Schlusspunkt

01. Mai 2021

Typisch Deutsch

Ein Schlusspunkt von Derek Scally

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Bild: Illustration des Brettspiels "Das verrückte Labyrinth" mit COVID-19-Symbolen
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Der Jahrestag der Coronavirus-Pandemie hat den Blick auf nationale Eigenschaften freigelegt, die zuletzt verschüttet waren. Deutschland, das „Vorsprung durch Technik“-Land, versinkt im Virus-Wirrwarr. Drei Charakteristika scheinen dafür verantwortlich:



Erstens erlebt das Motto „Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht“ eine neue Blüte. Je größer das Problem desto größer die Versuchung, leichter zu bewältigende, aber völlig nutzlose Aufgaben zu erfinden, um Aktivität zu simulieren. Dass dabei das Problem ungelöst bleibt – wie können wir unsere Bevölkerung so schnell wie möglich impfen? –, daran ist immer jemand anderes schuld. Statt die bestehende medizinische Infrastruktur zu nutzen, haben Deutschlands Politikerinnen und Politiker versucht, das Rad neu zu erfinden: Sie riefen Impfzentren ins Leben, die achtseitige Impfprotokolle erforderlich machen; ein logistischer Albtraum, gekoppelt mit Terminvergabe-Systemen, die sich als anfällig erwiesen haben. Nach vier Monaten Schneckentempo wurden dann Anfang April doch die Arztpraxen eingebunden. Und siehe da: Die Zahlen der täglich Geimpften liegen bis zu 80 Prozent höher als zuvor.



Zweitens sind die Bedenkenträger wieder auf den Plan getreten. Laut Merkels ermattetem Mitarbeiterstab sind sie in der Pandemie geradezu „viral gegangen“. Jedes Mal, wenn die Kanzlerin ein Problem aufzeigte und eine Lösung vorschlug, hat mindestens eine oder einer in der 16-köpfigen Ministerpräsidentenrunde sich mit unspezifischen Bedenken zu Wort gemeldet. Diese deutsche „Geht nicht!“-Attitüde simuliert Engagement, ohne Verantwortung zu übernehmen.

Drittens sind die föderalen Schwachstellen der deutschen Bürokratie zutage getreten. Deutschlands dezentralisiertes System hat in der ersten Welle gut funktioniert. Ein Jahr später sind die Versuche des regionalen Krisenmanagements in eine Orgie kleinstaaterischer Egotrips abgedriftet, während sich das Verschlafen der Digitalisierung rächt.



Was diese drei Charakteristika vereint, ist Zukunftsangst. Sich mit Mittelmäßigkeit abzufinden und an die Faxmaschine zu klammern, das verheißt nichts Gutes für die vielen großen Unbekannten der Nach-Merkel-Ära.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 128

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