Schlusspunkt

01. Juli 2015

Die Zauberin von Berlin

Hokuspokus aus der Hauptstadt: Wer Angela Merkel wirklich ist

In der Schlüsselszene des „Zauberers von Oz“ entdeckt Dorothy Gayle aus Kansas, dass der „große und mächtige Oz“ weder groß noch mächtig ist, sondern ein bescheidener Mann, der hinter einem Vorhang steht und Strippen zieht. Selbst als die Realität enthüllt wird – Dorothys Hund reißt den ­Vorhang beiseite und lüftet das Geheimnis –, versucht der Hologramm-Oz noch, die Scharade aufrechtzuerhalten. „Achte nicht auf den Mann hinter dem Schirm!“, ruft er.

Aber am Ende ist das Spiel aus – ebenso wie das von Angela Merkel. Sie dabei zu beobachten, wie sie die Gastgeberin des G7-Gipfels spielte, war ungefähr so, wie einen umgekehrten „Zauberer von Oz“ zu erleben. Sie wollte jedermann weismachen, sie sei nur eine bescheidene Frau, wo doch alle begriffen haben, dass sie eine der großen, mächtigen Führungspersönlichkeiten der Welt ist.

Barack Obama ist auf dem absteigenden Ast, David Cameron betreibt mit der Debatte über Großbritanniens Zukunft in Europa Bauchnabelschau und François Hollande ist mit der eigenen Wirtschaft voll beschäftigt, während seine Herausforderer von rechts schon die Möbelwagen für den eigenen Einzug in den Élysée bestellen.

Tatsächlich zeigten die Bilder aus Bayern eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Und doch hat sie ihr politisches Potenzial noch nicht ausgeschöpft – und wird es vielleicht auch nie tun. Ihre Reden und Pressekonferenzen sind Übungen im kollektiven, ausweichenden „wir“, wenn die Welt ein „ich“ hören will: Was sie, Angela Merkel, möchte, für Deutschland in Europa und in der Welt.

Die Farce um Vorspiegelung und Wirklichkeit wird dann besonders deutlich, wenn es um die großen europäischen Krisen der Gegenwart geht. Bei ihnen spielt Merkel offensichtlich ein doppeltes Spiel: Sie beharrt darauf, Deutschland sei nicht der Ansprechpartner, und verweist die Griechen stattdessen an die Finanzinstitutionen. Die aber stehen für Gespräche gar nicht zur Verfügung, weil die Bundeskanzlerin eben jene Institutionen – einst Troika genannt – für Besprechungen spät in der Nacht in ihrem Büro empfängt. Deutschland ist kein Beobachter, es ist Akteur.

Ich frage mich, ob Merkel nach einem Jahrzehnt an der Macht damit begonnen hat, über ihr Vermächtnis nachzudenken. Was wird es sein? Dass sie das Mögliche möglich gemacht hat? Dass sie das Unvermeid­liche gemanagt hat?

Nach zehn Jahren Merkelismus sind wir heute nicht schlauer als zuvor: was sie möchte, für sich, für Deutschland, als bedeutender – wenn auch eher zufälliger denn willentlicher – Akteur auf der europäischen und der Weltbühne. Aber die Zauberin von Berlin scheint entschlossen, sich für den Rest ihrer Kanzlerschaft hinter dem Vorhang zu verstecken, der ihre Größe nicht länger verhüllt.

Derek Scally ist Deutschland-Korrespondent der Irish Times.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S.144

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