Merkels ungehaltene Rede
Was die Bundeskanzlerin zur europäischen Finanzkrise eigentlich sagen wollte
Am 7. Februar 2012 hielt Angela Merkel im Neuen Museum vor europäischen Studenten ihre Standardrede zur Rettung der Euro-Zone. IP veröffentlicht exklusiv Passagen, die die Kanzlerin verlegt hatte, die unser Korrespondent aber im verschneiten Lustgarten fand.
„ … Ich erinnere mich noch, wie dieses Museum in den achtziger Jahren aussah: eine verfallene Kriegsruine mit drei Wänden, den Elementen ausgesetzt. Nach einiger Zeit erhielt das Gebäude ein Notdach, und in den vergangenen Jahren konnte ich von meiner Wohnung aus beobachten, wie das Museum restauriert wurde. Lange, bevor das Gebäude aus den Ruinen emporstieg, stärkten die Bauarbeiter aufwändig die Fundamente.
Unser europäisches Haus ist in einem besseren Zustand, als es das Neue Museum war; aber Jahre der Vernachlässigung haben dazu geführt, dass wir eine Runderneuerung brauchen – während die Uhr tickt, die Haushaltsmittel stark begrenzt sind, die Märkte aufmerksam zuschauen und unsere Bürger auf der Baustelle wohnen müssen. Wir haben mit dem Euro-Rettungsschirm ein notdürftiges Dach gezimmert, nun diskutieren wir im Erdgeschoss strukturelle Fragen. Einige wollen eine schnelle Renovierung nach den alten Plänen. Aber was passiert, wenn das Haus beim nächsten Finanzbeben absackt – oder völlig zusammenbricht?
Ich möchte ein europäisches Haus, das in der Lage ist, Stresstests einer globalisierten Welt zu widerstehen. In der Debatte heißt es oft, Deutschland könne oder solle mehr tun. Andere sagen, wir sollten weniger fordernd auftreten. Worin sie übereinstimmen ist, dass Deutschland die Finanzierung bereitstellen, bei der Bauplanung aber kein Mitspracherecht haben soll …
Ja, wir verlangen schwierige Reformen – nicht als preußische Peiniger, sondern aufgrund unserer starken Überzeugung, dass sie unsere gemeinsamen europäischen Fundamente stärken werden. Bei einer Einigung bin ich zuversichtlich, dass die deutschen Wähler ihren Beitrag zu Europas Zukunft leisten werden, wie sie es in der Vergangenheit stets getan haben.
All das darf uns nicht von der ungleich dringenderen Frage ablenken: Erfordert die Zukunft europäischer Demokratie mehr oder weniger geteilte Souveränität? In einem Radiointerview von 1991, das kürzlich noch einmal ausgestrahlt wurde, sagte ich, dass es entmutigend sei, wie lange Entscheidungen im dezentralisierten westdeutschen System bräuchten. ‚Demokratie ist wichtig‘, sagte ich, ‚aber sie ist manchmal eben auch anstrengend, wenn ein Problem brennt.‘
Wir sind gewählt worden, um die brennenden Probleme zu lösen. Mein Appell an Sie lautet, dass Sie sich in die Debatte über das Europa von morgen einmischen. Es ist anstrengend, aber lohnend; es ist Ihr Kontinent, es ist Ihre Demokratie.“
DEREK SCALLY ist Berlin-Korrespondent der Irish Times.
Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 144