des Treibhausgasausstoßes. Die Klimamodelle von Exxon performten dabei ähnlich zuverlässig wie die der unabhängigen Klimawissenschaft und sagten den Anstieg der globalen Mitteltemperatur voraus.
Darüber hinaus schätzten Exxons Wissenschaftler ein verbleibendes CO2-Budget ab, also den Betrag an Treibhausgasemissionen, der noch ausgestoßen werden kann, bevor die 2°C-Temperaturgrenze erreicht wird. Firmeninterne Memos, die 2015 öffentlich wurden, belegen, dass die Unternehmensführung vor einer „potenziell katastrophalen“ Erwärmung warnte. Gleichzeitig aber säte die Kommunikationsabteilung Zweifel an der Existenz des menschengemachten Klimawandels und der Klimawissenschaft generell. Vor allem betonte man, dass es Unsicherheiten gebe, was den Zusammenhang zwischen Treibhausgasausstoß und Erwärmung angehe.
Noch im Jahr 2013 stellte ExxonMobil-CEO Rex Tillerson, der später unter US-Präsident Donald Trump als Außenminister dienen sollte, die Ursachen der globalen Erwärmung infrage, obwohl die Berichte seiner eigenen Wissenschaftler keinen Zweifel daran ließen, dass der Klimawandel menschengemacht ist.
Selbst für Umweltschäden, die sie direkt verursacht haben, kommen Ölkonzerne nur selten auf. Und so müssen die lokalen Bevölkerungen oft Jahrzehnte mit der verheerenden Zerstörung zurechtkommen – ohne hinreichende Ausgleichszahlungen für regenerative Maßnahmen.
Die Beispiele dafür sind zahlreich, etwa Shells Ölförderung im Niger-Delta, die zur Boden- und Trinkwasserverseuchung geführt hat, oder die Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon, die 2010 800 Millionen Tonnen Öl in den Golf von Mexiko freigesetzt und bis heute Auswirkungen auf die Meereslebewesen in der Region hat. Ebenso beteiligten sich – anders als Deutschland – ölproduzierende arabische Staaten nicht an den Kosten der Entfernung von einer Million Barrel Öl des verlassenen Öltankers FSO Safer vor der Küste Jemens durch die UN. Während die Pavillons der arabischen Staaten auf den internationalen Klimaschutzverhandlungen an Größe und Pracht nicht zu übertreffen sind, halten sich die Petrostaaten auch bei der internationalen Klimafinanzierung zurück und verweisen höflich auf die Verantwortung westlicher Industrienationen.
Dabei könnten es sich viele ölproduzierende Staaten und Unternehmen leisten, in Klimaschutz zu investieren. Von der durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verursachten Energiekrise hat die fossile Industrie nicht wenig profitiert. ExxonMobil fuhr im zweiten Quartal 2022 Rekordwerte eines Nettoeinkommens von 17,9 Milliarden US-Dollar ein. Auch andere Unternehmen wie Total Energies, BP, Chevron und Shell steigerten ihre Umsätze.
Diese Großkonzerne sind für einen signifikanten Teil der weltweiten CO2-Emissionen durch Öl-Raffination verantwortlich. Der weltweit größte Ölkonzern Saudi Aramco konnte 2022 seine Profite um 50 Prozent steigern, auf 161,1 Milliarden Euro. Für Schäden und Verluste sollen hingegen andere aufkommen. Die gut geölte Verwaltung des Status quo führt dazu, dass immer mehr Menschen durch zunehmende Extremwetterereignisse (zurück) in Armut fallen und sich die Schere zwischen Arm und Reich bis zum Anschlag spreizt.
„Wie oft kann man alles neu aufbauen?“ lautet ein Satz aus dem hervorragenden dokumentarischen Theaterstück „Die Klimamonologe“ von Michael Ruf, in dem unter anderem die Geschichte von Johora aus Bangladesch erzählt wird. Johora, die Ruf für sein Stück interviewt hat, verlor Familienmitglieder und ihre Lebensgrundlagen an tropische Wirbelstürme. Ihre eindringliche Frage weist auf den Kern des verzweifelten Kampfes gegen immer häufigere Extremereignisse: eine kohlenstoffbetriebene Armutsspirale, an der wenige verdienen und immer mehr Menschen zerbrechen. Denn wenn auch Touristen von brennenden griechischen Inseln fliehen und Zuflucht finden, ist für viele kein sicherer Hafen in Sicht.
Doch es gibt kein Anrecht auf Verzweiflung für diejenigen, die die Krise selbst befeuern. Denn schon durch den gleichgültigen Konsum fossiler Brennstoffe entsteht eine Komplizenschaft mit den systemischen Fehlstellungen, welche die natürlichen Lebensgrundlagen vernichten. Auch die geduldete sprachliche und physische Gewalt gegen Klimaaktivistinnen zielt nicht zuletzt auf die Bewahrung des Ist-Zustands. Doch was ist im Angesicht einer existenziellen Krise schlimmer: ziviler Ungehorsam oder unziviler Gehorsam?
Die allgemeine Sehnsucht nach Hoffnung kann nur durch entschlossenes Handeln gestillt werden. Auf individueller, politischer und wirtschaftlicher Ebene werden derzeit Entscheidungen getroffen, die „sich jetzt und für Tausende von Jahren auswirken“, so der Weltklimarat in seinem jüngsten, dramatischen Bericht. Klimaschutz ist Wohlstandsschutz, doch er bedarf einer vorausschauenden Politik.
Vielleicht wird in Zukunft ein Kind, ein Enkel, eine Wählerin fragen: „Was haben Sie gemacht im Krisenjahr 2023, als die Weichen für die Zukunft der menschlichen Zivilisation gestellt wurden?“ Es bleiben noch ein paar Wochen im Jahr 2023, um gute Antworten zu finden. Diese Frist wird nicht verlängert.
Internationale Politik Special 6, November/Dezember 2023, S. 4-11